Die Flüchtlingskrise ein Sommermärchen?
Man ist von SPIEGEL Online ja einiges gewohnt, aber die aktuelle Flüchtlingskrise als „schönes Sommermärchen“ zu bezeichnen, ist schon besonders starker Tobak, der selbst auf der nach unten offenen Niveau-Skala von SPON einen neuen Tiefpunkt darstellt. Wieder einmal zeigt sich: Der momentane Flüchtlingsstrom wird von einigen Medien als „Event“ wahrgenommen und vor allem als deutsche Nabelschau betrieben. Diese Medien scheinen mit der Ernsthaftigkeit der Flüchtlingsproblematik intellektuell überfordert zu sein. Wehe, wenn das Pendel erst einmal umschlägt. Von Jens Berger
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
„Schön war´s, das Sommerrefugeemärchen“ – so leitet SPON-Ressortleiter Roland Nelles seinen dümmlichen Kommentar zur Wende in der Berliner Flüchtlingspolitik ein. „Sommermärchen“ – das ist natürlich eine direkte Anspielung auf die mediale Inszenierung der in Deutschland 2006 ausgetragenen Fußballweltmeisterschaft. Damals waren die Medien ja ganz überrascht darüber, dass Deutschland durchaus ein guter Gastgeber für eine derartige Veranstaltung sein kann und die internationalen Besucher nicht mit Baseballschlägern aus seinen „national befreiten Zonen“ verjagt. Die momentan überwältigende Hilfsbereitschaft vieler Menschen an den Flüchtlingsaufnahmestellen und –unterkünften soll also nun eine Neuauflage des „Sommermärchens“ sein? Wir sind nicht Heidenau! Wir sind weltoffen, freundlich und solidarisch! Wir, wir, wir.
Es ist ja auch toll, dass Deutschland sich in diesem Punkt von seiner sympathischen Seite zeigt, aber darum geht es doch nicht. Zunächst geht es darum, dass Millionen Menschen vor Krieg, Zerstörung und Armut fliehen. Ein Kriegsflüchtling, der ganz real um sein Leben fürchten muss und eine riskante Flucht auf sich genommen hat, um in Europa Schutz und Obdach zu finden, ist doch nicht vergleichbar mit einem Event-Tourist, der sich in Deutschland ein paar Fußballspiele anschauen und möglichst viel Spaß haben will. Im Zusammenhang mit Krieg, Flucht und Vertreibung von einem „Sommermärchen“ zu schreiben, ist nicht nur zynisch – es ist sogar menschenverachtend.
Aktuell geht es auch noch darum, wie unsere Gesellschaft das Kunststück meistern will, diese Menschen aufzunehmen und wenn möglich sogar zu integrieren. Die Flüchtlinge reisen nicht nach dem Finale wieder in ihre Heimat zurück. Die Bewältigung der Krise ist kein „Event“, sondern ein sehr ernsthaftes politisches und gesellschaftliches Problem, das momentan noch nicht einmal im Ansatz ernsthaft debattiert wird. Wer die Krise als „Event“ – gleich dem Sommermärchen 2006 – darstellt, erweckt bei der Öffentlichkeit zudem eine vollkommen falsche Erwartungshandlung.
Für Roland Nelles von SPIEGEL Online ist die Welt sehr einfach. Solange positiver Aktionismus herrscht, ist die Sache wunderbar. Nur keine Fragen stellen. Aber sein Märchen ist ja nun auch vorbei, denn jetzt haben ja die „Bedenkenträger“ und „Stimmungsmacher“ das Ruder übernommen. Ist man denn nun ein Bedenkenträger oder ein Stimmungsmacher, wenn man anmerkt, dass es mit ein paar freiwilligen Sachspenden und ehrenamtlicher Hilfe nicht getan sein wird?
Gern wird von Seiten der „Wir-schaffen-das-Front“ an dieser Stelle angemerkt, dass Deutschland ja in der Nachkriegszeit auch den gewaltigen Ansturm der Vertriebenen gemeistert hat und diese Anstrengung das junge Land vorangetrieben haben. Richtig! Aber dann sollte man doch bitte auch erwähnen, wie Deutschland damals dieses Kunststück gemeistert hat: Nämlich durch das Lastenausgleichsgesetz, eine gigantische Vermögensabgabe, bei der Vermögende bis zu 50% ihres Gesamtvermögens abgeben mussten! Das wäre heute wohl undenkbar und aktuelle Überlegungen gehen auch eher in die Richtung, die Lasten den normalen Haushalten aufzubürden.
Massive Zusatzkosten für die Bewältigung der Flüchtlingskrise werden daher auch schon bald von der Politik monokausal als Grund genannt werden, warum für andere Belange kein Geld mehr da ist. Dann wird es heißen, für Kita-Erzieherinnen, Schwimmbäder, Theater und Schulen ist kein Geld da, weil die Flüchtlinge ja so teuer sind. Und man muss nur eins und eins zusammenzählen, um sich auszumalen, wie dies von der momentan noch sehr solidarischen Öffentlichkeit aufgenommen werden dürfte. Aus dem „Sommermärchen“ könnte dann schon schnell ein „winterlicher Albtraum“ werden. Und SPIEGEL Online wird dann sicher bei den „Stimmungsmachern“ ganz vorne mit dabei sein.