Eine hilfreiche Rezension eines anstößigen Buches des republikanischen Ideologen Robert Kagan inkl. einiger Anmerkungen zu USA und Syrien
Das Buch mit dem Titel „Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung“ erschien 2003, ist also vergleichsweise alt. Aber es ist hochaktuell. Deshalb ein großes Dankeschön an Peter Becker, dem Co-Präsidenten der IALANA, der das Buch des Ehemanns der für Europa und Asien im State Department zuständigen Frau Nuland rezensiert hat. Siehe unten. Das Buch gibt – so der Rezensent – Aufschluss darüber, welche Kräfte die auf militärische Einsätze setzende US-Außen- und Sicherheitspolitik bestimmen, nicht nur die Republikaner, auch maßgebliche Demokraten. Man erfährt bei der Lektüre Interessantes zum Irakkrieg, zum Umgang der USA und der NATO mit der UNO und zum Jugoslawien Krieg. Vor allem kann man die vielen Militäreinsätze von Libyen bis Afghanistan und die Strategie des Regime Changes etwas besser einordnen. Zum Jugoslawien Krieg wird übrigens die Vermutung bestätigt, dass die Verhandlungen 1998 und 1999 in Rambouillet nicht ernst gemeint waren. Und besonders aktuell sind Rezension und Buch angesichts der von Wikileaks bestätigten Politik des „Ausblutens“ Syriens. Albrecht Müller.
Ihre in der Sprache und in der Sache schrecklich radikalen NachDenkSeiten hatten schon am 8. Juni 2015 auf der Basis der Analyse von Bernd Buschner auf diesen Vorgang hingewiesen und seinen Appell veröffentlicht: „Kann das Aushungern eines Volkes ein berechtigtes Mittel zum von außen betriebenen Regime-Wechsel sein?“. Wir waren dann am 3. September 2015 noch einmal auf diesen Vorgang zurückgekommen. Siehe hier: „Über die eigenartige Sonderbehandlung der syrischen Flüchtlinge und die infame Absicht der Sanktionen: Aushungern.“.
Wer es ernst meint mit der Not der Flüchtlinge, kommt an diesen Ursachen nicht vorbei und auch nicht an der Analyse der ideologischen Hintergründe. Und angesichts des vielseitigen Verschweigens dieser Vorgänge in der deutschen Öffentlichkeit sind die NachDenkSeiten, siehe oben, auf die „Propaganda“ von RT Deutsch angewiesen.
Damit sind wir bei der Rezension von Peter Becker:
Robert Kagan: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, 2003
Neu rezensiert von Peter Becker
Das zeitgleich in New York und Deutschland verlegte Buch ist wohl ähnlich wichtig wie Brzezińskis Die einzige Weltmacht (1997). Robert Kagan ist einer der Chefideologen des Project for the New American Century (PNAC), das er 1997 zusammen mit Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz, Richard Perle, John Bolton u.a. gründete. Man muss sich das Manifest des PNAC ansehen (Wikipedia), empfehlenswert ist die englische Version: Es ist die Proklamation einer US-Weltherrschaft, gestützt auf militärische Macht. Der Irak-Krieg wird angekündigt. Geradezu herbeigefleht wird ein großes Ereignis wie Pearl Harbor, von dem sich der PNAC einen Aufbruch verspricht. Viele sehen darin eine Vorwegnahme von 9/11.
Kagans Büchlein (121 Seiten, dazu 72 Fußnoten) ist wegen seiner klaren (der Journalist Leon Wieseltier nennt sie „brillanten“) Darstellung sehr, sehr aufschlussreich. Man erkennt damit die Grundlinien hegemonialen amerikanischen Denkens, das Republikaner und Demokraten bis heute eint (siehe Madeleine Albright und Hillary Clinton). Deswegen muss man sich mit Kagan beschäftigen; erneut und – angesichts der Umsetzung der Strategie in die amerikanische Praxis – immer wieder. Er ist der Ehemann von Victoria Nuland, US-Diplomatin in Brüssel („Fuck the EU“).
Kant (Europa) contra Hobbes (USA)
Schon auf der ersten Seite beschreibt Kagan seine grundsätzliche Einschätzung des Verhältnisses von Europa und den USA, die im Buch an zahlreichen Stellen wiederholt und illustriert wird:
„Europa wendet sich ab von der Macht, oder es bewegt sich, anders gesagt, über diese hinaus. Es betritt eine in sich geschlossene Welt von Gesetzen und Regeln, transnationalen Verhandlungen und internationale Kooperation, ein posthistorisches Paradies von Frieden und relativem Wohlstand, das der Verwirklichung von Kants ‚Ewigem Frieden‘ gleichkommt. Dagegen bleiben die Vereinigten Staaten der Geschichte verhaftet und üben Macht in einer anarchischen hobbes’schen Welt aus, in der auf internationale Regelungen und Völkerrecht kein Verlass ist und in der wahre Sicherheit sowie die Verteidigung und Förderung einer freiheitlichen Ordnung nach wie vor von Besitz und Einsatz militärischer Macht abhängen. Aus diesem Grund entwickeln sich Amerikaner und Europäer in zentralen strategischen Fragen heute immer weiter auseinander.“
Amerika und Europa hätten keine gemeinsame „strategische Kultur“.
Die Amerikaner als internationaler Sheriff
Viele Europäer zeichneten von den USA ein „Zerrbild“: Sie seien von einer „Kultur des Todes“ beherrscht und ihr bellizistisches Temperament sei die natürliche Folge einer durch und durch gewaltbestimmten Gesellschaft, in der jedermann eine Waffe trägt und die Todesstrafe herrscht (S. 8). Aber Kagan bestätigt diese Sicht:
„Die Amerikaner sind ‚Cowboys‘, wie die Europäer gerne sagen. Und daran ist etwas Wahres. Die Vereinigten Staaten agieren als ein vielleicht selbsternannter, aber dennoch weitgehend mit offenen Armen begrüßter internationaler ‚Sheriff‘, der sich darum bemüht, in einer in seinen Augen gesetzeslosen Welt, in der Verbrecher oftmals mit Waffengewalt abgeschreckt oder ausgeschaltet werden müssen, ein gewisses Maß an Frieden und Gerechtigkeit durchzusetzen“ (S. 43).
Triebkraft: Antikommunismus
Eine zentrale Triebkraft ist der Antikommunismus, der das amerikanische Denken seit McCarthy beherrscht. Während des Kalten Krieges,
„und besonders in den Jahren, die von republikanischen Präsidenten geprägt waren – von Nixon bis Reagan –, hatte die alles überragende Strategie des Antikommunismus solche engen nationalistischen Regungen und Souveränitätsvorbehalte weit überwogen.“
Es gibt offenbar ein grundlegendes strategisches Dokument, nämlich das ‚Lange Telegramm‘ von George F. Kennan. Es habe die vorherrschende Sicht der strategischen Kultur Amerikas nach dem Krieg unmissverständlich dargelegt. Die Sowjetunion sei „taub für die Logik der Vernunft“, so Kennan, aber sie reagiere sehr empfindlich „auf die Logik der Stärke“. Sie verstünde, so Clark Clifford, nur die „Sprache der militärischen Stärke“ (S. 105).
Die außenpolitisch-militärische Allianz von Republikanern und Demokraten
Nur ein „kleiner Teil der amerikanischen Elite sehne sich immer noch nach einer friedlichen Weltregierung“. Für die Ausübung militärischer Macht seien hingegen „Amerikaner von Madeleine Albright bis Donald Rumsfeld, von Brent Scowcroft bis Anthony Lake“ (S. 107).
9/11
9/11 habe den Kurs der weltweiten Demonstration von Stärke nicht grundlegend verändert. Die USA hätten ihren Kurs „nur modifiziert und das Tempo erhöht“. 9/11 wird als neuer historischer Markstein gesehen:
„Für jüngere Generationen von Amerikanern, die sich nicht an München oder Pearl Harbor erinnern, gibt es jetzt den 11. September“ (S. 107).
Und es scheint einen auffälligen Zusammenhang zu geben:
„Als die Bush-Administration im September 2001 ihre neue Nationale Sicherheitsstrategie veröffentlichte, reagierten viele Europäer und auch manche Amerikaner sprachlos auf den Ehrgeiz der amerikanischen Strategie. Die neue Strategie galt als eine Reaktion auf den 11. September“ (S.109).
Aber es habe sich nicht um eine „neue Strategie“ gehandelt. Vielmehr sei es nur „eine Neuformulierung alter Leitlinien der amerikanischen Politik, von denen viele 50 Jahre zurückreichten“ (S. 110). Die Vereinigten Staaten seien eben die „unverzichtbare Nation“, in einer Weltordnung, „in deren Zentrum die USA stehen“. Die Amerikaner könnten sich auch keine Weltordnung vorstellen, „die nicht mit militärischer Macht verteidigt wird“ (S. 110).
So wie Pearl Harbor „zu einem dauerhaften amerikanischen Engagement in Ostasien und Europa führte“, so würde 9/11 „wahrscheinliche eine dauerhafte amerikanische Militärpräsenz am Persischen Golf und in Zentralasien sowie eine langjährige Besetzung eines der größten Länder der arabischen Welt nach sich ziehen“ (S. 112).
Die schwachen Europäer
Europa sei schwach, lehne es aber ab, viel Steuergeld in den Aufbau eines „schlagkräftigen militärischen europäischen Militärpotenzials“ zu investieren. Also würden die Europäer auch gerne „den Schutz in Anspruch nehmen, den der US-Nuklearschirm bot“ (S. 23). Daher müssten die Amerikaner Schutz bieten, „selbstverständlich unter NATO-Befehl, um die sowjetischen Armeen auf europäischem Boden aufzuhalten […] wobei die Europäer, nicht die Amerikaner, die größten Verluste tragen sollten“ (S. 23).
In dieser Schwäche liege der eigentliche Grund dafür, dass sich die Europäer für das Völkerrecht einsetzten:
„Da die Europäer nicht in der Lage sind, entweder einzeln oder gemeinsam als ‚Europa‘ einseitige militärische Maßnahmen durchzuführen, ist es nur natürlich, dass sie anderen nicht erlauben wollen, was sie selbst nicht können.“
Zum Rang der NATO
Für Kagan ist die NATO der eigentliche Inbegriff der Weltordnung. Während die Europäer die Institutionen EU und Vereinte Nationen „hoch schätzten“, seien für die Amerikaner nicht die UN „der Westen“ und erst recht nicht die EU. Nur die NATO sei „der Westen“, und sehr kritisch betrachtet Kagan die europäischen Bemühungen, eine Alternative zur NATO aufzubauen (S. 99).
Der Jugoslawien-Krieg
In der Abwehr dieser Gefahr sieht Kagan den wesentlichen Grund für den Jugoslawien-Krieg:
„Für die Vereinigten Staaten war die Wahrung des Zusammenhalts und der Existenzfähigkeit des Bündnisses nicht bloß ein Mittel zu einem Zweck im Kosovo: Sie gehörte zu den Hauptzielen der amerikanischen Intervention, so wie die Erhaltung der Allianz ein Hauptmotiv der früheren Intervention der USA in Bosnien gewesen war und so wie der Zusammenhalt des Bündnisses ein Hauptziel der amerikanischen Strategie während des Kalten Krieges gewesen war“ (S. 58).
Für die amerikanischen Vertreter „der realistischen Schule“ hätten auf dem Balkan keine „nationalen Interessen“ auf dem Spiel gestanden (S. 59). Vielmehr sei es darum gegangen, der militärisch versagenden EU die amerikanische Stärke zu demonstrieren:
„In der Kriegführung spiegelte sich das gravierende transatlantische Ungleichgewicht wider: Die USA flogen die meisten Einsätze, fast alle Präzisionswaffen, die in Serbien und Kosovo eingesetzt wurden, stammten aus Amerika […] 99 Prozent aller anvisierten Ziele [stammten] von amerikanischen Nachrichtendiensten“ (S. 55).
Die amerikanische Dominanz bei der Kriegführung habe die Europäer irritiert und dem europäischen Selbstwertgefühl einen empfindlichen Schlag verpasst. Der Krieg habe „die Ohnmacht der europäischen Streitkräfte“ schlaglichtartig verdeutlicht.
Den europäischen Bemühungen, den Krieg noch abzubiegen, hätten die USA erfolgreich widerstanden. Diese Bemühungen „hätten die Kriegsführung beeinträchtigt und ihren erfolgreichen Abschluss hinausgezögert“:
„Ob die Europäer 1999 Belgrad bombardiert hätten, wenn die Amerikaner sie nicht zum Handeln gezwungen hätten, ist eine interessante Frage“ (S. 11).
Viele europäische Staaten hätten militärische Schläge ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates nicht androhen wollen. Das habe der amerikanische NATO-Oberbefehlshaber, General Wesley Clark, abgelehnt, in typisch amerikanischer Manier als „juristische Bedenkenträgerei“ Europas (S. 57).
Fazit
Das Beängstigende beim Lesen dieses Buches ist nicht so sehr die – allerdings unvergleichlich offene, ja arrogante und zynische – Darlegung des amerikanischen Selbstverständnisses. Das kannten wir irgendwie schon. Das Beängstigende ist, dass diese Haltung von einigen Europäern nicht nur nicht abgelehnt, sondern – vor allem von konservativen Medien wie der FAZ – gefeiert wird. Und es gibt ein interessantes strategisches Dokument, das zeigt, wie die amerikanische Weltsicht auch das deutsche sicherheitspolitische Denken prägt. Das ist die Studie Neue Macht. Neue Verantwortung, die gemeinsam von der SWP und dem German Marshall Fund of the United States erstellt wurde.
Die Studie ist ein Manifest der Sicherheitslogik (im Gegensatz zur Friedenslogik), bekennt sich aber immerhin zum Multilateralismus und zum Völkerrecht. Interessant ist aber der
Dissens: Anwendung militärischer Gewalt ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats? (S. 41).
Deutschland bekenne sich dazu, dass kein Einsatz ohne Sicherheitsratsmandat zulässig sei. Das ist offenbar das Verständnis der SWP. Der GMF ist hingegen dafür, dass sogenannte „humanitäre Interventionen ohne Erlaubnis des VN-Sicherheitsrats gestattet sein“ sollen:
„Bei dieser Frage blieben die Positionen innerhalb des Projekts unvereinbar“ (S. 41).
Die Studie wurde vom Planungsstab des Auswärtigen Amtes gefördert. Interessant ist die Teilnehmerliste am Ende. Norman Paech hat das Papier kommentiert.
[Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Siedler Verlag, Berlin 2003, 128 Seiten, ISBN 3-88680-7940, neu 16,00 EUR, gebraucht ab 0,79 EUR]
Dr. Peter Becker
Co-Präsident der International Association of Lawyers (IALANA)