Erst 730 Euro Hartz-IV-Satz decken das soziokulturelle Existenzminimum

Ein Artikel von Jens Wernicke

Dass der vieldiskutierte Eckregelsatz viel zu niedrig ist, weiß inzwischen jedes Kind. Dass allerdings auch die Kritiken an dessen Höhe üblicherweise systemimmanent sind und die Kritiker also bisher der Frage nach den realen Bedarfen der Menschen im Lande aus dem Wege gegangen sind, das ergab die heute aktualisiert erschienene Studie „Was der Mensch braucht“. Deren Vorgängeruntersuchungen hatten es in der Vergangenheit bereits unter anderem bis in den Parallelbericht zum UN- Staatenbericht über den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte geschafft. Jens Wernicke sprach mit Lutz Hausstein, der Urheber der Studie ist.

Herr Hausstein, Sie sind in Ihrer soeben veröffentlichten Studie „Was der Mensch braucht“ der Frage der Hartz IV-Regelbedarfe nachgegangen. Wieso denn das: Die sind doch regierungsamtlich durchgerechnet und verfassungsrechtlich bestätigt, so, wie sie sind – und also vollkommen auskömmlich?

Die Praxis sieht leider vollkommen anders aus. Viele Menschen können sich unter den Bedingungen von Hartz IV auch einfachste Selbstverständlichkeiten nicht mehr leisten, weil sie zu wenig Geld zur Verfügung haben.

350.000 Haushalten wurde 2013 etwa der Strom abgeschaltet, weil sie die Rechnung nicht mehr bezahlen konnten. Und 1,5 Millionen Menschen müssen jede Woche den für sie demütigenden Weg zu einer Lebensmitteltafel antreten, weil ihr Geld nicht fürs Essen reicht. Man muss sich diese Zahl einmal auf der Zunge zergehen lassen: 1,5 Millionen Menschen! Inzwischen gibt es mancherorts sogar Wartelisten von bis zu zwei Jahren bei den Tafeln. Dies sind alles andere als Zeichen dafür, dass der von der Politik als Existenzminimum deklarierte Betrag auch wirklich existenzsichernd oder gar auskömmlich ist.

Dies wird umso deutlicher, je mehr man ins Detail geht, mit einzelnen Betroffenen spricht und sich von ihnen ihre Lebenssituationen beschreiben lässt. Da erfährt man dann von vielen demütigenden Umständen, vielen zwangsweisen Verzichten auf einfache Dinge, die für jeden anderen in unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sind. Dem Verzicht beispielsweise, Verwandte zu Geburtstagen zu besuchen, da man sich schämt, kein Geschenk mitbringen zu können, sofern man überhaupt noch die Fahrt oder Reise dorthin bezahlen kann. Und von Kranken, die das Rezept des Arztes für ein Medikament nicht einlösen können oder Krankenhausbehandlungen meiden, weil sie die Zuzahlung nicht zu leisten in der Lage sind. Oft ist es ein vollständiger Rückzug aus der sozialen Öffentlichkeit, da den Menschen an allen Ecken und Kanten schlicht das Geld zur sozialen Teilhabe fehlt.

Sie zweifeln also an der amtlichen Berechnungsmethode? Wieso?

Ganz einfach: Weil sie ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht wird. Immer wieder wird durch Politiker gegenüber der Öffentlichkeit gebetsmühlenartig wiederholt, dass damit der Bedarf ermittelt würde. Doch eben dies ist überhaupt nicht Inhalt der Statistik-Methode auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die auch weiterhin, also auch nach der vom Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 angeordneten Neuberechnung der Regelsätze, als Berechnungsgrundlage benutzt wird. Mithilfe der verwandten Statistikmethode wird nur das Ausgabeverhalten eines ebenfalls armen Bevölkerungsteils ermittelt, der aufgrund seines eigenen, sehr niedrigen Einkommens auch nur wenig Geld zur Verfügung hat. Mit einer Bedarfs- Ermittlung hat dies jedoch nichts zu tun.


Gewerkschaftskritik an den Hartz IV-Regelsätzen


Ich vergleiche das gern mit der absurden Situation, wenn sich jemand mit einem Digitalthermometer an die Autobahn stellen würde, um damit die Geschwindigkeit der vorbeifahrenden Autos zu messen. Das Thermometer liefert absolut exakte Daten, sogar bis auf die zweite Kommastelle genau. Wenn man diese Zahlen nun allerdings öffentlich als gemessene Geschwindigkeiten bezeichnen würde, wäre das Gelächter riesengroß. Zurecht. Wenn allerdings die Ausgaben eines ebenfalls armen Bevölkerungsteils, der selbst bereits Mangel leidet, als „Bedarf“ einer immer größer werdenden Bevölkerungsgruppe dargestellt werden, herrscht andächtige Stille.

Und wenn das Berechnungsverfahren aber derlei „unseriös“ ist – wieso wurde und wird es dann angewandt?

Mit dem enormen Datenmaterial, das der EVS-Statistik zugrunde liegt, wird natürlich der Anschein der Wissenschaftlichkeit erweckt, da deren Zahlen an sich unbestechlich sind und schlussendlich auch ein exaktes Ergebnis hervorbringen. Das Zahlenmaterial der EVS ist natürlich imposant und das Statistische Bundesamt als seriöser und penibler Datenerfasser zunächst auch über jeden Zweifel erhaben.

Doch selbst die besten und genauesten Zahlen nützen nichts, wenn das Berechnungsverfahren mit seiner Logik nicht dem eigentlichen Ziel gerecht wird – der Ermittlung des Bedarfes nämlich, den ein Mensch zum Leben hat.

Und Sie haben also anders gerechnet. Wie denn genau?

Die benutzte Aufstellung eines Warenkorbs ist ja nun keineswegs eine Erfindung von mir. Denn von 1955 bis 1990 wurden schon mithilfe des Warenkorbmodels soziale Sicherungsleistungen berechnet. Es gab jedoch immer wieder Diskussionen darüber, was genau in diesem Warenkorb enthalten sein sollte. Einerseits muss darüber entschieden werden, welche Güter und Dienstleistungen in den Warenkorb aufgenommen werden müssen, um für die Grundforderung der soziokulturellen Teilhabe die notwendige, finanzielle Grundlage zu schaffen. Gleiches gilt für die dazu zu veranschlagenden Mengen und Häufigkeiten. Andererseits ist auch der Inhalt des Warenkorbs beständig zu aktualisieren, denn er besitzt eine gesellschaftliche Dynamik. So ändern sich etwa Nutzungsgewohnheiten der Bevölkerung fortlaufend, da neue Technologien die Gesellschaft erobern, sich aber auch an anderen Stellen die gesellschaftlich üblichen Verhaltensweisen wandeln.

Für mich war es natürlich auch sehr schwierig, diesen Spagat zwischen der eigenen, gar nicht vermeidbaren Subjektivität und der für die Bedarfsermittlung notwendigen Objektivität zu bewältigen. Ständige Orientierungspunkte waren für mich daher die mit dem Konzept der relativen Armut untrennbar verknüpften gesellschaftlich üblichen Verrichtungen und Verhaltensweisen, die sich ja auch hinter dem öffentlich immer wieder gebrauchten Begriff der „soziokulturellen Teilhabe“ verbergen.

Um nun meine eigene, subjektive Wahrnehmung weiter zu reduzieren, wurde jede einzelne Bedarfsposition in der Studie zudem von mehreren, unabhängigen Personen auf Plausibilität überprüft, um somit am Ende zu größtmöglicher Objektivität zu gelangen.

Bezüglich der zugrundeliegenden Preise wurde eine sehr umfangreiche Preisrecherche angestellt, die zudem auch den Lebensrealitäten Rechnung trägt. Denn es ist schlicht lebensfremd, wenn jemand annimmt, dass für den Einkauf von sechs verschiedenen Lebensmitteln sechs unterschiedliche Supermärkte aufgesucht werden könnten, nur um sie am billigsten Standort zu kaufen.

Entscheidend war für mich dabei immer wieder der Praxisbezug. Was ist in der Praxis umsetzbar, insbesondere auch unter Berücksichtigung der eingeschränkten Möglichkeiten der Betroffenen, und was erweist sich letztlich als theoretisches Konzept, das zwar klug klingt, aber aus dem Elfenbeinturm stammt?

Wozu war diese Arbeit denn notwendig? Es gibt doch längst konkrete Gegenberechnungen etwa vom Paritätischen oder von Betroffenenverbänden.. Der Paritätische Wohlfahrtsverband etwa fordert einen Eckregelsatz von 485 Euro.

Diese kritischen Gegenrechnungen setzen aber immer wieder auf der von der Bundesregierung genutzten Berechnungsmethode, der EVS-Statistikmethode also, auf. Damit unterliegen sie von vornherein dem Fehlschluss, aus den Ausgaben eines armen Bevölkerungsteils den Bedarf einer anderen, ebenfalls armen Bevölkerungsgruppe ableiten zu wollen.

Und wie hoch müsste der Eckregelsatz Ihren Berechnungen zufolge sein?

Um unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Voraussetzungen mit einem Minimum an Lebensstandard leben zu können, werden rund 730 Euro monatlich benötigt. Zuzüglich der regional erheblich differierenden Wohnkosten.

Der aktuell gültige Betrag von 399 Euro hingegen reicht gerade einmal knapp dafür aus, die grundlegenden, physischen Lebensbedürfnisse abzudecken. Eine soziokulturelle Teilhabe ist damit jedoch keinesfalls möglich oder muss durch einen Verzicht physischer Notwendigkeiten schmerzhaft „gegenfinanziert“ werden.

Und mit diesem Eckregelsatz wären die Empfänger von Hartz IV dann nicht mehr in Armut oder von Armut bedroht? Dieser Satz reichte Ihrer Auffassung nach also für ein „Leben in Würde“ innerhalb der bestehenden Verhältnisse?

Das kann man mit einem einfachen „Ja“ beantworten. Das Ziel dieser Studie war, einen Betrag zu ermitteln, der neben der Sicherung der rein physischen Existenz auch ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe gewährleistet. So, wie es auch das Bundesverfassungsgericht immer wieder als Grundlage der Berechnungen gefordert hat. Damit wären die Betroffenen auch nicht mehr von relativer Armut betroffen.

Und welche Konsequenzen leiten Sie aus Ihren Berechnungen und Erkenntnissen ab?

Mit dem derzeitigen Berechnungsverfahren wird das notwendige Existenzminimum drastisch unterschritten – trotz des regelmäßigen, öffentlichen Lamentierens über ein angebliches Hängematten-Dasein oder eine spätrömische Dekadenz der Betroffenen. Und das hat auch Folgewirkungen, die bis tief bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen.

Denn nicht nur die direkt Betroffenen – Arbeitslose, Armutsrentner, sogenannte Aufstocker, aber auch viele Kinder – leiden unter derlei „Mangel-Dasein“. Infolge desselben ist im vergangenen Jahrzehnt auch ein enormer Lohndruck entstanden, der für nicht wenige Arbeitnehmer schließlich zu einer Lohnerosion geführt hat. Das betraf besonders den unteren Lohnbereich, hat aber bis hinein in die mittleren Löhne negative Nachwirkungen gezeitigt. Gleichzeitig wurden hohe Einkommen und Vermögen deutlich entlastet. Die Schere klafft so immer weiter auseinander und gefährdet damit zunehmend den gesellschaftlichen Zusammenhalt.


Gewerkschaftskritik an den Hartz IV-Regelsätzen


Aus diesen Gründen ist es nicht nur für die direkt Betroffenen von großer Bedeutung, dass die Politik ihre inzwischen ein Jahrzehnt andauernde Blockade einer angemessenen, verfassungskonformen Mindestsicherung endlich aufgibt, sondern es ist für unsere gesamte Gesellschaft von enormer Wichtigkeit. Der endlich notwendigen Debatte hierum möchte ich mit meiner Studie eine fundierte Grundlage geben.

Ich bedanke mich für das Gespräch.


Lutz Hausstein, 46, ist Wirtschaftswissenschaftler und als Arbeits- und Sozialforscher tätig. Bereits in seinen 2010 und 2011 erschienenen Untersuchungen „Was der Mensch braucht“ ermittelte er einen alternativen Regelsatzbetrag für die soziale Mindestsicherung. Er ist unter anderem Ko-Autor des Buches „Wir sind empört! Gegen die Zerstörung des Sozialstaates und den Angriff auf unsere Grundrechte“ der Georg-Elser-Initiative Bremen sowie Verfasser des Buches „Ein Plädoyer für Gerechtigkeit“.


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