Die linke Syriza und die rechten „Unabhängigen Hellenen“, ein taktisches Bündnis
Das Wahlergebnis vom 25. Januar ist klarer ausgefallen, als es die meisten Beobachter erwartet haben. Dieses Votum hat selbst die meisten Syriza-Wähler überrascht, und wahrscheinlich auch die Parteiführung. Was es bedeutet – auch für Europa – wird sich erst erweisen müssen, wenn die neue Regierung mit den EU-Partnern, der EZB und dem IWF über die Bedingungen – samt dem Kleingedruckten – eines neuen Vertrags mit dem Schuldnerland Griechenland verhandelt. Zu den Aussichten einer substantiellen Reduzierung der griechischen Schuldenlast, die die Tsipras-Regierung anstrebt, lässt sich derzeit noch wenig sagen – außer, dass zu einer Einigung stets zwei Parteien gehören. Die griechische Seite hat gerade in den letzten Wahlkampftagen außerordentlich zurückhaltende, maßvolle und realistische Töne angeschlagen. Das gilt auch für die letzte Pressekonferenz von Alexis Tsipras, auf der er einen bemerkenswerten Akzent setzte. Er sprach von der historischen Aufgabe der Syriza, die Zukunft des Landes zu gestalten. Der 25. Januar biete der griechischen Linken diese Chance „zum ersten Mal“ – um fast beiläufig hinzuzufügen: „oder zum letzten Mal“. Tsipras und seine Mannschaft sind sich offensichtlich sehr wohl bewusst, dass die eigentliche Bewährungsprobe für die erste linke Regierung noch bevorsteht. Und dass es auch schief gehen kann, mit weitreichenden Folgen nicht nur für die Syriza, sondern für die gesamte Gesellschaft. Von Niels Kadritzke
Maria Maragonis schreibt am Ende ihrer klugen Analyse des griechischen Wahlergebnisses in der linken US-Zeitung „The Nation“ (am 27. Januar auf den NDS unter Hinweise des Tages, Text 2 e): „Über den möglichen Preis eines Scheiterns nachzudenken – das hält man kaum aus. Denn für die Linke könnte dies für lange Zeit die letzte Chance sein, und nicht nur für Griechenland. Am Eingang eines Wahllokals in einem vorwiegend linken Athener Viertel traf ich einen Chrysi Avgi-Anhänger, der mir erklärte: „Wir wollen, dass Syriza gewinnt, sodass man sieht, sie sind nackt; und dann werden die Leute zu uns überlaufen. Wir wollen drittstärkste Partei werden, sodass wir im Parlament stark vertreten sind.“
Diese Drohung sollte man nicht unterschätzen. Die griechischen Neonazis sind tatsächlich drittstärkste Partei geworden. Aber Maria Maragonis geht auch auf ein aktuelle Frage ein, die alle Sympathisanten der Syriza beschäftigt oder beschäftigen sollte. Da die Syriza die absolute Mehrheit der Parlamentsmandate knapp verfehlt hat, musste sie eine Koalitionsregierung bilden. Tsipras hat es vorgezogen, sich auf einen höchst umstrittenen Bündnispartner einzulassen: die Rechtspopulisten um Panos Kammenos, dessen Partei Anel (Anexartiti Ellines oder: Unabhängige Hellenen) im Parlament mit 13 Abgeordneten vertreten ist, sodass die Regierung Tsipras/Kammenos mit 162 Stimmen eine relativ komfortable Mehrheit besitzt.
Die „Unabhängigen Hellenen“, ein Partner oder ein Handicap?
Für die meisten griechischen Linken sind die „Unabhängigen Hellenen“ im Grunde ein völlig undiskutabler Partner, schreibt Maria Maragonis: „Einmal abgesehen von ihren zutiefst abstoßenden Meinungen, könnten sie die Syriza in einer ganzen Reihe von Fragen blockieren, etwa was die Rechte der Frauen und der Homosexuellen betrifft, aber auch das Problem der Immigration und die maßlose Macht der Orthodoxen Kirche.“
Diese Bedenken sind meines Erachtens berechtigt. Und ich muss an dieser Stelle gestehen, dass die Koalitionsentscheidung der Syriza mich nicht nur überrascht, sondern auch schockiert hat. In meinen Einschätzungen war ich letztlich davon ausgegangen, dass Tsipras und die Linkspartei sich niemals mit einem solchen politischen Bettgenossen einlassen werden. Zum mindesten hätte ich im Fall eines Versuches mit heftigen Protesten von der Parteibasis gerechnet.
Dass auch dies (noch) nicht geschieht, zwingt mich natürlich, über die Grenzen meiner Kompetenz als „Griechenland-Versteher“ zu reflektieren. Offensichtlich hält die politische Kultur dieses Landes auch für jemanden, der vieles gelernt und durchschaut zu haben glaubt, immer wieder heftige Überraschungen bereit. Die ist in diesem Fall umso bitterer, als mich die FAZ bzw. deren (in Istanbul ansässiger) Griechenland-Korrespondent Michael Martens darüber belehrt, dass die Syriza in der Anel schon immer den „bevorzugten Koalitionspartner“ sah. Mit dem Einzug der Anel ins Parlament, schrieb Martens am 26. Januar, sei für Tsipras das Bündnis mit Kammenos automatisch besiegelt gewesen.
Das erklärt zumindest die optische Täuschung, der ich offenbar erlegen bin: Da die Anel bis kurz vor den Wahlen laut Umfragen an der 3-Prozent-Hürde zu scheitern schien, wurde in der Syriza über diese Koalitionsvariante praktisch nicht mehr diskutiert. Das war der Parteiführung durchaus recht. Denn der war die innerparteiliche Brisanz dieser Frage natürlich stets klar, und sie beschwor die Wahrscheinlichkeit einer absoluten Mehrheit auch deshalb so heftig, weil damit die K-Frage von der Tagesordnung abgesetzt war.
So viel zu subjektiven Fehleinschätzungen und optischen Täuschungen. Viel wichtiger sind natürlich zwei substantielle Fragen:
- Wer ist Panos Kammenos und wie sieht das politische Profil des rechten „Mehrheitsbeschaffers“ der ersten griechischen Linksregierung aus?
- Wie ist die Entscheidung von Tsipras für eine derart „unorthodoxe“ Allianz zu erklären?
Die erste Frage ist leichter zu beantworten als die zweite. Wer Kammenos ist (also die Anel, die nicht viel mehr als Kammenos ist) lässt sich anhand seiner politischen Karriere, seiner Ansichten und vor allem seinen Ambitionen zeigen. Was die Motive von Tsipras und seiner Umgebung betrifft, möchte ich darüber aus der Ferne nicht spekulieren. Ich habe deshalb einige meiner vertrauten und erfahrenen „Gewährsleute“ in Griechenland befragt und eine Reihe unterschiedlicher Interpretationen erhalten, die ich im zweiten Teil darstellen, aber nicht weiter kommentieren werde.
Warum wurde die Lösung Kammeno vorgezogen?
Vorweg allerdings einige Informationen über den Ablauf der Entscheidung, die für die Bewertung der Koalitionsfrage nicht unwichtig sind:
- Nach einer sehr zuverlässigen Quelle hat die engere Syriza-Führung die „Option Kammenos“ stets als bevorzugte Lösung der Koalitionsfrage gesehen, auch wenn man darüber nie offen gesprochen hat. Sobald feststand, dass die absolute Parlamentsmehrheit nicht erreicht war, trat diese Option in Kraft. So konnte ein privater TV-Sender schon knapp nach Mitternacht des Wahltags melden, dass es eine Koalition Syrza-Anel geben wird.
- Tsipras durfte sich sicher sein, dass die blitzschnelle Entscheidung für eine Koalition mit den Rechtspopulisten keine offene Kontroverse auslösen würde. Die Begeisterung der Parteibasis und der Syriza-Anhänger über das unerwartet gute Wahlergebnis (36, 5 Prozent der Wählerstimmen, 8,5 Prozent Vorsprung vor der ND, 4 Prozent mehr als ND und Pasok zusammen) war so groß, dass man sich die Stimmung nicht durch Streitereien vermiesen lassen wollte.
- Tsipras konnte es sich leisten, Sondierungsverhandlungen mit anderen potentiellen Koalitionspartnern gar nicht erst aufzunehmen. Der Termin mit Kammenos am Montag Vormittag war der einzige, der vor Tsipras‘ Aufwartung bei Staatspräsident Papoulias angesetzt war, also vor dem offiziellen Auftrag zur Regierungsbildung. Die Parteiführung hat damit auf ein Prozedere verzichtet, das in Ländern, in denen Koalitionsregierungen zur politischen Kultur dazu gehören, völlig selbstverständlich ist: Die stärkste Partei führt Sondierungsgespräche mit allen denkbaren Partnern und entscheidet danach, welcher Koalition sie den Vorzug gibt.
- Kammenos hat schon vor seinem morgendlichen Gespräch mit Tsipras im Parlaments-Café verkündet, eine Koalition mit der Syriza sei bereits im Sack. Als ganz ungewöhnlich – und befremdlich – wurde in Athen verzeichnet, dass es Tsipras seinem Juniorpartner Kammenos überließ, den Vollzug zu melden. Denn der Anel-Chef durfte am Ende seines Gesprächs mit Tsipras im Syriza-Hauptquartier triumphierend verkünden, „dass es von diesem Augenblick an eine Regierung gibt“. Der Syriza-Vorsitzende trat dagegen nicht vor die wartenden Journalisten, was darauf hindeutet, dass er sich in Situation nicht ganz behaglich vorkam.
- Offenbar hat die Syriza es Kammenos überlassen, sich für ein Regierungsamt seiner Wahl zu entscheiden. Der Anel-Vorsitzende hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er sich das Verteidigungsressort wünscht und zutraut (mehr dazu weiter unten). Aber Tsipras hätte Kammenos diesen Wunschposten durchaus verwehren können. Damit hätte er sowohl die Ambitionen des Rechtspopulisten in die Schranken gewiesen, als auch einen möglichen Konfliktherd eingedämmt. Denn ein gestandener Nationalist wie Kammenos wird der Versuchung kaum widerstehen können, als Verteidigungsminister eine Art Neben-Außenpolitik zu betreiben.
Eine bezeichnende Episode
Ehe ich versuche, ein politisches Porträt von Kammenos zu zeichnen, muss eine Episode geschildert werden, die exemplarisch aufzeigt, welches Konfliktpotential die neue Athener Koalition enthält. Die gestrige Vereidigung des Kabinetts verzögerte sich um über eine Stunde, weil im letzten Moment eine Personalfrage „entschärft“ werden musste. In der Fraktionssitzung der Anel hatte Kammenos verkündet, welche Repräsentanten der Partei welche Regierungsposten bekommen würden. Unter den Namen war der von Nikos Nikopoulos (dem unbestätigten Berichten zufolge die Zuständigkeit für religiöse Angelegenheiten zufallen sollten). Nikopoulos ist ein christlicher Eiferer, der sich unter anderem den Kampf gegen die Einführung der „Schwulenehe“ auf die Fahne geschrieben hat. Berühmt wurde er mit einem Twitter-Eintrag, als er das Foto des schwulen luxemburgischen Ministerpräsidenten mit der Unterzeile versah: „Vom Europa der Vaterländer zum Europa der Schwuchteln!“ Der Name des homophoben Kandidaten, den Kammenos vorzeitig veröffentlicht hatte, führte blitzschnell zu einem Proteststurm in den „sozialen Medien“. Als die Berater von Tsipras ihren Chef darüber informierten, musste der die Reißleine ziehen. Tsipras forderte Kammenos auf, einen anderen Kandidaten zu benennen, was dann auch geschah.
Diese Episode zeigt zum einen, wie leichtfertig – aber auch dumm – Kammenos die Öffentlichkeit über angebliche Erfolge informiert, bevor die Brötchen gebacken sind. Sie zeigt aber auch, dass die Syriza-Führung die Wachsamkeit ihrer Gefolgschaft unterschätzt hat, die über die „unkeusche“ Koalition mit den Nationalisten von der Anel höchst beunruhigt ist. Und ich glaube zurecht, wenn man sich die Partei und die Person des Panos Kammenos genauer ansieht. Im folgenden stelle ich eine Reihe von Informationen zusammen, die in Griechenland allgemein bekannt sind (Kammenos kam auch in meinen Berichten häufiger vor, man findet diese Hinweise, wenn man im Suchkasten der NDS den Namen eingibt).
Panos Kammenos und seine “Unabhängigen Hellenen”
Der Verteidigungsminister der Syriza-Regierung ist in Griechenland seit jeher eine kontroverse Figur. Seine politische Karriere begann auf dem rechten christlich-patriotischen Flügel der Nea Dimokratia. 1993 wurde er, nur 28 Jahre alt, ins Parlament gewählt, dem er seitdem angehört. Danach gab er lange nur das enfant terrible, profilierte sich gar als Politclown und Krawallmacher. 2007 wurde er von Kostas Karamanlis erstmals in die Regierung berufen: zum Junior-Minister im Schifffahrtsministerium. Der Bruch mit der ND, der ihm einen gewissen Respekt einbrachte, kam mit dem Einschwenken seiner Partei auf die Troika-Politik. Im Frühjahr 2012 gründete Kammenos – zusammen mit zehn ND-Dissidenten der Fraktion – seine eigene Partei. Das politische start-up-Unternehmen namens Anel erreichte bei den Doppelwahlen im Mai und Juni 2012 auf Anhieb 10, 6 bzw. 7,5 der Wählerstimmen, womit sie mit 33, dann 20 Sitzen im Parlament vertreten war.
Programmatisch zielten die Unabhängigen Hellenen auf die Wähler, denen die Neonazis des Chrysi Avgi zu militant, zu ordinär und mit ihrem Nazi-Kult zu unpatriotisch sind, die aber – terminologisch ganz ähnlich wie die extreme Rechte – der ND und Samaras vorwerfen, mit ihrer „Memorandums-Politik das Vaterland verraten und an die quasi-Besatzungsmacht der Troika ausgeliefert zu haben. Darüber hinaus repräsentieren Kammenos und die Anel einige klassische Positionen und Ziele der Rechtsextremisten, wenn auch in weniger wüster Sprache und vor allem ohne physische Gewalt. Wobei Kammenos verbal manchmal ziemlich weit geht. So hat er etwa öffentlich dazu aufgefordert, jenen nordgriechischen Bürgermeister zu „lynchen“, der einem kanadischen Konzern die Lizenz für umweltzerstörende Goldförderung erteilt hatte.
Hier nun einige der programmatischen Forderungen der Anel, die politisch an entsprechende Positionen rechtspopulistischer Parteien (wie AfD oder den Front National) erinnern, zugleich aber ein sehr eigenes – sozusagen griechisch-orthodoxes – Aroma haben, das ohne die Geschichte des Rechtsradikalismus der Nachkriegszeit (einschließlich der Junta-Periode) nicht zu erfassen ist.
- Eine rigorose Abschiebungspolitik gegen Migranten und Flüchtlinge;
- Entschiedenen Widerstand gegen die Trennung von Kirche und Staat, um die „orthodoxe“ Identität der griechischen Nation zu wahren;
- Misstrauen gegen Angehörige anderer Religionen, insbesondere gegen die muslimisch-türkische Minderheit in Thrazien, aber auch gegen die griechischen Juden, verbunden mit demagogischen Sprüchen: Noch kürzlich behauptete Kammenos im Fernsehen, „die Juden“ müssten in Griechenland keine Steuern zahlen (wobei typisch ist, dass der Anel-Chef solche widerlegbaren Behauptungen niemals korrigiert!)
- Heftige Abwehrreflexe gegen andere Minderheiten und homophobe Tendenzen, die Kammenos persönlich mit dummdreisten Sprüchen über den früheren deutschen Außenminister dokumentierte.
- eine patriotisch-orthodoxe Außenpolitik, die auf Bündnisse mit Völkern gemeinsamen Glaubens wie Serbien und vor allem Russland setzt.
Was diese „christlich-orthodoxe Außenpolitik“ betrifft, so macht Kammenos allerdings eine Ausnahme, die für alle griechischen Chauvinisten typisch ist: Gegenüber den ebenfalls orthodoxen Slawomazedonieren vertritt er eine völlig unnachgiebige Position, indem er dem Nachbarstaat jegliches Recht auf einen Staatsnamen bestreitet, der das Wort „Mazedonien“ enthält. Mit einer solchen Position würde sich Griechenland in der EU wie in der ganzen Welt vollends total isolieren. Auf der anderen Seite entwickelt Kammenos weit ausgreifende weltpolitische Phantasien, die Griechenland seinen verdienten Platz im globalen Machtgefüge verschaffen sollen. Zum Beispiel fordert er, dass China die „neue Seidenstraße“ bis Griechenland ausbauen soll (was immer das heißt).
Und auch für das griechische Schuldenproblem sieht er die Lösung eher auf weltpolitischer Ebene. Im griechischen Parlament enthüllte er im Dezember 2014 folgende Idee: „Statt unser Öl und unser Erdgas durch unsere Gläubiger beschlagnahmen zu lassen, wie sie das vor haben, müssen wir heute mit Russland und den USA verhandeln, damit uns erlaubt ist, Staatspapiere aufzulegen, die gegen künftige Profite aus unseren Bodenschätzen verrechnet werden. Damit werden wir zu einer vollständigen Tilgung unserer Schuldenlast voranschreiten.“ Dass die sagenhaften griechischen Gas- und Ölvorkommen noch ihrer Entdeckung harren – von einer profitablen Ausbeutung ganz zu schweigen – ist für Kammenos Zukunftspläne eher unerheblich. Von Details und möglichen praktischen Hindernissen, die seinen grandiosen Ideen entgegen stehen, lässt sich ein patriotischer Generalist wie Kammenos nicht irritieren.
Was die europäische Politik betrifft, so bekennt sich Kammenos zum „Europa der Vaterländer“, das er als Gegenmodell zum Europa der Bankenherrschaft und des deutschen Neokolonialismus sieht. Nur in einem solchen Europa kann Griechenland seine Souveränität wahren und sich gegen alle realen und imaginären Feinde zur Wehr setzen. Deshalb sitzt der einzige „Unabhängige Hellene“, der die Anel im Europa-Parlament vertritt, auch in der Fraktion der EU-kritischen Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR), zusammen mit der polnischen PiS und der deutschen AfD. Wobei die Anel innerhalb der ERK auf dem äußersten rechten Flügel steht und deshalb beste Kontakte zu der EU-feindlichen britischen UKIP-Partei unterhält. Mit UKIP-Chef Farage sich Kammenos noch Anfang November letzten Jahres in London zu dem gemeinsamen Bekenntnis: “Europa muss seine Kultur und sein christliche Erbe schützen.“
Wie allerdings dieses Europa der Vaterländer mit der Solidarität vereinbar sein soll, die der ärmere Süden gegenüber dem reicheren Norden einfordert – zum Beispiel in Form eines Schuldenschnitts – verrät Kammenos den Griechen nicht. Und die Frage, wie weit es mit der Souveränität eines überschuldeten Landes her ist, das ohne europäische Solidarität den internationalen Finanzmärkten schutzlos ausgeliefert sein wird, eine solche stellt sich Kammenos gar nicht. Als Gegner jeder weiteren europäischen Integration stellt er sich automatisch gegen alle Entwicklungen in Richtung einer Union, die zum Beispiel eine einheitliche Steuerpolitik oder gemeinsame Eurobonds bringen könnte.
Für eine gemeinsame „europäische“ Steuerpolitik hat der Unternehmer-Spross Kammenos schon deshalb nichts übrig, weil er in wirtschaftspolitischer Hinsicht ein harter Neoliberaler ist. Er fordert, im Einklang mit der Nea Dimokratia eine massive Senkung der Unternehmens- und Gewinnsteuern, womit er Investoren auch aus dem Ausland anziehen will. Zum Beispiel ist er ein ausgesprochener Befürworter des chinesischen Engagements im Hafen von Piräus, das von der Syriza wegen der harten Lohnpolitik der Chinesen höchst umstritten ist.
Kammenos und seine Verschwörungen
Jenseits seiner ideologischen Positionen, die mit dem Ausdruck „Rechtspopulist“ eher verharmlost werden, hat Kammenos eine Schwäche, die ihn prinzipiell zu einem schwierigen Partner macht. Er setzt zu viele neue Ideen in die Welt, um deren Realitätsgehalt er sich anschließend nicht mehr viel kümmert. In England würde man ihn eine „loose canon“ nennen, also eine unberechenbare Figur. Auf ganz besondere Weise sich Kammenos auch als „Verschwörungstheoretiker“ profiliert, für den das Wort „Theoretiker“ allerdings zu hoch gegriffen ist, weil er sich schlicht zu häufig verspekuliert.
Kammenos begann seine politische Karriere mit einem Buch, das nachweisen sollte, dass die linksradikale Terrororganisation „17. November“ aus Kreisen der Pasok gesteuert wurde. Das Buch enthielt haarsträubenden Unsinn, der sich spätestens mit dem Prozess gegen Mitglieder des 17. November als solcher erwiesen hat. Eine Entschuldigung von Kammenos für die falschen Anschuldigungen erfolgte nie. Vielmehr hat er fälschlicherweise behauptet, er habe lediglich „Material” zusammengestellt – ohne allerdings zu sagen, woher ihm das Material zugespielt wurde. Kenner der Materie haben keine Zweifel, dass Kammenos sein Buch in enger Kooperation mit den griechischen Geheimdienstkreisen verfasst hat, die auf die Pasok und vor allem auf die Familie Papandreou angesetzt waren.
Auch nach dieser Jugendsünde (das Buch erschien 1993) blieb die Papandreou-Familie für Kammenos das bevorzugte Objekt seiner politischen Obsessionen. 2011 setzte er die „Theorie“ in die Welt, Andreas Papandreou, der jüngere Bruder Andres des damaligen Pasok-Regierungschefs, habe persönlich von einem staatlichen „Creditswap“-Geschäft profitiert und die Gewinne auf einem Schweizer Konto gebunkert. Andreas Papandreou klagte gegen diese Diffamierung, die sich als völlig haltlos erwies. Das Gericht verurteilte Kammenos zur Zahlung von 30 000 Euro.
Der Ertappte zahlte, reagierte aber auf eine Weise, die für versierte Verschwörungsspekulanten typisch ist: Statt sich für seinen Irrtum zu entschuldigen, setzte er die nächste Verschwörungsvariante in die Welt: Regierungschef Giorgos Papandreou habe ihm die falschen Informationen bewusst zugespielt, um ihm eine Falle zu stellen. Selbst wenn diese ebenso so abenteuerliche wie unbeweisbare Behauptung stimmen sollte, müsste er sich natürlich fragen, woran es liegt, dass er in diese Falle tappen konnte. Aber solche Fragen sind einem Mann wie Kammenos wesensfremd.
Eine feindliche Falle behauptete der Verteidigungsminister der Regierung Tsipras auch in einem für Kammenos sehr peinlichen Vorfall, der aus heutiger Sicht weitaus gravierender ist. Es handelt sich um einen nicht unterzeichneten Brief (in der griechischen Presse damals non-paper“ genannt), den Kammenos an Staatspräsident Papoulias geschrieben haben soll. Der Brief enthielt den Vorschlag, die Anel könne der kurz zuvor gebildeten Regierung Samaras beitreten, wenn man Kammenos den Posten des Verteidigungsministers anbieten würde.
In der Anel-Fraktion führte dieses „non-paper“ zu einem kleinen Aufstand gegen Kammenos, weil die Partei ihren Wahlkampf mit der Parole bestritten hatte, man werde niemals in eine „Regierung der Troika“ eintreten. Kammenos wusste sich nicht anders zu helfen, als zu behaupten, das non-paper sei eine Fälschung. Das war nicht nur eine dreiste Ausrede, sondern ein unerhörter indirekter Angriff auf Präsident Papoulias, dem er damit die Mitwirkung an einer „Verschwörung“ unterstellte. Papoulias reagierte mit der Erklärung, das Papier sei authentisch. Als daraufhin ein Anel-Abgeordneter den Rücktritt von Kammenos forderte, wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Die Klage auf Verleumdung, die der Anel-Vorsitzende damals gegen den Dissidenten ankündigte, ist bis heute bei keinem griechischen Gericht eingetroffen. Deshalb zweifelt kaum jemand daran, dass Kammenos damals bereit war, die Grundpositionen seiner Partei für den Posten des Verteidigungsministers in einer „Regierung der Verräter“ einzutauschen.
Diese Episode zeigt nicht nur, dass Kammenos nicht geneigt ist, Fehler einzugestehen und auf ehrliche Weise zu korrigieren. Sie zeigt vor allem, auf welchen Regierungsbereich der Ehrgeiz des „patriotischen“ Anel-Vorsitzenden schon immer gerichtet war. Könnte dies damit zu tun haben, dass Kammenos in früheren Jahren für die französische Rüstungslobby tätig war. Das ist pure Spekulation, auf dem Niveau von Kammenos eigenen Verschwörungsphantasien. Mit Sicherheit wird der neue Minister sein Amt im griechischen „Pentagon“ mit „sauberen Händen“ praktizieren; und um jedes Gerücht im Keim zu ersticken, hat Tsipras darauf bestanden, dass für den Bereich der „Rüstungsbeschaffung“ ein eigener Unterminister zuständig ist, den die Syriza nominiert hat.
Dennoch stellt sich die Frage, warum die Syriza bereit war, einem ausgewiesenen Rechtsnationalisten wie Kammenos das überaus wichtige Amt des Verteidigungsministers zu überlassen. Die schlichteste Antwort würde lauten: Wenn man sich mit der Anel einlässt, muss man dem Koalitionspartner zugestehen, sich den einzigen Ministerposten, den man ihm anbietet, auch selbst auszusuchen. Aber diese Antwort kann nicht ganz überzeugen. Auf keinen Fall hätte die Syriza etwa den Posten des Finanz- oder des Wirtschaftsministers einem „Unabhängigen Griechen“ überlassen. Und der eingangs geschilderte Fall des Anel-Kandidaten Nikolopoulos zeigt, dass die Syriza es sich leisten kann, die Anel auch in Personalfragen in die Schranken zu weisen.
Unterschiedliche Anworten auf eine wichtige Frage
Ich habe die Frage, warum die Syriza mit der Anel und nicht mit der Partei „To Potami“ koaliert, mehreren Freunden und Kollegen vorgelegt. Dabei fragte ich nach der plausibelsten rationalen und der besten irrationalen Erklärung. Die Antworten sind unterschiedlich, ergänzen sich aber in gewisser Weise. In der Regel spiegeln sie eine ironische bis resignierte Distanz, versuchen aber doch eine realistische Erklärung zu bieten. Sie enthalten auch einen Gutteil begründeter Spekulation, aber mehr ist im Moment nicht zu kriegen.
Es gibt allerdings ein hartes Faktum, das den Antworten zugrunde liegt: Es gibt offenbar eine Art „Koalitionsvertrag“ zwischen Tsipras und Kammenos, über den die Kathimerini vom 26. Januar unter Berufung auf „Quellen der Unabhängigen Griechen“ berichtet hat. Demnach habe die Anel zugestimmt, das Wirtschaftsprogramm der Syriza mitzutragen, das Tsipras im September 2014 in Thessaloniki verkündet hatte. Dafür habe der neue Regierungschef zugesagt, „nicht mit Änderungen auf Gebieten vorzupreschen, bei denen die Kammenos-Partei Einwände hat“. Diese Zusage beziehe sich vor allem auf außenpolitische Themen wie einem Abkommen mit Mazedonien (also der FYROM, wie sie offiziell heißt) über einen zusammengesetzten Namen, mit dem Kammenos nicht einverstanden ist (in Gespräch ist ein Name wie Ober-Mazedonien, der für griechische Nationalisten schon einen Verrat darstellt). Zudem habe Syriza zugstanden, keinerlei Pläne für die Trennung von Kirche und Staat voranzutreiben.
In diesem Bericht, der sehr plausibel klingt, wird ein höchst knapper Koalitionsvertrag beschrieben, der eher einem Nichtangriffspakt ähnelt. Dieser Charakterisierung entspricht auch die Einschätzung, die aus den meisten der jetzt darstellten Antworten herauszufiltern ist. Denn alle Befragten sehen in der Koalition Syriza-Anel nur eine taktische Konstellation und kein strategisches Bündnis. Und sie stellen den äußeren Zwang in Rechnung, dass die Syriza sehr schnell eine Regierung bilden musste, schon um nach außen zu signalisieren, dass es nicht zu einer zweiten Parlamentswahl kommen wird.
Antwort 1: Für die Syriza hat die Frage der Schuldenregelung absolute Priorität. Eine Lösung muss innerhalb weniger Monate (spätestens bis Juli) gefunden werden, dem allein dient das Bündnis mit Kammenos, mit dem einzig in dieser Frage eine Art Einigung besteht. Die Syriza kalkuliere für diese Koalition maximal ein Jahr; danach werde man sehen, wie es um andere Koalitionsmöglichkeiten steht – oder vielleicht Neuwahlen anstreben. Die Kammenos-Partei sei in dieser zentralen Frage einfach berechenbarer und einfacher zu behandeln. Mit Potami hätte man vielleicht komplizierte Verhandlungen führen müssen, für die auch die von der Verfassung vorgesehenen drei Tage kaum ausgereicht hätten. Fazit: Man wollte unbedingt ganz schnell eine Regierung bilden, was nur mit Kammenos möglich war.
Antwort 2: In den Verhandlungen mit der EU und dem IWF braucht die Syriza eine möglichst geschlossene Front. Man glaubt, maximale Forderungen stellen zu müssen, um einen möglichst günstigen Deal herauszuschlagen (was die Bedingungen einer Schuldenreduktion betrifft). Mit der Potami-Partei und deren Vorsitzenden Theodorakis hätte man sich darauf einlassen müssen, schon in den Koalitionsverhandlungen die eigene Position zu „verwässern“. Diese Gefahr besteht bei Kammenos nicht, der eher noch härtere Forderungen als die Syriza-Ökonomen vertritt.
Antwort 3: Was die Innenpolitik betrifft, so bereitet sich die Syriza auf einen großen Konflikt mit den „Oligarchen“ vor, denen man vor allem ihre Machtpositionen in den Medien bestreiten will. Dazu muss man wissen, dass die großen Fernsehsender fast alle hoch verschuldet sind, und dass die Regierung Samaras in einem ihrer letzten Gesetze den privaten TV-Sendern erneut ein großes Geschenk gemacht hat, das sie vor dem Bankrott bewahren soll (sie müssen für ein weiteres Jahr die Mehrwertsteuern nicht abführen, die sie von ihren Werbekunden kassieren). Das Problem mit Theodorakis wäre gewesen, dass viele Linke diesen als „Produkt“ eben dieser privaten Medien sehen. In der Tat war der Potami-Chef im Wahlkampf der Darling von Sendern, die ihn als Alternative zur Pasok aufbauen wollten. Man konnte sich also nicht sicher sein, wie Theodorakis sich bei einem Konflikt mit den „Medien-Oligarchen“ verhalten würde.
Antwort 4: Das Hauptziel von Tsipras sei, die Troika so hart wie möglich zu bedrängen, um zumindestens einen Teil seiner Forderungen durchzubringen. Dies glaubt er nur mit eine Partner tun zu können, der nicht schon vor vornherein sagt, dass er „nur“ einen Kompromiss will. Bei Potami hätte er seine Forderungen schon reduzieren müssen, ehe er überhaupt in Brüssel, Frankurt und Berlin antritt. Bei Kammenos kann er sich sicher sein: Wenn der das Verteidigungsministerium kriegt, was sein ganzer Ehrgeiz ist, hat er sein Spielzeug und wird sich nicht in die Syriza-Verhandlungsstrategie einmischen.
Im Übrigen sei der Syriza eine „rechte Präsenz“ in der Regierung durchaus willkommen, um Polizei und Armee einigermaßen still zu stellen. Und dass Tsipras auf die Syriza-Pläne zur Trennung von Staat und Kirche oder zur Schwulenehe verzichtet, wird ihm gar nicht unlieb sein, da diese Forderungen nach wie vor noch nicht mehrheitsfähig seien. Diese Themen sind eher „heiße Eisen“, die man jetzt erst mal abkühlen lassen will. Der Preis, den man Kammenos zahlen muss, sei also durchaus annehmbar.
Antwort 5: Die Anel ist eine Partei im Abstieg (von 10, 6 Prozent im Mai 2012 auf nur noch 4,8 Prozent bei diesen Wahlen). Sie ist also keine ernstzunehmende Konkurrenz, im Gegensatz zu To Potami, die eine neue Kraft mit noch unerforschtem Potential ist. In einer Koalition mit Potami hätte man ständig mit Profilierungs-Rivalitäten rechnen müssen, zumal deren medienerfahrener Chef Stavros Theodorakis ebenfalls eine gewisse Ausstrahlung auf ein größeres Publikum hat.
Antwort 6: Tsipras und andere Syriza-Leute haben dieselbe falsche Idee wie Kammenos: dass Griechenland das Zentrum der Welt sei, und dass man erreichen kann, was man will, wenn man nur laut genug danach schreit. Tsipras ist Produkt eines linken Systems, das bis jetzt nur Forderungen aufgestellt hat, ohne die Konfronation mit der Realität zu riskieren. Kammenos dagegen ist der Sohn eines reichen Unternehmers, der ihn in die Politik geschickt hat, und der dann schnell merkte, dass man mit Populismus eine Karriere machen kann. Beide haben also noch nicht die Erfahrung gemacht, dass es in der realen Welt immer um Kompromisse geht. Im Übrigen bestehen ähnliche Illusionen in allen griechischen Parteien, also auch bei Potami, Pasok und Nea Dimokratia.
Soweit meine kleine Meinungsumfrage. Eine Interpretation sollte sich jeder Leser zumuten. Ich sehe aber einen großen gemeinsamen Nenner: Es handelt sich um ein rein taktisches Bündnis mit dem Ziel, einen möglichst günstigen Kompromiss in den Verhandlungen um die „griechische Rettung“ herauszuholen. Die Frage stellt sich allerdings, ob man das mit einem Verbündeten erreichen kann, der die Verhandlungspartner als „Besatzungsmacht“ beschimpft.
Ich würde das bezweifeln. Aber das ist natürlich ein sehr vorläufiger Befund.