Aus der Welt gefallen
Eine Nachbetrachtung zum Absturz der Germanwings-Maschine.
Letzten Mittwoch wurde Angehörigen der Opfer des Absturzes der Germanwings-Maschine die Särge mit den Überresten der Toten übergeben. Am Tag darauf informierte die Staatsanwaltschaft in Paris über den Stand der Ermittlungen. Anlass für Götz Eisenberg, im Lichte der neuen Erkenntnisse noch einmal auf den Fall zurückzublicken.
Eine Tat verstehbar werden zu lassen, ist etwas anderes, als sie und den Täter zu entschuldigen. Es geht nicht darum, den Kopiloten von Schuld freizusprechen und das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen zu schmälern. Andreas L. hat das Flugzeug zum Absturz gebracht und 149 Menschen mit in den Tod gerissen. Es müsste gerade im Interesse der Opfer liegen – der gestrigen und der von morgen -, hinter der Tat Zugang zu finden zur Psychopathologie des Täters. Nur wenn es uns gelingt, einen möglichst umfassenden Verständniszusammenhang herzustellen, werden wir vielleicht zukünftig in der Lage sein, im Vorfeld sensibler auf Warnsignale zu reagieren.
„Ja, das ist besonders merkwürdig: Seine ganze Angst war vergeblich. Das erinnert an den großartigen Satz von Kafka, der mir jetzt einfällt, über seine Angst: Dass die ganzen Ängste, die er hatte, möglicherweise völlig überflüssig waren.“
(Wilhelm Genazino)
Am Mittwoch, den 10. Juni 2015 wurde Angehörigen der Opfer die Särge mit dem Überresten der Toten übergeben, am Donnerstag waren sie nach Paris eingeladen, wo die dortige Staatsanwaltschaft sie über den Stand der Ermittlungen informierte. In der Süddeutschen Zeitung vom Freitag, dem 12. Juni 2015 findet sich ein Bericht über die Pressekonferenz und den gegenwärtigen Kenntnisstand in Sachen Absturz der Germanwings-Maschine am 24. März 2015. Ich fasse diesen Artikel zusammen:
Eines der letzten Wörter, die Andreas L. auf seinem iPad gegoogelt hat, lautet: Patientenverfügung. Eine solche Verfügung legt fest, wie weit Ärzte im Grenzfall gehen sollen und dürfen, wenn ein Mensch sich zwischen Tod und Leben befindet, weder tot noch richtig lebendig ist. L. hat an diesem Tag auch noch die Suchwörter Leiden, Krankenhaus, Sterben eingegeben. Man kann daraus schließen, dass Andreas L., der offenbar suizidal gestimmt war, bis zuletzt vorhatte, nur sich selbst umzubringen. Und er hatte offenbar Angst, dass dieser Versuch misslingen und man ihn frühzeitig finden und erfolgreich wiederbeleben könnte. So lässt sich sein Interesse für die Patientenverfügung deuten. Bis zum Schluss war alles in der Schwebe und er schwankte zwischen verschiedenen Möglichkeiten hin und her.
Man hat bei insgesamt 46 Ärzten Unterlagen über Andreas L. sichergestellt. Er fürchtete zuletzt offenbar, an einer schweren Augenkrankheit zu leiden und entwickelte eine ans Wahnhafte grenzende Angst, zu erblinden, und damit das Fliegen und seinen geliebten Beruf zu verlieren. Diese Angst, so scheint es, trieb ihn in den Tod. Ende 2014 entdeckt Andreas L. erste Anzeichen dieser vermeintlichen Augenkrankheit und sucht noch kurz vor Weihnachten einen Augenarzt auf, der aber nichts findet, was auf eine ernsthafte Erkrankung hindeutet. Er traut der Entwarnung nicht und konsultiert weitere Ärzte. Er beginnt eine regelrechte Ärzte-Odyssee, die für Außenstehende kaum nachvollziehbar ist. Alle Ärzte kommen zum selben Ergebnis: Seine Augen sind vollkommen in Ordnung. „Die Botschaft erreicht L. nicht. ‚Wenn die Augen nicht wären‘, schreibt er einem der Ärzte, ‚wäre alles gut‘. Welche Tragik. Es war ja alles gut.“
Die Mutter empfiehlt ihm, zu einem Psychiater zu gehen und begleitet ihn Mitte März sogar, als er endlich ihrem Rat folgt. Der Psychiater und die Neurologen, die er danach aufsucht, tippen auf eine Angststörung. Schon im Jahr 2009 musste Andreas L. die Pilotenschule verlassen, um sich wegen Depressionen behandeln zu lassen. Nun, im Jahr 2015, lehnt er eine weitere psychiatrische Behandlung ab mit der Begründung, er habe es „ja nur an den Augen“.
Zum Schlüsselasservat in diesem Fall avanciert sein iPad, bzw. die Suchfunktion im Internetbrowser. Ab Mitte März 2015 zeugen die Sucheinträge von einer deutlichen Zuspitzung der Lage. Er ließ sich krankschreiben. Zwischen dem 13. und dem 22. März steuert er kein Flugzeug. Gleich von drei Ärzten besorgt er sich Atteste. Einer diagnostiziert einen „psychosomatischen Beschwerdekomplex“. Dieses Attest gibt Herr L. vorsichtshalber erst gar nicht beim Arbeitsgeber ab. Wie ein Ertrinkender sucht er nach einer Lösung seiner Probleme, die er zunehmend im Tod erblickt. Er fragt im Internet nach „einem schnellen Tod“, „wieviel kostet Zyankali und woher kriegt man das?“ Er sucht allgemein nach Giften und tödlichen Medikamenten-Cocktails, er sucht nach Möglichkeiten, seine Schlafstörungen loszuwerden. Am 20. März klickt er auf eine Seite mit Beschreibungen von Cockpit-Türen. Da ist er also gedanklich bereits mit der Möglichkeit befasst, die er dann vier Tage später wählt. Am Tag vor dem Unglück googelt er die Patientenverfügung. Noch immer hat er keine endgültige Wahl getroffen. Auf dem Hinflug nach Barcelona hatte Andreas L. den Autopiloten schon einmal auf 100 Fuß eingestellt, als der Pilot das Cockpit verlassen hatte. „War das die Generalprobe? Oder wollte er das Flugzeug schon da abstürzen lassen, und zuckte dann doch zurück?“, fragt die Süddeutsche Zeitung abschließend.
Die Ermittlungsergebnisse zeigen uns einen verzweifelten jungen Mann, der in einer tiefen Lebenskrise steckt und den Weg zu anderen Menschen nicht findet, die ihm da raus- und weiterhelfen könnten. Was letztlich den Ausschlag gab, dass er die Methode des erweiterten Suizids wählte, werden wir nicht erfahren. Man kann darüber im Sinne meiner früheren Anmerkungen nur spekulieren. (siehe: Alles mitreißen in den Untergang, Nachdenkseiten vom 2. April 2015)
Für jeden, der therapeutisch arbeitet, ist die scheinbar grundlose Angst ein vertrautes Phänomen. Man spricht in Fällen wie dem des Andreas L. von Hypochondrie. Der hypochondrische Mensch ist ständig und übermäßig um seine Gesundheit besorgt. Er beobachtet sich unentwegt und neigt dazu, unbedeutende Beschwerden zu lebensbedrohlichen Erkrankungen auszubauen, wobei er von der tödlichen Ernsthaftigkeit seiner Erkrankung überzeugt ist. Eine fixe Idee wie die, die Herr L. hervorgebracht hat, ist dadurch charakterisiert, dass sie gegen vernünftige Argumente und medizinisch-wissenschaftliche Aufklärungsversuche perfekt abisoliert ist. Ein richtiger Hypochonder ist auf diese Weise nicht erreichbar. Er denkt, dass er denkt und dass alle anderen um ihn herum ihn nicht verstehen, inkompetent oder Komplizen einer gegen ihn in Szene gesetzten Verschwörung sind. Die Hypochondrie ist eine Art von körperlichem Wahn: Der Hypochonder fahndet in seinem Körper nach Hinweisen auf gefährliche Erkrankungen, genauso wie der sich verfolgt fühlende Mensch nach Agenten und versteckten Mikrophonen sucht. Warum tut er das? Die Hypochondrie bietet den Vorteil, diffuse Ängste oder unerträgliche aggressive Tendenzen zu konkretisieren und einzugrenzen. Der Hypochonder verwandelt seine diffusen inneren Ängste in die konkrete und deshalb leichter zu ertragende Furcht vor körperlicher Krankheit. „Der Boden wankt, sie wissen nicht warum und von was. Dieser ihr Zustand ist Angst, wird er bestimmter, so ist er Furcht“, heißt es im Vorwort von Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung. Stets handelt es sich bei der Hypochondrie um einen symbolischen Hinweis auf Existenzprobleme, und es ist Aufgabe des Arztes oder Therapeuten, die körpersprachlich verrätselte und chiffrierte Botschaft zu entschlüsseln. Es gehört zur Tragik dieses Falles, dass Andreas L. auf seiner Odyssee niemandem begegnete, der das Rätsel seiner vermeintlichen Augenerkrankung zu lösen verstand, die dahinter liegende Problematik erkannte und behutsam zum Thema machte. Das Thema wäre Angst gewesen. Mit der Diagnose „Angststörung“ allein ist niemandem geholfen – auch Andreas L. nicht. Das Diagnostizieren, mit dem wir heute so schnell bei der Hand sind und worauf wir uns so viel zugutehalten, erweist sich als ein Instrument, mit dem die Gesellschaft Störungen und Gefährdungen ihres Zusammenlebens gerade nicht zu verstehen lernt, sondern abdeckt, abriegelt und administrativ in den Griff zu bekommen versucht. Diagnosen befriedigen das Ordnungs- und Kausalitätsbedürfnis der Wissenschaft und der professionellen Helfer sowie den Wunsch, in einem bisher undurchschaubaren, chaotischen, gefährlichen, vielleicht auch angstauslösenden Bereich Ordnung zu schaffen durch Einordnen und Klassifizieren: „Aha, das ist es also!“ Diagnosen rücken den Patienten zurecht für den medizinisch-psychiatrischen Apparat und seine Normalisierungstechniken. Vor allem bahnen sie den Weg für die Verschreibung von Medikamenten, woran die Pharmaindustrie ein großes Interesse hat. Unser Anliegen sollte deshalb nicht sein, ein Symptom schnellstmöglich zu beseitigen, sondern den Versuch zu unternehmen, seine Bedeutung aus der Vielschichtigkeit des jeweiligen Menschen und seiner Lebensgeschichte heraus zu verstehen. Diagnosen und Etiketten sind allenfalls von relativem Wert, und oft sind sie der nötigen Offenheit dem Patienten gegenüber nicht förderlich. Nimmt man ein Symptom allzu schnell unter Beschuss ohne seine Bedeutung im seelischen Gesamthaushalt eines Menschen begriffen zu haben, bringt man ihn in Gefahr. Symptome haben, wie der Psychoanalytiker Fritz Morgenthaler gesagt hat, die Funktion einer „Plombe“, die eine Lücke im Selbst, ein seelisches Loch ausfüllt. Entfernt man die Plombe, bleiben dem Patienten nur das Loch und ein namenloser Schmerz. Das Symptom ist ein körperlicher Ausweg für psychische Konflikte und bindet Ängste. Nimmt man dem Kranken diesen Ausweg, läuft man im Extremfall Gefahr ihn zu töten. Die verhaltenstherapeutische und medikamentöse Symptombekämpfung haben Konjunktur, weil sie „zielführend“ und „effizient“ zu sein scheinen und nicht so viel Zeit benötigen, wie eine langwierige psychoanalytische Behandlung.
Fritz Morgenthaler hat das Unzeitgemäße und Unökonomische der Psychoanalyse wie folgt beschrieben: “Mit einer Analyse kann ich nicht schnell eine Lösung finden oder irgendein Problem, das einen Patienten plagt, überbrücken. Die Analyse eignet sich auch schlecht dazu, einen Patienten in einer unangepassten Stellung der Gesellschaft gegenüber schnell wieder der herrschenden Gesellschafts-Moral anzugleichen, ihm zu helfen, ein guter Schüler, ein braver Angestellter oder ein erfolgreicher Geschäftsmann zu sein. Der analytische Prozess folgt Übertragungsstrukturen und Entwicklungslinien, die nicht den Strukturen der Gesellschaft entsprechen, in der wir leben.”
Bei manchen Menschen ist Angst das Lebensgrundgefühl. Ihre Ursprünge verlieren sich im Nebel der Kindheit. Sie reichen mitunter zurück in die vorsprachliche Zeit der frühen Mutter-Kind-Beziehung und sind deswegen für therapeutische Verfahren, die auf Sprachlichkeit basieren, schwer erreichbar. Unter lebensgeschichtlich günstigen Bedingungen bildet sich so etwas aus, wie ein Urvertrauen. Die verlässliche Zuwendung wird verinnerlicht als Gewissheit des eigenen Werts. Jean-Paul Sartre nannte diesen Vorgang Valorisierung. Der Valorisierte trägt in sich die Gewissheit, dass die Dinge kommen können und er das Leben und seine Widrigkeiten meistern wird. Wem es hingegen an Zuwendung und verlässlicher Anwesenheit der Bezugspersonen mangelt, der fühlt sich nicht hinreichend sicher genug gehalten und entwickelt anstelle eines Urvertrauens Misstrauen und Angst. Wer die allererste Liebe nicht empfangen hat und wem es in der Phase beinahe vollkommener Abhängigkeit an Halt und Geborgenheit fehlte, wird von einer Angst erfasst, die bodenlos ist und eine kaum gemilderte Todes- und Vernichtungsangst darstellt. Die Urform der Angst ist die vor dem Verlust der Mutter oder anderer früher Bezugspersonen. „Wer nicht in den vor den bewussten Erfahrungen liegenden Perioden des Lebens Urvertrauen erlebt hat, wird sich dieses Geborgenheitsgefühl später nur mit unsäglicher Mühe durch Freiheit des Denkens erwerben können, und wen umgekehrt Kindheitserfahrungen an eine paranoide Position fixiert haben, der findet nur schwer die Gelassenheit des Vertrauens“, schrieb Alexander Mitscherlich vor vielen Jahren.
Was wir am Verhalten des Andreas L. in den Tagen vor seiner Tat beobachten können, ist: Dem Verzweifelten wird die Welt enger von Tag zu Tag. Handlungsalternativen schwinden und können irgendwann nicht mehr wahrgenommen werden. Der Weg in die Katastrophe ist durch die schrittweise Verengung von Handlungsalternativen im Verlauf einer biographischen Krise gekennzeichnet. Am Ende steht die Gewalt als letzte und einzige Option. Sie kann immer noch in verschiedene Richtungen gehen. Zum Wesen der Aggression gehört es, dass sie eine verschiebbare Energie ist. Sie kann sich gegen uns selbst, wir können sie gegen uns selbst richten; dann nimmt sie die Gestalt der Selbstbestrafung und –bezichtigung an, die man Depression nennt. Ihre Extremform ist der Suizid. Aggression kann sich gegen Objekte, Mitmenschen, Leute wenden – der klassische Fall von Destruktion: Homizid, Mord. Mord und Selbstmord sind häufig austauschbar, jedenfalls auf dem Niveau des zerstörerischen Willens. Tendenzen zum Suizid oder zum Mord sind nur auf dem Papier zu trennen. In der psychischen Realität gehen sie Mischungen ein und sind häufig wie zu einem Zopf verflochten. Für einen Moment ist in der Schwebe, wohin die gestaute Wut sich wenden wird. Im Falle des erweiterten Suizids, den man Amok nennt, geht sie in beide Richtungen: ein Mensch, der zuvor einen oft langwierigen sozialen Tod gestorben und aus der Welt gefallen ist, ist bestrebt, möglichst viele Fremde in den eigenen Untergang mit hineinzureißen.
„Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“, heißt es bei Hegel, was so viel heißen soll, dass wir mit unserem Begreifen und unseren Erklärungen oft zu spät kommen. Erst wenn die Katastrophe eingetreten ist, scheint alles einer Logik zu gehorchen, die die ganze Zeit über auf eine aggressive Eruption zusteuerte. Jetzt ist jeder Lernprozess dadurch versperrt, dass er zu spät kommt.
Im Verlag Brandes & Apsel ist Anfang 2015 Götz Eisenbergs neues Buch Zwischen Amok und Alzheimer. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus erschienen.
Siehe dazu die Rezension von Joke Frerichs auf den NachDenkSeiten