Herzstück der grundgesetzlichen Kommunikationsfreiheit ist die Gewährleistung einer umfassenden und unabgeschlossenen Meinungsbildung

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Vorgestern hat Sabine Schiffer die Antrittsvorlesung des heut-journal Moderators Claus Kleber an der Tübinger Universität analysiert und kritisiert. Sie arbeitete dabei heraus, dass Kleber von den Medien als „Markt“ redet und dass er Information als Ware betrachtet, die an die „Kunden“, nämlich das Publikum „verkauft“ werde.
Einen völlig anderen grundgesetzlichen Auftrag sieht der Professor für Öffentliches Recht Helge Rossen-Stadtfeld [*] speziell für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Die Kommunikationsverfassung sei nicht darauf angelegt, dass „Bekanntes Bestätigung erfahre“, wie das etwa im kommerziellen Dudelfunk oder in Talkshows zu finden sei, sondern „gesellschaftliche Kommunikation, wie das Grundgesetz sie als unabdingbar erachtet, ist frei nur dann, wenn sie sich auch immer wieder andere Gegenstände, in immer weiter neue Richtungen fortbewegen kann. Das Grundgesetz schützt Kommunikation als einen unaufhörlichen und wesentlich produktiven Vorgang. Herzstück der grundgesetzlichen Kommunikationsverfassung ist deshalb die Gewährleistung der Meinungsbildung. Diese ist frei nur, wenn sie umfassend sein und unabgeschlossen bleiben kann.“
Misst man die Berichterstattung dieser Tage etwa über Griechenland an diesem Maßstab, so wird in sträflicher Weise gegen die verfassungsnormative Verpflichtung der „Ent-Deckung des Neuen“, des „erst nur Möglichen“verstoßen.
Professor Rossen-Stadtfeld hat auf einer medienpolitischen Tagung des „Initiativkreises Öffentlicher Rundfunk“ mit dem Thema „Freie Meinungsbildung im Netz?“ aus verfassungsrechtlicher Sicht über das Thema Kommunikationsfreiheit referiert, er hat uns gestattet, seinen nicht nur für Juristen hochinteressanten Vortrag, auf den NachDenkSeiten zu veröffentlichen. Dafür herzlichen Dank.

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk im Kommunikationsraum Internet

Von Helge Rossen-Stadtfeld

  1. Gesellschaft kommt sich abhanden
    1. Die moderne Gesellschaft scheint immer weniger in der Lage zu sein, ihre eigene Bewegung zu kontrollieren. Zwar bleibt die ständige Beschleunigung in allen gesellschaftlichen Teilbereichen keineswegs unbemerkt. Die Alarmdiskurse springen durchaus an. Gerade auch in ihnen drückt sich aber zunehmend ein Schwinden noch der trotzig­sten Zuversicht aus, jene durchgängige Beschleunigung irgend beeinflussen zu können. Auch können die Ziele kaum mehr ausgemacht werden, auf die hin Gesellschaft sich hier immer schneller zubewegt. Und fast vollständig geschwunden scheint schließlich die Vorstellung, Gesellschaft könnte über solche Ziele noch verfügen, womöglich gar in einer Abklärung, die vernünftig, offen, zur Kundigkeit belehrt wäre ­­– damit natürlich auch zeitaufwendig, in vielerlei Hinsichten also langsamer.

    Solche Abklärung hätte man früher als demokratische Meinungs‑ und Willensbildung begriffen und in demokratischer Politik versucht. Heute gilt das als alteuropäisch-überholt. Zu richten sei, so heißt es zunehmend, der Blick vielmehr auf „Governance“. In diesem Blickwinkel verblasst die Möglichkeit einer demokratischen Selbstaufklärung der Gesellschaft. An ihre Stelle tritt die achselzuckende Empfehlung, sich in der Alternativlosigkeit zu bescheiden, handele es sich um die Rettung „systemrelevanter“ Banken, die Verelendung Griechenlands oder die Preise für Fußballüber­tra­gungs­rechte.

    Gesellschaft vermag also, zeigt sich hier, ihre immer schnellere Bewegung nicht mehr als eigene wahrzunehmen. Sie nimmt sie vielmehr wahr als ihr angetan, und zwar auf Ziele hin, die unerkannt bleiben, vielleicht sogar überhaupt nicht (mehr?) existieren. Die indische Mythologie kennt das Bild des steuerlos dahin rasenden Dschagganath‑Wagens. In diesem Bild könnte, meint Anthony Giddens, die moderne Gesellschaft ihrer selbst gewahr werden.

    1. Wer im Dschagganath-Wagen sitzt, wird Angst haben und sie unterdrücken müssen. Es gibt da diese Stimmen. Sie flüstern vom Schrecken des Scheiterns, von der Notwendigkeit des Innehaltens und davon, dass neue Orientierung nötig sei. Sie müssen übertönt werden. Zu groß ist die Angst davor, sich eingestehen zu müssen, dass es für derlei zu spät sein könnte. Diese Angst vor der Selbst-Er­kennt­nis an ihrer Vergegenwärti­gung zu hindern und sie zu verdrängen ist nicht die einzige, aber eine wichtige Funktion des „Dschungelcamps“, eines „Musikantenstadl“, der täglichen Talkshow oder des Geschreis der Bild-Zeitung.

    Anderwärts, jüngst etwa auf Pegida-Demonstrationen, aber auch im weitläufigeren Feld der „Medienregulation“ oder „Media‑Governance“, an den Schreibtischen eines „Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium“ oder in der Zeppelin-Universität an den Gestaden des Bodensees, sucht man der Angst mit anderer Empfehlung zu begegnen. Es sei nun nämlich an der Zeit, die Räder des Dschagganath-Wagens gänzlich zu blockieren, in der nachfolgenden Katastrophe von ihm abzuspringen und den Wagen seiner Zerstörung preiszugeben.

    Wer sein Woher nicht mehr kennt und sein Wohin nicht ausmachen kann, sich aber, und also orientierungslos, auf ein ungewisses Ziel hin beschleunigt fühlt, mag derlei Empfehlung bedenkenswert finden. Sie riete dann freilich zu einem Sprung aus dem Irgendwo ins Nichts. Und noch das scheint manchenorts ein prickelndes Gefühl zu vermitteln. Eine Art Neo-Existenzialismus hebt dort die Stimmung. Gern wird dort dann von einer „Digitalen Revolution“ gekündet, die längst stattfinde, wird als überfällig die Kenntnisnahme grundstürzender Umwälzungen „2.0“ (und aufwärts) eingefordert oder die Annahme diesbezüglicher „Herausforderungen“ angemahnt. Dies alles geschieht dann meist in der ersten Person Plural („Wir müssen uns endlich …“) und mit dem autoritär-dräuenden Sprechgestus derer, die meinen, der Einfalt den Weg des Wissens weisen zu müssen („Ich warne dringend …“). Andernorts aber hört sich das nur töricht an, verfassungsrechtlich ignorant und politisch verantwortungslos.

    In einer kreatürlichen Perspektive sind freilich sowohl jene Angst wie auch diese Verdrängung, Fluchtneigung und anmaßende Besserwisserei verständlich. In einer verfassungsrechtlich angeleiteten Sicht aber muss die Beunruhigung darüber, dass Gesellschaft sich selbst abhanden zu kommen droht, in die Erkenntnis fortgeführt werden, dass auf diesem Weg der Sinn der Verfassung verfehlt würde, und zwar auf geradezu skandalöse Weise. Sich dessen wieder möglichst genau zu vergewissern, ist wichtig. Sonst werden nämlich Angst und Ratlosigkeit weiterhin in populistisch-dröh­nen­der Vereinfachung, einfältiger Marktideologie oder technokratisch-geistferner „Regulierung“ nur verdeckt, nicht aber ernstgenommen.

  2. Kommunikationsfreiheit
    1. Gefragt ist damit zunächst nach der Befindlichkeit gesellschaftlicher Kommunikation. Kann sie der Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung, letztlich also der Selbsterfindung der Gesellschaft hinreichend Raum geben? Werden in ihr die Quellen des Wissens und Meinens, des Hoffens und Fühlens erschlossen, aus denen gesellschaftliche Selbsterfindung sich speist? Ist gesellschaftliche Kommunikation dazu hinreichend eingerichtet und ausgestaltet? Verfügt sie über normative Trägerstrukturen, die ausreichend bestandssichernd, aber auch entwicklungsoffen sind? Ist gesellschaftliche Kommunikation also frei?

    Diesbezüglich grundlegende normative Vorgaben sind den Regelungen des Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes zu entnehmen. Aus ihnen ergibt sich die Maßgabe der Verfassung, dass die Kommunikation der ganzen Gesellschaft frei stattfinde. Was aber in dieser Kommunikation bewegt, was in ihr fortgetrieben wird, immer auf dem Weg zu einem gültigen Spiegelbild dieser Gesellschaft im Ganzen, das alles ist eine gewaltige flutende Fülle. Diese kann in der Kommunikation unter real oder virtuell körperlich Anwesenden, in mehr oder weniger begrenzten Gruppen oder Foren nicht mehr überblickt, geschweige denn kom­muni­kativ angeeignet werden. Um ihrer Freiheit willen bedarf gesellschaftliche Kommunikation professioneller Vermittlung.

  3. Meinungsbildungsfreiheit
    1. Gesellschaftliche Kommunikation, wie das Grundgesetz sie als unabdingbar erachtet, ist frei nur dann, wenn sie sich auf immer wieder andere Gegenstände, in immer wieder neue Richtungen hin fortbewegen kann. Das Grundgesetz schützt Kommunikation als einen unaufhörlichen und wesentlich produktiven Vorgang. Herzstück der grundgesetzlichen Kommunikationsver­fassung ist deshalb die Gewährleistung der Meinungsbildung. Diese ist frei nur, wenn sie umfassend sein und unabgeschlossen bleiben kann. Im Mittelpunkt der grundgesetzlichen Kommunikationsverfassung hält die textlich unbenannte Gewährlei­stung freier Meinungsbildung die Kommunikationsverfassung zusammen, befestigt sie und richtet sie normativ aus.

    Diese Kommunikations­verfassung will nun gewiss auch sicherstellen, dass Bekanntes Bestätigung erfahre und also Orientierung möglich bleibe. Doch ist das für sie nachrangig. In erster Linie will diese Kommunikationsverfassung, dass Neues kommuniziert werde und dass daraus Überraschung erwachse. Und sie will, dass vor allem genau darauf in den Strukturen eines entsprechend ausgestalteten Mediensystems hingewirkt werde.

  4. Funktionsgebundene Medienfreiheit
    1. In einer komplexen modernen Gesellschaft bedarf die Freiheit der Meinungsbildung nämlich professioneller journalistischer und publizistischer Betreuung. Es wäre sonst schnell vorbei mit ihrer Offenheit, mit ihrem Erfindungsvermögen und mit ihrer Kraft, sich zu entfalten im Neuen und Überraschenden, im noch nicht Gedachten, im bislang Unge­sehenen, schon gar nicht Kommunizierten. Professionell unbetreute Kommunikations­freiheit würde, ohne von außen bedrängt zu werden, sich im Immergleichen erschöpfen, dabei allmählich leerlaufen und sich schließlich selbst vergessen. Ein dafür beispielhaftes Format wäre heute in den Angeboten des vor allem, aber keineswegs nur kommerziellen Dudelfunks zu finden. Doch auch eine vor allem aus Kostengründen und wegen der Selbstdarstellungs­nöte politischer Eliten endemisch gewordene öffentlich-rechtliche Talkshow lässt die unverkennbare Tendenz erkennen, Meinungsbildung in hochbeschleunigter und selbstbezüglicher Aufgeregtheit auszutrocknen. Der institutionalisierten Politikbetrieb wird in diesem Format als unaufhörliche Folge von Kommunikationsspielen vorgeführt, deren Sinn auf das „Spektakel“ (Guy Debord) ihrer eigenen Inszenierung zielt und deren hochgradige Ritualisie­rung den Ausbruch des erkenntnisfördernden Neuen zuverlässig verhindert.

    Das Grundgesetz will nicht, dass es zu Derlei kommt. Es weist deshalb in Art. 5 Abs. 2 S. 2 GG den Medien der Massenkommunikation die Freiheit in der Erfüllung einer Funktion zu. Diese Medien sollen sicherstellen, dass individuelle wie kollektive Meinungsbildung über das Material verfügt, dessen sie bedarf, um sich frei entfalten zu können. Massenmedien sollen gesellschaftliche Kommunikation nach eigenen professionellen Routinen vermitteln. Und das soll nicht nur „medial“ erfolgen, also bezogen auf die jeweilige Vorfindlichkeit solcher Kommunikation. Die Massenmedien sollen gesellschaftliche Kommunikation auch „faktoriell“ erschließen, in ihren Möglichkeitsspektren, in ihren sich gerade erst oder sogar überhaupt noch nicht abzeichnenden Entwicklungspfaden und Entfaltungshorizonten.

    In diesem Sinn funktionsbezogen‑professionelle Vermittlung gesellschaftlicher Kommunikation soll schließlich auch durch alle Dimensionen massenmedialer Vermitt­lung hindurch stattfinden. Die Freiheit individueller und kollektiver Meinungsbildung bedarf gleichermaßen der Information, Bildung, Beratung, Unterhaltung und „Kultur“ (§ 11 Abs. 1 S. 4 RStV). Sie entfaltet sich in allen diesen Bezügen, sie muss dort gegen äußere und innere Auflösungsgefahren geschützt, aber auch positiv gefördert werden.

  5. „Grundversorgung“: durch Vielfalt zum Vorschein des Möglichen in Ernst und Spiel
    1. Auf eine bloße Verpflichtung zur Vielfalt kann diese Verfassungsmaßgabe nicht verkürzt werden. Auch die Vielfaltsverpflichtung muss noch auf ihren Grund zurückgeführt werden, auf die verfassungsnormative Verpflichtung aller massenmedialen Betätigung zur Ent‑Deckung des erst nur Möglichen. Der Vorschein des Möglichen in der Differenz zum Bekannten, Bestätigten und Gewissen soll ausgemacht werden, damit gesellschaftliche Kommunikation über alles Vorfindliche hinausgeführt werden kann. Aus dessen Umklammerung soll sie sich so immer wieder befreien können. Das ist der materiale Kern kommunikativer Freiheit, und zwar sowohl als Bedingung der individuellen Persönlichkeitsentwicklung wie auch kollektiver demokratischer Selbstbestimmung.
    2. Auch die „Grundversorgung“, die das Bundesverfassungsgericht dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zugewiesen hat, kann dann einen klareren Sinn erlangen. Wird die Funktion freier Meinungsbildung genau genug entfaltet und auf sie hin dann auch die „Grundversorgung“ bestimmt, dann liegt jede marktliberale oder populistische Verengung dieses Begriffs fern. Dann liegt viel näher die Annahme, es sei gesellschaftliche Kommunikation selbst, deren „Grund“ hier ins Auge gefasst wird. Ihn soll ein der Meinungsbildungsfreiheit verpflichtetes Public Service-Medium anpeilen, auf ihn soll es immer wieder hinleiten und durchstoßen können – damit immer wieder von Grund auf Neues in gesellschaftlicher Kommunikation sichtbar werde, sei es an diesem Grund aufgefunden oder dort im medialen Zugriff allererst entstanden.

    Von Grund auf Neues und Überraschendes stellt sich keineswegs nur in den Sphären des Ernsten, des Wichtigen und des Schwierig-Bedeutenden ein. Es ist in allen Dimensionen gesellschaftlicher Kommunikation zu finden. Es ist Definiens aller Bestandteile des öffent­lich-rechtlichen Programmauftrags. Auch schlichte („leichte“) Alltagsunterhaltung ist im Blickwinkel des Verfassungsrechts nicht notwendig „banal“ (Martin Bullinger), sie kann aufregend, spannend und überraschend sein, neue Fragen veranlassen und verstörende Perspektiven eröffnen, Blickwinkel von einer Art auch, wie sie im ernsten Hochton vielleicht schon länger nicht mehr erwartbar schienen. Auch schlichte Alltagsunterhaltung kann „gesellschaftliche Relevanz“ vermitteln. Die Auftragsnorm des § 11 Abs. 1 S. 6 RStV knüpft daran an, indem sie auch Unterhaltung noch an ein „öffentlich-rechtliches Angebotsprofil“ zu binden sucht.

  6. Funktionsbestand, Medienwandel
    1. Für die Verfassung steht also die der Meinungsbildung dienende Funktion im Vordergrund. Art. 5 Abs. 1 GG verlangt von allen Massenmedien die Erfüllung dieser Funktion. Deshalb können Begriffe wie „Rundfunk“, „Presse“ und „Berichterstattung“ nicht an historisch je bestimmte Erscheinungsformen gebunden sein. Das deutsche Kommunikationsver­fassungs­recht ist nicht einem Verständnis gesellschaftlicher Kommunikation und ihrer Medien verhaftet, das zwar wohl der Wirklichkeit des Jahres 1949 angemessen war, die Gegenwart aber nicht mehr zu erfassen vermag.
    2. Dann drängt sich geradezu auf, dass seine „Linearität“ heute nicht mehr als begriffswesentliches Merkmal eines „Rundfunks“ gelten kann, der seine Aufgaben auch in dem gesellschaftlichen Kommunikationsraum des Internet wahrzunehmen hat. Dort kommt dieser Linearität keine wirklich strukturprägende Bedeutung mehr zu. Die gegenteilige Begriffs­bestimmung des § 2 Abs. 1 RStV erweist sich in kommunikationstechnischer und ‑struktureller Hinsicht als überholt. In kommunikationsverfassungsrecht­licher Hinsicht wirkt sie grundrechtsverkürzend. Sie hindert den Rundfunk, die ihm durch höherrangiges Verfassungsrecht übertragene Funktion wahrzunehmen.
  7. Medienverantwortung „zur gesamten Hand“: kein Bestandsschutz, kein Privileg, ungewisse Marktchancen
    1. Aus den Grundrechtsnormen des Art. 5 Abs. 1 GG ergibt sich auch kein funktionsent­koppel­ter Anspruch auf die Zulassung oder auf die Bevorzugung bestimmter Medien, bestimmter medialer Betätigungen oder eines bestimmten medialen „Geschäftsmo­dells“. Die Zulässigkeit jeder derartigen Betätigung steht unter dem verfassungsrechtlich zwingenden Vorbehalt, dass die dienende Funktion der Medien durch das massenmediale System insgesamt uneingeschränkt erfüllt werden kann und auch tatsächlich erfüllt wird. Dieser Vorbehalt einer „Medienverantwortung zur gesamten Hand“ ist als tragender Baustein einer höchst spezifischen Normativität auch unbedingt vorrangig. Keineswegs darf er abgewogen werden gegen den Grundrechtsschutz wirtschaftlicher Interessen und Belange aus Art. 2 Abs. 1, Art. 12 und Art. 14 Abs. 1 GG. Und dieser Vorbehalt systemischer Funktions­erfüllung gilt in allen Kommunikationsräumen der Gesellschaft, auch im Internet.

    Nicht immer haben die Rundfunkgesetzgeber dies angemessen beachtet. So kann insbesondere die Depublikation sendungsbezogener oder sonst weiterführender Materialien vor der Verfassung keineswegs mit der Begründung gerechtfertigt werden, es seien die Marktchancen kommerzieller Medienunternehmen in Rechnung zu stellen und zu schützen. Die Verfügbarkeit solcher Materialien kann dazu beitragen, gesellschaftliche Meinungsbildung zu befördern. Dann kann dem ein unternehmerisches Interesse daran nicht entgegen gehalten werden, keiner Konkurrenz um Aufmerksamkeit ausgesetzt zu sein.

  8. Funktionsgerechte Finanzierung des Public Service: Haushaltsbeitrag, Werbung
    1. Damit er seine dienende Funktion erfüllen kann, ist eine funktionsangemessene Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sicherzustellen. Die Umstellung auf den neuen Haushaltsbeitrag ist in diesem normativen Zusammenhang zu beurteilen. Der Beitrag soll die Erfüllung einer Funktion finanzieren, die dem Rundfunk um einer ganzen Gesellschaft willen aufgegeben ist, nicht nur im Interesse einzelner Rezipienten und Rezipientinnen, bestimmter Gruppen, Foren oder Milieus. Gewiss gibt es Bürgerinnen und Bürger, ja ganze Sozialsphären, in denen ein Public Service-Angebot kaum noch angenommen werden kann, ob aus Gründen einer jahrelangen Erziehung zur Unmündigkeit in „Proll‑“ oder „Trash‑TV“‑Forma­ten oder weil sich die Communities der „Digital Natives“ im Netz gesellschaftsenthoben wähnen. Auch diese Akteure sind aber noch Teil der Gesellschaft, die nur noch in ihrer massenmedial ermöglichten Kommunikation den Versuch unternehmen kann, zu sich selbst zu gelangen. In der Sicherstellung eines Public Service-Angebots für die Kommunikation einer ganzen Gesellschaft findet auch der Haushaltsbeitrag noch seine verfassungsrechtliche Rechtfertigung.
    2. Dass Gleiches für die Werbefinanzierung des Public Service-Rundfunks gelten kann, ist äußerst zweifelhaft. Jede Form dieser Finanzierung zwingt das Medium, schon um der Sicherung des Aufkommens aus Werbung und Sponsoring willen, in der Quote den maßgeblichen Bezugspunkt der Selbstbeobachtung und Selbststeuerung zu suchen. Dieser Maßstab zielt auf Bestätigung im Bekannten, auf Repetition des längst schon Wiederholten, auf die bloße Umdekoration des erkennbar Immergleichen. Der Kerngehalt der dienenden Funktion jedes Public Service, die Ent-Deckung des Neuen und Überraschenden, wird dabei aber verfehlt, ihre Verwirklichung im Übermaß der Quotenorientierung womöglich sogar beschädigt. Die wohl besseren Gründe dürften deshalb dafür sprechen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk Schritt für Schritt von der Last zu befreien, um der Sicherung des Aufkommens aus Werbung und Sponsoring willen die Quote als maßgeblichen Bezugspunkt der Selbstbeobachtung und Selbststeuerung beobachten zu müssen.
  9. Die Substanz des Public Service: öffentlich-rechtliche „Bildung“

    Diesbezügliche Realbefunde zeigen immer wieder, dass dem Rundfunk auch heute noch vor allem wegen seiner Aktualität, Breitenwirkung und Suggestivkraft die Funktion eines Leitmediums zukommt. Was aber ist heute der substanziell-materiale Kern eines massenmedialen Public Service? Das Verfassungsrecht wird hier nur Grenzen markieren, Grundstruk­turen vorzeichnen und Richtungen weisen können. Und auch das wird noch in einer angemessenen Abstraktions­höhe stattzufinden haben. Nur dann wären den Gesetzgebern normative Ausgestaltungsspielräume für eine „positive Ordnung“ der Medien belassen. Nur dann wäre die Freiheit der Public-Service-Medien geachtet, die ihnen aufgegebene Funktion in professioneller Eigenständigkeit interpretieren und bearbeiten zu können.

    1. Im übrigen besteht das Kommunikationsverfassungsrecht auf einer Einrichtung der massenmedialen Vermittlungsfunktion, die diese immer wieder dazu zwingt, gesellschaft­liche Kommunikation dem Zufall, der Aufstörung und der Plötzlichkeit auszuliefern, um sie so für die Wahrnehmung der Kontingenz, der Ungewissheit, der Möglichkeit und des Staunens zu öffnen. Dann erst kann stattfinden, was auch die Leitnorm des Kommunikations­verfassungs­rechts gewährleisten will: nämlich „Bildung“ im Doppelsinn von Werden und Lernen, gleichermaßen in individuellen wie kollektiven Bezügen.
  10. Quoten, Genres, Typologien
    1. Daraus ergibt sich nun auch, dass Quoten und Ratings als Maßstab massenmedialer Leistung mit objektiven verfassungsrechtlichen Vorgaben unvereinbar sind. Quotenorientierte Maßgaben enden stets darin, es sei vom Gleichen mehr und schneller zu liefern. In jeder Quote wird also ein bestimmter Zu‑Stand gesellschaftlicher Selbstverständigung gewissermaßen eingefroren, um ihn der weiteren Bearbeitung der Medienfunktion als Maßstab vorzugeben. Von der Quote geleitet wird gesellschaftliche Kommunikation in leerlaufende Zirkel münden, wird sie zur Selbstpreisgabe in „rasendem Stillstand“ (Paul Virilio) genötigt.
    2. Unvereinbar mit der Offenheit und notwendigen Kontingenzneigung der massenmedia­len Vermittlungsfunktion wäre auch der Versuch, Public-Service-taugliche von insoweit untauglichen Genres, Sparten oder Programmfärbungen trennscharf abzugrenzen. Eine typusprägende Identifikation des Public Service mit klassischen Informations‑ und Bildungsangeboten oder gar seine Beschränkung auf derlei Angebote müssten schon aus diesem Grund als wenig sachangemessen, wohl schon unsinnig erscheinen. Keineswegs kann es die vorrangige Aufgabe eines Public-Service-Mediums sein, zu gemeinwohlaffinen Gegenständen in ernstem Ton wohlabgewogene Bekundung zu publizieren. Auf der anderen Seite dürfen als „schwierig“ vermutete Sujets oder experimentell-unge­wohnte Inszenierungsweisen nicht mit Rücksicht auf angebliche Erwartungen maßgeblicher Rezipientengruppen in die Late-Late-Night-Nische verschoben werden.
    3. In einem Verständnishorizont, der von der dienenden Funktion der Massenmedien her ausgespannt wird, kann es auch nicht sinnvoll sein, „pressetypische“ von „rundfunktypischen“ Angeboten der Massenmedien zu unterscheiden. In einer solchen Unterscheidung drückt sich das Bemühen eines subalternen Denkens aus. Es sucht in technokratischem Effizienzcode oder ökonomischem Kalkül zu vermessen, was ihm doch, wie es wohl auch ahnt, unzugänglich bleiben muss. Maßgeblich kann demgegen­über allein sein, in welchem Maß die Medienfunktion erfüllt wird, in welchem Maß also gesellschaftliche Kommunikation offen und in Bewegung gehalten wird, damit freie Meinungsbildung tatsächlich stattfinde, so dass Gesellschaft ihrer selbst immer wieder aufs Neue ansichtig werde.
  11. Das Internet als Kommunikationsraum
    1. Die vorstehenden Befunde gelten ohne Einschränkung fort, wenn die Medienfunktion im Internet wahrgenommen wird. Das Internet ist kein Medium. Es kann allenfalls als „Universalmedium“ begriffen werden, einer Vielzahl unterschiedlichster Medien grund­sätzlich zugänglich. Gesellschaftliche Kommunikation findet hier einen weiteren Entfaltungsraum. In ihm erfährt diese Kommunikation gewiss eine Beschleunigung, die außerhalb des Netzes unvorstellbar ist. Insbesondere durch Formen der „hypertextlichen“ Verknüpfung macht das Internet auch eine Verdichtung und innere Ausfaltung gesellschaftlicher Kommunikation möglich, die außerhalb dieses Kommunikations­raums allenfalls punktuell erreicht werden kann.

    Durch Beschleunigung und Verdichtung allein wird gesellschaftliche Kommunikation aber nicht in ein ganz neues Dasein umgebildet. Ihr öffnen sich allein hierdurch keine bis dahin unbekannten Dimensionen ihrer selbst, dies insbesondere nicht in qualitativ-inhaltlicher Hinsicht, ebenso wenig aber auch in soziostrukturellen Bezügen, etwa den Zugang oder Vermachtungsgrade betreffend. Dementsprechend finden sich im Netz bislang eben die Kommunikationsformen und ‑stile wieder, die sich außerhalb seiner schon entwickelt haben, nun freilich in netzspezifisch angepasster Gestalt, ggfls. Zuspitzung, Vervollkommnung oder Perversion.

  12. Fluchtpunkt aller Konvergenz im Netz: die Medienfunktion
    1. Was Technik und Standards anbelangt ist kein herkömmliches Massenmedium schon von vornherein dem Internet besonders nahe. Ob Zeitung oder Rundfunk, die zur Veröffentlichung bestimmten Beiträge solcher Medien müssen alle gleichermaßen auf die Bedingungen des Netzes eingestellt, erforderlichenfalls umgearbeitet werden.

    Entsprechendes gilt für die Rezeption massenmedialer Beiträge zur gesellschaftlichen Kommunikation. Keines der herkömmlichen Medien findet im Netz Rezeptionsformen vor, die nicht schon außerhalb des Netzes bekannt und mehr oder weniger gebräuchlich wären. Und schließlich führt das Netz alle Massenmedien in mehr oder weniger gleiche Pro­bleme. Die Beschleunigung und Vervielfältigung der Kommunikation möglicherweise vermittlungsrelevanter Gegenstände, die unter solchen Bedingungen immer schwieriger werdende Überprüfung, Verifikation und analytische Vertiefung, die Auseinandersetzung mit neuen Kommunikatoren, die sich der Möglichkeiten des Internet auf Augenhöhe mit den Massenmedien zu bedienen wissen (vom einzelnen Blogger über die PR-Abteilung des Unternehmens oder der Stadtverwaltung bis zu Google oder Facebook), die Notwendigkeit, auf verschiedenen „Kanälen“ zugleich im Netz zu kommunizieren – alle diese hier nur beispielshaft genannten Schwierigkeiten müssen die klassischen Medien im Netz gleichermaßen bewältigen.

    1. Die hier andeutungsweise umrissenen Befunde werden in rechtsnormativem Erkenntnisinteresse derzeit vor allem unter dem Leitbegriff der „Konvergenz“ erörtert. In dieser Diskussion hat sich bislang kein Grund gefunden, der es rechtfertigen könnte, die dienende Vermittlungsfunktion der Massenmedien in ihrem bisherigen Verständnis preiszugeben. Ebenso wenig nötigen die Erkenntnisse der Konvergenzdiskussion dazu, die Medienfunktion nach Maßgabe einer jeweils medienspezifischen Leistungsfähigkeit und Wirkung ganz neu zuzuordnen. Der Kommunikationsraum des Internet steht allen Massenmedien offen, sie können und müssen auch dort sicherstellen, dass sie ihrer verfassungsrechtlichen Funktionsbindung gerecht werden können. In der Verpflichtung auf diese Funktion findet alle Konvergenz der Medien ihren letzten Fluchtpunkt.
  13. Public Service im Netz
    1. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk bleibt danach auch im Internet ein Public-Service-Medium, also verfassungsrechtlich für die Meinungsbildungsfreiheit in Dienst genommen. Gesellschaftliche Kommunikation trifft im Netz auf Bedingungen, in denen die massenme­diale Vermittlungsfunktion ihre fortdauernde Rechtfertigung findet. So ist zwar die Fülle der grundsätzlich im Netz verfügbaren Daten unerschöpflich, aus denen dann Information hergestellt werden kann. Zugleich vervielfachen sich aber die Schwierigkeiten einer informierten und kompetenten Suche nach diesen Daten, die Schwierigkeiten der einengenden Auswahl, der Überprüfung auf Relevanz, Aktualität und Validität und schließlich der je sachangemessenen Präsentation.

    Solche Pro­bleme erledigen sich im Netz mitnichten von allein. Solange sie aber bestehen, ist die im Internet zweifellos geborgene Vielfalt eine Vielfalt nur an sich. Nicht aber ist sie Vielfalt für die Bürgerinnen und Bürger. Diese bleiben dann darin beschränkt, in gesellschaftlicher Kommunikation ihre Freiheit der Meinungsbildung zu verwirklichen. Dieser Befund verweist wieder auf die massenmediale Vermittlungsfunktion und die Notwendigkeit ihrer Wahrnehmung durch Public-Service-Medien. Deren Aufgabe ist es auch, gesellschaftlicher Kommunikation die gerade im Netz geborgene Vielfalt zu erschließen und zugänglich zu machen.

  14. Bestands‑ und Entwicklungsgarantie im Netz
    1. Auch die Bestands‑ und Entwicklungsgarantie endet keineswegs an den Grenzen des Internet. Soweit es die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk normativ zugewiesene Funktion erfordert und soweit seine tatsächliche Leistung hinreichend überzeugend die Annahme zu rechtfertigen vermag, dass er bereit wie fähig ist, diese Funktion zu erfüllen, muss er dazu instand gesetzt werden.
    2. Grundsätzlich ist die Dislozierung des Public-Service-Mediums in das Netz durchaus eine Option, die das Kommunikationsverfassungsrecht offen hält. Schon jetzt ist mit der Funktion eines solchen Mediums nicht nur vereinbar, sondern wird von ihr sogar verlangt, dass bestimmte Elemente dieses Service auch im Netz vorgehalten werden. Das gilt insbesondere für solche Bestandteile des Public-Service-Angebots, die von kommerziellen Medien nicht oder nicht in vergleichbarer Qualität bereitgestellt werden können.

    Auch aus diesem Grund bedürfen die derzeit für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch geltenden sog. „Depublikationspflich­ten“ der Revision. Sie verkennen ein Grundanliegen des Kommunikationsverfassungsrechts und werden wohl ersatzlos aufzuheben sein. Die derzeit noch vorherrschenden Versuche, telemediale Betätigungsformen im Netz einzugrenzen, um sie daraufhin für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mehr oder weniger weit zu sperren, wirken der Gewährleistung freier individueller und kollektiver Meinungsbildung entgegen. Allein der Funktionsbindung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in deren ganzer, Freiheit und Pflichtigkeit verbindender Maßgabe ist zu entnehmen, in welchem Umfang und in welcher Ausrichtung das Public Service-Medium auch sog. telemediale Angebote vorhalten kann, erforderlichenfalls auch vorhalten muss. Schon jetzt wird als hochwahrscheinlich gelten können, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk sein telemediales Angebot wird ausweiten dürfen, wohl sogar müssen. Auch der „Grimme Online Award“ zeigt, welche Richtung diese Ausweitung nehmen müsste.

  15. Qualität
    1. Am Schluss dieser Überlegungen sei der Begriff hervorgehoben, der genau besehen einen ihrer Angelpunkte bezeichnet: Qualität. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss bestimmten Qualitätsanforderungen genügen, soll von ihm gesagt werden können, er erfülle uneingeschränkt die ihm von der Verfassung zugewiesene Funktion. Diese Anforderungen liegen hoch, und es spricht manches dafür, dass der real existierende öffentlich-rechtliche Rundfunk ihnen keineswegs noch vollständig genügen kann. Um so wichtiger wäre es, sich dieser Anforderungen wieder genauer inne zu werden, und so auch der Möglichkeiten der Gesellschaft, die Erfüllung dieser Anforderungen effizient zu kontrollieren.

    Das Verfassungsrecht kann hier zwar manches, aber, wie bereits gesagt, stets nur den kleineren Teil beisteuern. Über die zeitgemäße Ausgestaltung ihres Mediensystems muss die moderne Gesellschaft einen Diskurs führen, der alle ihre Teilbereiche durchzieht, im Hinblick auf das Internet also auch in einem „entgrenzten Raum“ stattfinden wird. Ein solcher Diskurs hat allenfalls gerade erst begonnen. Er wird qualitätsorientiert, subjektiv und politisch zu führen sein. Denn das erfordert die Freiheit der Meinungsbildung, die nach „Marktanteilen“ niemals zu bemessen sein wird.


[«*] Helge Rossen-Stadtfeldt, Professor für Öffentliches Recht an der Universität der Bundeswehr München

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