Gewollter Konstruktionsfehler der Europäischen Wirtschaftspolitik

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

In einem Interview der Frankfurter Rundschau mit Bert Rürup wird ein wichtiger und, wie ich finde, absichtlicher Konstruktionsfehler der europäischen Wirtschaftspolitik, insbesondere der Geldpolitik, sichtbar: Die europäische Zentralbank fühlt sich nur für die Wahrung der Preisstabilität verantwortlich und eben nicht für Vollbeschäftigung und Wachstum. Das widerspricht der breiteren Zielsetzung, wie sie im deutschen Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 festgelegt wurde und noch immer gilt. Albrecht Müller

Rürup deckt diese Schwäche auf, ohne sie als Schwäche zu benennen oder diesen Umstand gar zu kritisieren. Das ist unverständlich, zumal der Nachteil dieser Zielverschiebung für die innere Entwicklung unseres Landes und unserer Volkswirtschaft nun schon mehrmals erlitten wurde.

Schon zu Zeiten der Deutschen Bundesbank fühlte sich diese nicht mehr für eine gute Beschäftigung mitverantwortlich. Das hatte immer wieder Folgen: in Deutschland wird keine ausreichende Politik für mehr Beschäftigung und Wachstum gemacht. Und wenn das von Seiten der Politik gelegentlich anders versucht wurde, dann steuerte die Bundesbank mit ihrer Geldpolitik – in der Regel mit massiven Zinserhöhungen – gegen diese Versuche, die Arbeitslosigkeit nachhaltig zu bekämpfen, an. Diese Missachtung der beschäftigungspolitischen Ziele ist auf die neu gegründete Europäische Zentralbank übertragen worden, und zwar unter maßgeblichem Einfluss der in Deutschland in diesem Milieu einflussreichen Personen in der Zeit der Regierung Kohl. Siehe dazu einen früheren einschlägigen Beitrag über die deutschen Chicago Boys zur Abkehr von der Verpflichtung auch der Geldpolitik auf alle vier Ziele der Wirtschaftspolitik einen Auszug aus „Machtwahn“. Die Kernsätze daraus:

Mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems, einem internationalen Währungsabkommen, das auf festen Wechselkursen gegenüber dem US-Dollar als Leitwährung beruhte, erlangte die Deutsche Bundesbank die uneingeschränkte Herrschaft über die deutsche Geldpolitik. Die Bundesbank benutzte diesen Machtzuwachs, um den Vorrang der Preisstabilität über die anderen drei zentralen wirtschaftspolitischen Ziele – hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes Wachstum – durchzusetzen. Nur so sind die drei schweren Rezessionen von 1975, von 1981/82 und 1993 zu verstehen. Seit Anfang der siebziger Jahre ist in Deutschland kein Aufschwung an Altersschwäche ausgelaufen, sondern er wurde jedesmal frühzeitig von der Bundesbank abgebrochen. (Ergänzende Anmerkung: um 1980 mit einer Erhöhung der kurzfristigen Zinsen von 3,7 auf 12,2%; um 1992 mit einer Erhöhung des Diskontsatzes von 2,9 auf 8,75%)
Die seitdem propagierte Regel, dass die Stabilität des Preisniveaus unabdingbare Voraussetzung für hohen Beschäftigungsstand und Wachstum sei, hat sich nicht erfüllt. Deutschland war in den letzten dreißig Jahren zwar immer Stabilitätsweltmeister, aber bei den realwirtschaft­lichen Zielen Wachstum und Beschäftigung haben wir es im internationalen Vergleich nur zu höchst bescheidenen Ergebnissen gebracht.

Inzwischen kommen eine weitere schon geschehene (2001 ff) und vermutlich eine neue Rezession hinzu. Und wieder ist die zuständige Zentralbank, die EZB, im Unterschied zur FED, dem Zentralbanksystem der USA, nicht bereit, dem ökonomischen Niedergang entgegenzusteuern.

Der Vorsitzende des Sachverständigenrates kommentiert das lapidar:

Das Mandat der EZB ist ein anderes. Während die FED sich sowohl um die Inflation als auch um Konjunktur und Beschäftigung kümmern muss, schaut die EZB primär auf die Inflation.

Das kann doch nicht alles sein, wenn erneut die Arbeitsplätze von Hunderttausenden auf dem Spiel stehen und das bisschen Hoffnung für die dreieinhalb Millionen erfassten und mindestens 2 Millionen zusätzlichen Arbeitslosen wieder zerstört wird.

Das kann auch nicht alles sein angesichts eines inzwischen als drückend empfundenen Verlustes an Wertschöpfung und an Steigerung der Produktivität und der Einkommen. Die Folgen dieses wiederkehrenden Abwürgens der wirtschaftlichen Entwicklung sind nicht zu übersehen:

  • Der Wachstumsverlust betrug schon bezogen auf das Jahr 2005 rund 700 Milliarden € im Jahr. Wir hätten im Jahr 2005, wenn wir ab 1993 statt der erreichten durchschnittlichen 1,2% ein Wachstum von durchschnittlichen 2,5% (was nicht übertrieben ist) erzielt hätten, zusätzlich Güter und Dienstleistungen im Wert von rund 700 Milliarden € erarbeiten können. Und dies Jahr für Jahr mehr und mit steigender Tendenz. Unseren Zentralbanken verdanken wir eine Menge Verlust an Wohlstand.
  • Dies ist die eigentliche Ursache für die Stagnation der Masseneinkommen, der Löhne.
  • Und dies wiederum ist – neben der systematischen Minderung der Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente durch die Politik – eine wesentliche Ursache dafür, dass die Renten stagnieren und – wenn wir die Politik nicht ändern – Altersarmut tatsächlich eine um sich greifende Erscheinung wird. Das ist rundum unnötig. Man sollte endlich mal darüber sprechen, dass für diese Entwicklung die frühere Bundesbank und jetzige EZB maßgeblich verantwortlich sind. Und weiter sein werden.
  • Die hohe Arbeitslosigkeit, die Perspektivlosigkeit junger Menschen, die grassierende soziale Unsicherheit, usw.

Hinter der Kaltblütigkeit – die in der Vernachlässigung der beschäftigungspolitischen Verantwortung zum Ausdruck kommt – steckt das Ziel, Massenarbeitslosigkeit als Druckmittel und Instrument für eine immer schärfer werdende einseitige Einkommensverteilung einzusetzen. Das ist zwar keine neue Erkenntnis, aber sie wird, obwohl so präsent, dennoch gelegentlich übersehen.

Die arbeitenden Menschen haben zu wenig Alternativen. Deshalb sind sie Pressionen ausgesetzt, deshalb sind sie Verlagerungsdrohungen oder vollendeten Tatsachen wie bei Nokia ausgesetzt. Von den entscheidenden Kreisen in der Europäischen Zentralbank und im gesamten neoliberalen Zirkus wird Arbeitslosigkeit als nützliche Erscheinung zum Drücken der Löhne und vermeintliche Hilfe zur Preisstabilisierung betrachtet.

Dies ist eine schlimme Fehlkonstruktion Europas, genauer der Europäischen Zentralbank. Wir Deutschen, präziser die bei der Verhandlung der Maastricht Verträge verantwortlichen Personen, tragen die Hauptverantwortung für diese Fehlentwicklung.

Die hohe Massenarbeitslosigkeit, kombiniert mit der sturen restriktiven Geldpolitik, wird dann auch noch eingesetzt, um der sozialen Sicherung ans Leder zu gehen. In SpiegelOnline vom 24.1. fand ich dazu einen passenden Artikel: den Bericht über ein Gespräch mit Professor Norbert Walter, dem langjährigen Chefökonomen der Deutschen Bank. Die Kernaussage: keine Senkung der Zinsen, aber Senkung der Sozialabgaben, was gleichbedeutend ist mit der Senkung der sozialen Sicherheit. Siehe Anlage 2.

Wir haben es also mit einer Art Doppelstrategie zutun: die restriktive Geldpolitik und die daraus folgende hohe Arbeitslosigkeit wird benutzt zur weiteren rasanten Veränderung der Einkommensverteilung und zum Abbau der Sozialstaatlichkeit. Das ist das herrschende Europa. Nicht gerade Vertrauen erweckend.

Anlage 1: Einschlägige Passagen von Rürup

Wirtschaftsweiser Rürup zu Konjunktursorgen …
im Gespräch mit der FR/24.1.2008:
Sind die Prognosen des Jahreswirtschaftsberichtes nicht längst Makulatur? :
“Auf keinen Fall für das laufende Jahr. Deutschland ist ein konjunktureller Nachzügler…hier wird sich eine Abschwächung erst mit Verzögerung bemerkbar machen.”
Müsste die EZB nicht der Zinssenkung der US-Notenbank folgen ? :
“Das Mandat der EZB ist ein anderes. Während die FED sich sowohl um die Inflation als auch um Konjunktur und Beschäftigung kümmern muss, schaut die EZB primär auf die Inflation.” (sic !)

Anlage 2: SpiegelOnline über einen Appell des Chefökonomen der Deutschen Bank Norbert Walter:

Appell an die Bundesregierung: Deutsche-Bank-Chefvolkswirt fordert Senkung der Sozialabgaben

Weniger Sozialabgaben, mehr Geld für die Bürger: Aus Sorge um die schwächelnde Konjunktur hat sich jetzt auch der Chef-Ökonom der Deutschen Bank eingeschaltet – und fordert ein schnelles Handeln der Bundesregierung.

Den vollständigen Artikel erreichen Sie im Internet unter www.spiegel.de

Anlage 3:
Böckler Impuls 01/2008
Zinssenkung gegen den Abschwung
Hoher Ölpreis, schwächere Weltkonjunktur, Finanzmarktkrise und Dollarkurs – 2008 bringt große Risiken für die Wirtschaftsentwicklung. Die Impulse der deutschen Finanzpolitik verpuffen, die Europäische Zentralbank ist gefordert.
Quelle: Hans Böckler Stiftung

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