Wie man öffentlich über „Inklusion“ spricht (und was man daraus schließen kann)
Die medienöffentliche Debatte über Inklusion ist nach zaghaften Anfängen in den vergangenen Jahren jetzt wirklich in Gang gekommen. Sie hat die Grenzen der so genannten Qualitätspresse überschritten und Stern und BILD ebenso erreicht wie die Talkshows. Das liegt daran, dass die Sache aus der Sphäre wohlmeinender Absichtserklärungen nunmehr heraustritt und auf die nüchternen Realitäten des öffentlichen Schulwesens trifft. Verstehen wird diese Debatte nur, wer sie als Symptom und Indikator, aber auch als einen zentralen Faktor des Bildungsdiskurses nimmt. Das öffentliche Reden über Bildung und Bildungschancen – so meine These – ist ein Stellvertreterdiskurs. Wo mit Emphase über Bildung, Bildungschancen und „bildungsferne“ Schichten gesprochen wird, da geht es im Kern um etwas anderes: um soziale Gerechtigkeit. Obwohl Bildungsabschlüsse und gesellschaftlich-ökonomische Positionen de facto nur (noch) wenig miteinander zu tun haben, steht Bildung symbolisch für den Teil der gesellschaftlichen Position eines Individuums, für den man (eben durch Bildungsanstrengungen) selbst verantwortlich ist bzw. gemacht werden kann. Die deutschen Mittelschichten, denen Soziologen wie Heinz Bude (2011) eine ausgeprägte „Statuspanik“ bescheinigen, versuchen (oft als eine Art Bildungsmanager ihrer Kinder), den eigenen Statuszugewinn per Bildungsanstrengung präventiv an ihre Kinder weiterzugeben. Dieses Motiv treibt Inklusionsbefürworter wie Inklusionsgegner, die einen öffentlich und die anderen heimlich. Von Clemens Knobloch.
- Öffentliche Moralisierung, staatlich Sparpolitik und private Interessenpolitik
Wer über Bildung zu sprechen glaubt der spricht tatsächlich, ob er will oder nicht, über die Risiken des sozialen Abstiegs und über die Chancen des sozialen Aufstiegs. Im öffentlichen Reden über „Bildung“ sind Drohung und Verheißung immer trefflich abgemischt. Das wird erst richtig in den Bildungsgeschichten deutlich, in denen die offizielle Verheißung zugleich die subkutane (und öffentlich nicht artikulationsfähige) Drohung ist. Hier wäre z.B. an die moralisch unanfechtbare Forderung nach „Inklusion“ zu denken. Deren harter Kern ist die Zerschlagung der bisherigen Sonderschulen und die Eingliederung von lerngestörten und förderbedürftigen Kindern in die Regelklassen und Regelschulen. Neben den nicht-muttersprachlichen Migrantenkindern werden künftig in großer Zahl auch lernbehinderte Kinder im Regelbetrieb der öffentlichen Schulen auftreten.[1] Und zwar Kinder mit allen Arten von Lernbehinderung, von Blinden und Gehörlosen über Autisten, ADHS-Kinder bis hin zu psychisch und sozial auffälligen Kindern. Wie die ohnehin statuspanische Mitte auf diese neue Herausforderung reagieren wird, mag man sich gar nicht vorstellen. Jedenfalls werden die Motive, um die es dabei geht, jenseits der öffentlichen Sagbarkeitsgrenze liegen. Keiner kann sagen: „Ich nehme meine Kinder aus der (öffentlichen) Schule, weil der Lehrer/die Lehrerin sich jetzt auch noch um die Behinderten kümmern muss.“ Jeder kann es aber tun und die Gründe für sich behalten, weil er nach außen nicht unkorrekt oder minderheitenfeindlich wirken möchte. Die stille Logik der Sache wird gewiss dafür sorgen, dass sich ehrgeizige Bildungsprivatisierer am Ende die Hände reiben. Diskurse etablieren Sagbarkeitsgrenzen, und wer sich öffentlich gegen die Inklusion Behinderter in das allgemeine Schulsystem ausspricht, der kann in einer so hochgradig moralisierten Angelegenheit leicht in die böse Ecke gestellt werden. Handeln wird er jedoch nicht nach den moralischen Maximen der Inklusionslyrik, sondern so, wie es seinen artikulierbaren Interessen entspricht: nur das Beste für die eigenen Kinder.
- Die unmittelbar politische Dimension der Inklusion
Unmittelbar politisch betrachtet wirkt Inklusion als moralischer Schallverstärker für die ehrgeizigen Wünsche der Eltern behinderter und förderbedürftiger Kinder nach Gleichstellung im Bildungssystem. Entartikuliert werden dagegen die (zweifellos vorhandenen) Ängste der nicht minder ehrgeizigen bildungspanischen Mittelschichteltern mit ihren „normalen“ Kindern. Die nämlich werden die Anwesenheit förderbedürftiger Kinder in der Klasse als Abzug an den Bildungschancen der eigenen „normalen“ Kinder erleben, aber das natürlich nicht laut sagen können.
In der neoliberalen Bildungsideologie ist das (kostenfreie) öffentliche Schulwesen als staatliche Restinstitution für diejenigen vorgesehen, die sich private Bildungseinrichtungen nicht leisten können. Der Staat hat sich nur um die zu kümmern, die nicht am Markt teilnehmen können. Viel zitiert wird in diesem Zusammenhang der OECD-Policy Brief Nr. 13 aus dem Jahr 1996, eine wahre Fundgrube nützlicher Ratschläge für Staatsakteure, die das öffentliche Bildungswesen gesund- oder besser kranksparen wollen, ohne dafür politische Rechnungen serviert zu bekommen (mehr dazu in Knobloch 2012: 115-118). Geraten wird da u.a. zum schrittweisen Absenken der angebotenen Schul- und Bildungsqualität im öffentlichen Bereich. Und wenn die auch noch politisch korrekt und moralisch geboten ist wie im Falle der Inklusion, kann man das getrost als das Ei des Kolumbus bezeichnen. Wer 4-6 Kinder mit individuell ausdifferenziertem Förderbedarf in der Klasse hat, der muss die Standards senken. Die Inklusion passt trefflich in die Dramaturgie der Bildungsprivatisierung. Sie wird tendenziell die „marktfähigen“ Schichten aus dem öffentlichen Schulwesen heraus manövrieren. Obwohl sie uns als hoch moralische Staatsaktion entgegentritt, fördert die Inklusion de facto allein das kühle Kalkül der Bildungsprivatisierer. Deren Ressource sind die wachsenden Zweifel des Publikums am allgemeinen und öffentlichen Schulwesen.
- Bologna als Modell – die UN-Behindertenrechtskonvention als internationale Rückendeckung
Kein Zeitungsartikel über Inklusion, der uns den Hinweis vorenthält, es sei die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006, welche die Bundesregierung 2009 unterschrieben habe, und sie beinhalte die nunmehr von den Ländern umgesetzte Selbstverpflichtung auf ein inklusives Schulwesen. Es ist ein bildungspolitisch bewährtes Rezept, sich hinter den Auflagen internationaler Organisationen zu verstecken, wenn man nationale Interessenpolitik betreiben möchte. Der so genannte Bolognaprozess hat zur großen Überraschung der Experten (vgl. Niemann 2009) sinnfällig vorgeführt, dass ein traditionsreiches und in der Nationalgeschichte stark verankertes System der Universitätsausbildung beinahe widerstandslos gekippt werden konnte unter Berufung auf eine völlig unverbindliche Absichtserklärung einiger EU-Staatssekretäre. Da es unter den halbwegs Gebildeten zum guten Ton gehört, nationale „Sonderwege“ zu vermeiden und Anti-EU-Haltungen als rechtspopulistisch gelten, ist kaum jemand öffentlich gegen den hochschulpolitischen Putsch aufgetreten, der als „Bolognaprozess“ bekannt geworden ist. Die Inklusion legt da noch einmal nach und gibt sich nicht bloß ein internationales Legitimitationskorsett, sie trägt „über“ diesem Korsett noch ein menschenrechtliches Antidiskriminierungskleid. Wer dagegen auftritt, der stellt sich nicht allein gegen die moralische Autorität der internationalen Gemeinschaft, er riskiert auch den Vorwurf, die Ausschließung Behinderter zu betreiben.
Als Sprachwissenschaftler ziehe ich natürlich den Hut und bewundere die Chuzpe, mit der ein institutionell ausdifferenziertes System von Fördereinrichtungen für Lernbehinderte mit einem Federstrich als Diskriminierung Lernbehinderter umdefiniert und abgeschafft werden kann. Das ist eine Politik, der man Orwell´sche Qualitäten nicht absprechen kann. Aber wir haben ja auch geschluckt, als wir zum ersten Mal hören und lesen mussten, dass Krankenhäuser Gewinn machen sollten und der Staat seine Armen durch Sozialhilfe entmündigt und ihrer Eigeninitiative beraubt.
In NRW sprechen die Tatsachen zur Inklusion eine ziemlich deutliche Sprache: Das Recht der Eltern, selbst zu entscheiden, ob ihre Kinder mit Förderbedarf auch eine spezielle Fördereinrichtung oder aber die allgemeine Schule besuchen, ist temporär und auf Selbstaufhebung ausgelegt. Da Fördereinrichtungen sofort geschlossen werden, wenn sie unter eine Mindestauslastung sinken, wird faktisch die Wahlfreiheit, die heute den Köder bildet, bereits morgen nicht mehr existieren, weil auch die speziellen Fördereinrichtungen nicht mehr existieren.
Dazu noch eine Randbemerkung. Wo es um die Zerstörung des allgemeinen öffentlichen Schulwesens geht, ist die Bertelsmann Stiftung nicht weit. Die hat im Jahr 2013 den renommierten Bildungsforscher Klaus Klemm mit einer Studie über den Stand der Inklusion in Deutschland beauftragt. Im Vorwort, das die Stiftung dieser Studie beigegeben hat, lesen wir ganz ausdrücklich, was Sache ist bei dem Unternehmen Inklusion. Die „Exklusionsquote“, so lesen wir – sprich: die Zahl der förderbedürftigen Kinder, die nach wie vor an Förderschulen unterrichtet wird! – sei trotz Inklusionsbemühungen in den vergangenen vier Jahren lediglich von 4,9 auf 4,8% gesunken, also ganz unerheblich. Und das obwohl die Zahl der inklusiv unterrichteten Schüler gleichzeitig angestiegen sei. Die Bertelsmänner resümieren:
So hat das Doppelsystem aus Regelschulen einerseits und Förderschulen andererseits unverändert Bestand. Solange dieses Doppelsystem jedoch im heutigen Umfang weiterhin besteht, ist erfolgreiche Inklusion schwierig. Denn die Förderschulen binden jene Ressourcen, die dringend für den gemeinsamen Unterricht benötigt werden. (Klemm 2013: Vorwort)
Was weg soll, das sind die spezialisierten und professionellen Fördereinrichtungen. Da lässt Bertelsmann keinen Zweifel.
- Blütenlese I: Gymnasium mit Down-Syndrom
Seit die Massenmedien die Inklusion als Thema für sich entdeckt haben, gibt es täglich Wunsch- und Angstgeschichten. Meistens ist eine Geschichte beides. Viel Wind macht gegenwärtig (Februar 2014) der „Fall“ eines Elfjährigen mit Downsyndrom, der nach dem Willen der Eltern im Herbst 2014 ein Gymnasium in Baden-Württemberg besuchen soll. Lehrerkonferenz und Schulkonferenz haben es abgelehnt, das Kind aufzunehmen. Der Landesschülerbeirat hat sich für eine Aufnahme erklärt, das Kind soll seine „in der Grundschulzeit gewachsenen Freundschaften am Gymnasium fortführen können“ (Soldt 2014). Das dortige Kultusministerium hält sich bedeckt, es begreift, dass es politisch nur verlieren kann, wie auch immer es entscheidet. Das Kind, das kaum lesen und schreiben kann, wird dem „normalen“ Gymnasialunterricht keinesfalls folgen können, es muss „beschäftigt“ werden.
Wer die von PISA erhitzten Debatten um Gymnasialleistungen im Ländervergleich noch im Ohr hat, der reibt sich verblüfft die Augen. Und die Gymnasiallehrer, die man noch gestern darauf verpflichten wollte, auch die letzten „Kompetenzen“ aus ihren Schülern herauszukitzeln, werden einigermaßen verwundert sein, dass Kinder jetzt ans Gymnasium kommen sollen, um ihre Grundschulfreundschaften weiter pflegen zu können. Denkt jemand darüber nach, welche Folgen ein solches Wechselbad von Leistungs- und Moralansprüchen für die motivationalen Zustände des Lehrerkollegiums haben? Oder glaubt jemand, dass einer gemeinsamen Optimierung von Leistung und Gutmenschenmoral wirklich nichts im Wege stehe? Paradoxe Anforderungen an die Berufsgruppe der Lehrer sind freilich ein bewährtes Herrschaftsmittel.
Und damit die Sonderschulen moralisch einwandfrei entsorgt werden können, müssen sie zunächst von den Staatsakteuren, die für ihren Zustand politisch verantwortlich sind, medienöffentlich schlecht geredet werden. Ein auffälliges (und rhetorisch ungeschicktes) Übersoll hat in dieser Angelegenheit die (ehemalige) Wissenschaftsministerin von Schleswig Holstein, Waltraud Wende abgeliefert. Wie die FAZ (am 12. April 2014) berichtete, sprach sie von den Sonderschulen ihres Landes als „Einrichtungen mit kränkenden, belastenden, beschämenden, erniedrigenden Wirkungen, mit Stigmatisierungen“, was ihr einen Missbilligungsantrag der CDU eintrug. Sie hat sich dann doch lieber entschuldigt, aber die Nachricht ist klar und deutlich: Professionelle Sonderschulen sind schädlich für förderbedürftige Kinder, die allgemeine Schule macht frei. Und was die Lehrkräfte an den Sonderschulen tun, ist moralisch fragwürdig, weil eben: Exklusion.
- Blütenlese II: Die feine Dialektik der Elternwahlfreiheit
Kein Zweifel: Für das Ego von Eltern, die ihren Kindern gute Lebenschancen und auskömmliche Berufe wünschen, ist es in hohem Maße stigmatisierend, wenn ihre Kinder das allgemeine Schulwesen verlassen und spezielle Förderschulen besuchen müssen. Schon die Hauptschule, ehedem Regeleinrichtung, scheint über dem Eingang den Imperativ „Lasst alle Hoffnung fahren!“ zu tragen. Der Besuch spezieller Förderschulen (früher hießen sie Hilfsschulen) dokumentiert unmissverständlich: Die Schullaufbahn des eigenen Kindes hat den „Normalbereich“ verlassen. Nun wissen wir, dass in einer normalistisch integrierten Gesellschaft (Link 2006) die Individuen und Familien von Denormalisierungsängsten geplagt und von Selbstnormalisierungsimperativen umstellt und getrieben werden. Hier setzt das Inklusionsversprechen mit seinen Lockungen an. Unser Kind, das suggeriert die Inklusion, kann eine allgemeine Schule besuchen, und damit nimmt es den Makel des Nichtnormalen sowohl von den Schultern der Eltern als auch von der beruflichen und sozialen Zukunft des Kindes. Alles scheint ganz einfach zu sein: Man meldet sein Kind an der allgemeinen Schule an, es wird zweifellos profitieren vom gemeinsamen Lernen mit den „Normalen“, und mit der Stigmatisierung von Eltern und Kindern hat es ein Ende. Nicht zufällig ist es Politik vieler Inklusionsschulen in NRW (ich vermute: auch anderswo), den Eltern nicht mitzuteilen, wie viele Kinder mit Förderbedarf eine Regelklasse besuchen. Die gute Absicht ist, Etikettierungen zu vermeiden – aber „gut gemeint“ ist, wie wir längst wissen, das Gegenteil von „gut“. Als ob es möglich wäre, Autisten, Rollstuhlfahrer und psychisch Auffällig einfach in einer Klasse zu verstecken! Und für die bildungspanischen Normaleltern lautet die Nachricht: Hinter jedem leistungsmäßig suboptimalen Kind lauert ein Inklusionsfall – und somit das Risiko unzureichender Förderung der eigenen Kinder.
Bester Orwell ist in diesem Zusammenhang die Formel von der „zieldifferenten Inklusion“. Sie besagt, dass ein Kind, das die allgemeine Schule besucht, deren Leistungsziele keinesfalls erreichen wird. Merkwürdig genug, dass der Besuch einer mit Experten ausgestatteten Förderschule diskriminieren soll, die „zieldifferente Inklusion“, bei der die Chancenlosigkeit dem Förderkind von vornherein bescheinigt wird, aber nicht.
Keinen Augenblick darf man bei der Inklusionsdebatte vergessen, dass zwar ausschließlich über die Kinder und ihre Recht gesprochen wird. Die tatsächlichen Akteure, deren Motive im Geschehen eine Rolle spielen, sind hingegen ausschließlich die Eltern. Sie treffen die Entscheidung, ob ihre Kinder die Förderschule oder die Regelschule besuchen. Und da das öffentliche Schulsystem als eine hierarchische Stufenfolge von Institutionen wahrgenommen wird, die Lebenschancen zuteilen – eine Stufenfolge, bei der die Förderschulen ganz unten, noch unter den Hauptschulen stehen, von Gesamt-, Realschulen und Gymnasien nach oben gefolgt – ist es aus Elternperspektive scheinrational, die eigenen Kinder möglichst hoch in dieser Hierarchie unterzubringen. Das Können und das Wohl der Kinder treten diesem Motiv gegenüber leicht in den Hintergrund. Es ist auch kein Zufall, dass die Inklusion in erster Linie den Schultypen abverlangt wird, die ohnehin schon teilstigmatisierend wirken. Die Gymnasien verweisen (mit Recht) ganz überwiegend darauf, dass es wenig Sinn macht, Kinder aufzunehmen, die definitiv kein Abitur machen können.
Der diskursive Kick besteht darin, dass die vermeintliche Entstigmatisierung von Kindern mit speziellem Förderbedarf, welche die Inklusion auf ihre Fahnen geschrieben hat, die ohnehin schon mit sozialer Exklusionsdrohung infizierten Schulformen für das „normale“ Publikum weiter entwerten und bedrohlich erscheinen lassen wird.
- Blütenlese III: Institutionelle Folgen: Der Wettbewerb der Schulen um die „besten“ Behinderten.
Spricht man mit Praktikern aus der Schule, so wird einem rasch klar, dass auf der Hinterbühne des hoch moralischen Inklusionstheaters ein ganz anderes (und viel pragmatischeres) Stück gespielt wird. In praxi wird nämlich für die Schulen alles davon abhängigen, wer wie viele Förderkinder welcher Provenienz zugeteilt bekommt. Der frohe und fromme (und gegenüber den Lehrern mächtig zynische) Spruch, Vielfalt müsse man gefälligst als Chance nehmen, wirkt da einigermaßen einfältig. Sozial und psychisch auffällige Kinder, deren jedes einen normalen Unterricht nachhaltig zum Entgleisen bringen kann, werden alle mit spitzen Fingern anfassen. Um Blinde und Körperbehinderte mit „normalen“ kognitiven Leistungen wird man sich hingegen reißen. Die Restgruppen liegen irgendwo dazwischen. Als ob die NRW-Landesregierung einen solchermaßen pragmatischen Umgang mit der „Vielfalt“ der Förderbedürftigen auch noch fördern wollte, hat sie die Schlüssel festgelegt, nach denen die Normal- und Regelschulen Förderlehrerstellen zugewiesen bekommen. Da geht es nämlich (sehr im Kontrast zur öffentlichen Inklusionslyrik) mächtig rechenhaft zu, und zwar antizyklisch. Ich zitiere aus einem Artikel der Kölner Stadtrevue (4/2014):
Um eine volle Sonderpädagogenstelle zu erhalten, muss eine Klasse sechs Schüler mit einer körperlichen Behinderung aufnehmen. Geht es um sehbehinderte Kinder, erhöht sich diese Zahl auf acht. Bei Kindern mit Lern- und Entwicklungsstörungen allerdings wird die Anzahl der Stellen budgetiert und den Schulen pauschal und nicht mehr pro Förderkind zugewiesen. (Steigels & Werthschulte 2014)
Dieses wundersame Zahlenwerk, darüber sind sich die Praktiker einig, wird die Konkurrenz um die „besten“ Schüler mit Förderbedarf zugleich anheizen und mit den nötigen Paradoxien versorgen. Im Probebetrieb, so darf man getrost vermuten, sind die Verhältnisse noch großzügiger als im späteren Regelbetrieb. Und da, so berichten Steigels & Werthschulte (2014), ist es bereits so, dass die wenigen Förderschullehrer an den Regelschulen nicht nur zwischen den Klassen, sondern auch zwischen verschiedenen Schulen springen müssen, was natürlich einer individuellen Betreuung förderbedürftiger Kinder nicht gerade Vorschub leistet. In der inklusiven Grundschule, von der die Autoren berichten, gibt es eine Förderschulkollegin mit 18 Wochenstunden, die für zwei Klassen und darüber hinaus für die Inklusionsberatung zuständig ist. In jeder Sonderschule haben die förderbedürftigen Schüler ständig gut ausgebildete Lehrkräfte, die sich um sie kümmern, aber da werden sie ja leider diskriminiert. Und das ist offenbar nicht der Fall, wenn sie in der Regelklasse von den Lehrkräften versorgt werden, die von ihrer speziellen Behinderung nicht die Spur einer Ahnung und zudem noch die Verantwortung für 25 reguläre Schüler haben.
Wer die beliebte medienöffentliche Übung des Lehrer-bashing kennt (Sie wissen, Lehrer, das sind die faulen Säcke, die schon mittags nach Hause gehen und 12 Wochen Ferien im Jahr haben), der wird sich auch nicht darüber wundern, wie die Bildungspolitiker auf die Mitteilung des „Nationalen Bildungsberichtes“ 2014 reagieren, wonach es auf allen Ebenen des öffentlichen Bildungssystems (vom Kindergarten bis zum Gymnasium) an hinreichend qualifizierten Kräften für die Inklusion fehlt: mit dem dezenten Hinweis, die Lehrkräfte müssten eben vorbereitet werden auf die schöne neue Inklusionswelt. O-Ton Wanka (CDU): „Wichtig ist, alle pädagogisch Tätigen durch Aus- und Weiterbildung auf die große Aufgabe inklusiver Bildung vorzubereiten. Wir werden deshalb die Forschung und Qualifizierung in diesem Bereich vorantreiben“ (FAZ vom 14./15.6.2014) O-Ton Löhrmann: „In Zukunft wird es darum gehen, Qualifizierungen für das Personal in den Bildungseinrichtungen zu verstärken“. Beide Äußerungen enthalten das Eingeständnis, dass die Schulen völlig unvorbereitet in die Inklusion hineinstolpern. Wird schon irgendwie klappen! Dazu passt, was man von Schulpraktikern hören kann: Wer das Wort buchstabieren kann und im Studium einen Kurs zum Thema gehört hat, der gilt als Experte und wird an seiner Schule nolens volens zum Inklusionsbeauftragten ernannt. So sieht die Endmoräne einer professionellen Sonderpädagogik im schönen neuen inklusiven Schulwesen aus.
- Blütenlese IV: Die schulische „Umsetzung“
So hoch gestimmt der moralische Ton bei der Inklusion klingt, so leichtfertig und unverantwortlich ist die Praxis ihrer schulischen Implementierung. Auch das passt zum Ersatzdiskurs Bildung: Alle tun bei geöffnetem Mikrofon übereinstimmend so, als ob es auf dieser Welt keinen wichtigeren Garanten des gesellschaftlichen Erfolgs gebe als die eigenen Bildungsanstrengungen. Tatsächlich herrscht im öffentlichen Bildungswesen seit Jahrzehnten das Rotstiftmilieu und die öffentlichen Ausgaben für Schulen kennen nur eine Richtung: nach unten.
So wird die Inklusion einigen ehrgeizigen Schuldirektoren neue Karrierewege eröffnen. Für die Betreuung förderbedürftiger Schüler bedeutet sie radikale Entprofessionalisierung und für das Lehrpersonal an inklusiven Einrichtungen ebenso radikale Überforderung. Woher soll ein gewöhnlicher Lehramtsstudierender Expertise über die Unterrichtung von Blinden, Tauben, Körperbehinderten, Autisten, ADHS-Kindern, Lernschwachen, psychisch Auffälligen etc. nehmen? Ich fürchte, mit ein paar Weiterbildungsveranstaltungen über Inklusion lässt sich ein zehnsemestriges Fachstudium Sonderpädagogik kaum ersetzen. Aber den Ton der moralischen Antreiber habe ich schon im Ohr. Sie erzählen aufmunternde Geschichten von „verhaltensoriginellen“ Kindern, die man keinesfalls zurücklassen dürfe. In der Kölner Stadtrevue wird die ehemalige Schuldirektorin Barbara Sengelhoff mit dem Satz zitiert: „Die ersten Kinder, die ich damals noch an meiner vorherigen Stelle in Mühlheim hatte, mit Rolli wegen einer Querschnittslähmung, die haben wir auf den Rücken gepackt und die Treppe raufgetragen, weil wir keine Rampe hatten. Auch das funktioniert. Die wichtigste Voraussetzung ist die Haltung.“ So ist das, moralisch tiptop – und „Haltung“ ist auch noch viel billiger als Expertise, Professionalität und Organisation.
Längst entbrannt ist der Finanzierungsstreit zwischen Ländern und Gemeinden. Die Länder schmücken sich nämlich auch darum gerne mit der Inklusion, weil sie nach herrschender Rechtslage deren Kosten überwiegend an die Gemeinden weiterreichen können. Die schrittweise Schließung der Förderschulen hingegen ist bares Geld für die Länder. Die Gemeinden in NRW (anders als die Großstädte mit SPD-Regierungen) pochen hingegen auf das so genannte Konnexitätsprinzip, das zusätzliche Kosten, die durch Beschlüsse auf Landesebene entstehen, auch von den Ländern getragen sehen möchte. Inzwischen scheint der drohende Rechtsstreit in NRW abgewendet. Die Gemeinden haben ihre Klage gegen die Zusage des Landes zurückgenommen, die tatsächlichen Kosten würden jährlich kontrolliert und gegebenenfalls würde das Land (zusätzlich zu den zugesagten 175 Millionen € für die nächsten vier Jahre) nachschießen.
- Theorie und These: Normalistische Ausweitung der Normalitätszonen, mit moralischen Mitteln und mit dem Ziel, das öffentliche Schulsystem weiter zu denormalisieren.
Nach diesem kurzen Ausflug in die alltäglichen Niederungen der Inklusion muss ich Ihnen zur Abwechslung ein wenig Theorie zumuten. Als politisches Fahnenwort betrachtet ist Inklusion das, was man eine Konsensfiktion nennt. Das Prinzip Inklusion ist öffentlich zustimmungspflichtig, weil die Forderung des Gegenteils, die Forderung nach einer „Exklusion“ Lernbehinderter aus dem öffentlichen Schulwesen nicht diskursfähig ist. Technisch gesprochen kann Inklusion nicht öffentlich negiert werden. Es handelt sich um ein einwandsimmunes Prinzip. Erkennen kann man das daran, dass selbst die radikale Inklusionskritik den sprachlichen Gesslerhut rituell grüßt und unterstreicht, dass Inklusion ja „im Prinzip“ etwas sehr Gutes sei. Um nur ein Beispiel zu geben: Reiter (2014) schreibt: „Es ist richtig, behinderte Menschen zu integrieren. Es ist aber falsch, sie zwangsweise in klassische Schulen zu stecken“.
So viel nur zur Verwendungslogik des Fahnenwortes Inklusion. Derartige Konsensfiktionen gehören in das Feld der öffentlichen Moralisierung von Problemen. Und Einsatz finden die rhetorischen Ressourcen der Moralisierung in unserer normalistischen Gesellschaft (Link 2006) immer dann, wenn ein Problem nicht normalisiert werden kann oder soll. Um die Frage etwas anders zu formulieren: Was versprechen sich politische (und sonstige) Akteure von einer solchen Inklusionskampagne und vom damit verbundenen (ziemlich radikalen) Umbau des öffentlichen Schulwesens? Die öffentliche Moralisierung eines Problems ist aufmerksamkeitspolitisch effektiv und preiswert. Bevor das Fahnenwort Inklusion in der medialen Zirkulation aufgetaucht war, dürfte kaum jemand auf die Idee gekommen sein, in der Existenz von Förderschulen für Lernbehinderte ein moralisches Problem zu sehen. Eher im Gegenteil: Sie galten als nützlich und nötig. Und wer die Qualität der schulischen Förderung Lernbehinderter hätte kritisieren oder in Frage stellen wollen, der hätte das auch mit „normalistischen“ Mitteln tun können, z.B. über eine weitere Professionalisierung der Betreuung, über die Gleichstellung der Förderschulen mit Regelschulen, durch die Definition von erreichbaren Abschlüssen, die Kooperation mit Einrichtungen, die Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten auch für Absolventen mit „schwachen“ Schulabschlüssen bereitstellen etc. Da gäbe es ohne Zweifel viele Möglichkeiten. Stattdessen haben wir die Inklusionskampagne. Ständig hören wir, Vielfalt sei als Chance zu begreifen, niemand dürfe zurückgelassen, jede(r) müsse mitgenommen werden, und was dergleichen wohlklingende Moralformeln mehr sind.
Nun liegt die (demonstrativ tolerante und pseudoegalitäre) Ausweitung von Normalitätszonen zweifellos im Trend des massendemokratischen Normalismus. Denken Sie z.B. an den Aufruhr, den der Versuch, das Thema „sexuelle Vielfalt“ in den Bildungsplänen Baden -Württembergs (bei Elternverbänden und der katholischen Kirche) ausgelöst hat. Und denken Sie an den (als „PC“ verspotteten) sprachlichen Aufwand, der öffentlich betrieben wird, um vorzuführen, wie tolerant und weltoffen die Sprecher gegenüber potentiell diskriminierten Minderheiten seien. Eine solche rhetorisch-demonstrative Ausweitung der Normalitätszonen ist auch die Inklusion. Allerdings hat sie die (beabsichtige oder unbeabsichtigte) Nebenwirkung, weitere Denormalisierungsangst in dasjenige gesellschaftliche System einzuleiten, das die Öffentlichkeit für zentral verantwortlich für die Zuweisung gesellschaftlicher Chancen und Positionen hält – eben in das Schul- und Bildungssystem.
Auf eine Formel gebracht: Inklusion verspricht die Normalisierung der Bildungschancen für förderbedürftige Kinder – natürlich ein moralisch achtenswertes Ziel! – Tatsächlich importiert sie aber massive Denormalisierungsrisiken in das öffentliche Bildungssystem und trägt zu dessen heimlicher und stillschweigender Delegitimierung bei. Politisch fatal ist der Umstand, dass auf dem Rücken (förderbedürftiger und anderer) Schulkinder ein handfester politischer Konflikt über den Standort des öffentlichen Schulwesens ausgetragen wird. Je mehr sich Eltern von einer guten Schulbildung für ihre Kinder versprechen, desto mehr werden sie geneigt sein, das öffentliche Schulsystem zu umgehen, in dem jetzt nicht nur die Hälfte der Kinder „Migrationshintergrund“ hat, sondern eben auch noch (nach Art und Umfang unkalkulierbarer) „Förderbedarf“ besteht. Die Anbieter exklusiver Privatschulen werden sich die Finger lecken. Wie auch immer die Sache ausgeht: Die Veranstalter der Inklusion werden mit weißer Weste dastehen, ihr Anliegen ist moralisch einwandfrei, für die freilich absehbaren unerwünschten Folgen sind sie nicht verantwortlich zu machen. Sie haben es ja nur gut gemeint. Am Ende steht der alte Wunschtraum neoliberaler Fundamentalisten: ein öffentliches Restschulwesen, das diejenigen mit minimalen Bildungsangeboten versorgt, die nicht kapitalkräftig genug sind für den Bildungsmarkt. Die anderen können und sollen zukaufen. Der erklärte Versuch, Förderschüler zu entstigmatisieren, indem man die Förderschulen schließt und abschafft, importiert stattdessen deren Stigma in das allgemeine Schulwesen. Und da wird es sich umso nachhaltiger entfalten, als es nicht öffentlich kommuniziert werden kann.
Der Inklusionsrummel etabliert eine durch und durch paradoxe Kommunikation: Dass es Schulkinder mit besonderem Förderbedarf gibt, wird auf der einen Seite ausdrücklich anerkannt. Ihre Zahl wächst sogar. Auf der anderen Seite wird aber durch deren Unterbringung in den allgemeinen Schulen und durch die Abschaffung der Förderschulen einfach geleugnet, dass förderbedürftige Kinder auch eigene Einrichtungen brauchen. In diese Paradoxie passt der Umstand, dass die meisten radikalen Inklusionsbefürworter es vehement ablehnen, Förderziele für die Inklusionskinder zu formulieren. Offenbar sollen die nicht wirklich gefördert, sondern einfach in ihrem (wie es so schön heißt) „Anderssein“ akzeptiert werden. Das ist zweifellos billiger (hierzu Ahrbeck 2014).
Wenn (wirkliche oder vermeintliche) Exklusion werbewirksam und mit großem Trara moralisch auf einem Gebiet, dem der Sonderpädagogik nämlich, bekämpft wird, liegt der Verdacht nahe, dass sie eigentlich anderswo stattfindet, wo sie im Gegenzug eben nicht thematisiert wird. Und in der Tat ließen sich leicht gesellschaftliche Funktionsbereiche nennen, in denen weit umfänglicheren Minderheiten Teilhabe verweigert wird. Diesen Faden muss ich jedoch liegen lassen und stattdessen einen anderen aus dem Inklusionsknäuel ziehen:
Zu den Merkwürdigkeiten der offiziösen Feier von Vielfalt und toleriertem Anderssein gehört es, dass sie in schreiendem Kontrast steht zu der im Schulsystem allenthalben vorrückenden Standardisierungs-, Kompetenz-, Konkurrenz- und Leistungsorientierung. Es schaut aus, als ob die Inklusion ihren Befürwortern kompensatorisch ein gutes Gewissen verschaffen solle für die ansonsten vorherrschende Test-, Mess-, Vergleichs- und Standardisierungswut. Bisher jedenfalls ist nicht bekannt geworden, dass Bedürfnisse nach Vielfalt und sanktionslosem Anderssein bei PISA und anderen standardisierten Leistungstests berücksichtigt worden wären. Hieraus folgt zwingend, dass eben allein die per Inklusion in das allgemeine Schulsystem hinein geholten Schüler mit Förderbedarf auch innerhalb des Systems der allgemeinen Leistungsmessung und des Leistungsvergleiches ausgeschlossen bleiben: Exklusion durch Inklusion. Während im Schonraum einer Förderschule individuell erreichbare Leistungsziele durchaus nicht stigmatisieren, tun sie das im Umfeld „normaler“ Schulen fast automatisch, weil eben dort die allgemeine Leistungskonkurrenz wesentlicher Teil des heimlichen und offenen Lehrplans ist. Ob er will oder nicht, konkurriert der Schüler mit Förderbedarf in der Regelschule mit dem Feld, mit dem er eben, wie durch den Förderbedarf offiziell festgestellt, nicht konkurrieren kann.
- „…dass wir alle Menschen mitnehmen müssen“ / „no child left behind“
Je höher der öffentliche Moralisierungsbedarf bei den Ansprüchen, desto brutaler die Verhältnisse. Diese Regel gilt so gut wie immer. Von ca. 50.000 SchülerInnnen, die jährlich aus den Förderschulen kommen, finden nach einer Statistik des Hauses Bertelsmann lediglich 3500 eine Lehrstelle. Das sind etwa 7%. Die Nachricht lautet unmissverständlich: Nach der Schule ist Schluss mit der Inklusion. Nun kann man argumentieren, öffentliche Schulen hätten die Aufgabe, vorbildlich zu sein, auch wenn die privatwirtschaftlichen Verhältnisse, in die man nach der Schule eintritt, das nicht sind. Auf der anderen Seite ist bekannt, dass die meisten Firmen auch mit üppiger öffentlicher Förderung belohnt keine Behinderten in Lehr- und Arbeitsverträge nehmen. Ausnahmen zu dieser Regel scheinen allerdings zuzunehmen, wenn man den Medienberichten traut, die neuerdings gerne von den „besonderen“ Kompetenzen von Autisten etc. sprechen, die durchaus lukrativ und verwertbar seien. Statt aber auf diesem Wege den Arbeitsmarkt mit verbindlichen Integrationsaufgaben in die Pflicht zu nehmen, zerstört die öffentliche Hand die Institutionen, die sie für die Förderung Behinderter gegründet hat. Wer hätte je gesehen, dass sich eine christ- oder sozialdemokratische Regierung mit den Arbeitgebern angelegt hätte?
- Wortpolitik: Inklusion statt Integration
Nicht näher eingehen kann ich hier auf den sonderpädagogischen Spezialdiskurs, in dem seit einiger Zeit ein heftiger Wortstreit zwischen den Fahnenwörtern Integration und Inklusion tobt. Dazu nur so viel: An der Frontlinie dieser Auseinandersetzung geht es beständig um die Frage, ob der Ausdruck „Integration“ die Erwartung bzw. das Programm beinhalte, die förderbedürftigen Kinder sollten und müssten für die Welt der „normalen“ Kinder passend gemacht werden. Diesem vermeintlich diskriminatorischen und intoleranten Integrationsprogramm halten die Inklusionisten entgegen, nur in ihrem Fahnenwort „Inklusion“ werde dem universalistischen Prinzip der Vielfalt, Gleichheit und Akzeptanz aller Genüge getan. Für einen Sprachwissenschaftler ist vor allem der Wortaberglaube verblüffend, der einen solchen Streit nährt. Als ob es darauf ankäme, wie über die Sache gesprochen wird, und nicht darauf, wie die Sache tatsächlich gemacht wird! Die Teilnehmer dieses aufgeladenen Wortstreits mögen sich einfach fragen, wo mehr für die Akzeptanz behinderter und förderbedürftiger Kinder getan wird: da, wo sie für ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse spezialisierte Institutionen vorfinden, die bereit sind, sich ganz auf sie einzustellen, oder da, wo man ihnen offiziell Förderbedarf bescheinigt und sie dann in den Regelklassen zu verstecken versucht.
- Schluss
Das massenmediale Inklusionsfest ist eine Veranstaltung der Bildungspolitiker und der politisch ehrgeizigen Pädagogen. Die Superlative, die uns da begegnen, machen misstrauisch. Die Inklusion sei das größte bildungspolitische Unternehmen seit der allgemeinen Schulpflicht, habe ich gelesen. Dass es sich um eine wahre Revolution handele, gehört noch zu den bescheidenen Formulierungen. Offenbar handelt es sich bei diesen Trägergruppen der Inklusion um eine Spielart der Imagepolitik. Die Akteure sehen in der Öffentlichkeit moralisch toll aus und können gleichzeitig ganz andere Interessen im Windschatten ihrer Images vorantreiben. Der härteste moralische Druck lastet auf den öffentlichen Schulen. Wer sich da der Inklusion zu entziehen sucht, der sieht aus wie einer, der seine partikularen Interessen gegen ein ethisch einwandsimmunes und universalistisches Programm verteidigt. Also ziemlich schlecht. Zu dieser Stimmung passt, dass viele Lehrer, die Kritik üben an Theorie und Praxis der Inklusion, ihre Namen nicht in der Zeitung lesen wollen. Sie fürchten Sanktionen.
Das Thema Inklusion etabliert einen öffentlichen Kommunikationsbereich, in dem politische Akteure sich selbst und ihre moralisch-universalistischen Identitäten in Szene setzen können. Je härter die allenthalben erfahrbaren Exklusionserfahrungen und Exklusionsdrohungen für das Publikum werden, desto nötiger werden solche für das Publikum entlastenden Kommunikationsbereiche. Für die tatsächlich Beteiligten freilich, vor allem die Lehrkräfte, entsteht der Eindruck, dass ihnen ständig neue Lasten auf die Schultern geladen werden. Jetzt sollen sie das noch nebenbei erledigen, was das Förderschulwesen nicht hat leisten können.
Am Ende verbeuge ich mich auch vor dem Gesslerhut Inklusion: Niemand wird abstreiten, dass es einen berechtigten Kern für Inklusionsforderungen gibt. So wie die Debatte läuft, hat dieser Kern jedoch nicht die Spur einer Chance, überhaupt artikuliert zu werden. Er hängt damit zusammen, dass das öffentliche Bildungssystem zusehends als gesellschaftliche Stigmatisierungsmaschine wahrgenommen wird. Das ist jedoch politisch gewollt von allen, die Bildung dem Marktprinzip unterwerfen wollen. Dieses Unternehmen gedeiht nämlich langfristig nur, wenn die Delegitimierung des allgemeinen und öffentlichen Schulsystems weitergetrieben werden kann. Und dazu wird die Inklusion einen Beitrag leisten. Weil sie nämlich auf der Vorderbühne als moralisch positives Image etabliert, was auf der moralisch entartikulierten Hinterbühne das öffentliche Schulwesen weiter schwächt.
- Literatur
- Ahrbeck, Bernd (2014): „Gemeinsamkeit um jeden Preis“, In: FAZ vom 24. April 2014.
- Bude, Heinz (2011): Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. München: Hanser.
- Klemm, Klaus (2913): Inklusion in Deutschland – eine bildungsstatistische Analyse (im Auftrag der Bertelsmann Stiftung). Gütersloh: Bertelsmann.
- Knobloch, Clemens (2012): Wir sind doch nicht blöd! – Die unternehmerische Hochschule. 2. Aufl. Münster: Westfälisches Dampfboot.
- Knobloch, Clemens (2013): „Bildung“ – ein Strategiekern neoliberaler Rhetorik? In: Jahrbuch für Pädagogik 2013: Krisendiskurse, red. David Salomon und Edgar Weiß. Frankfurt/M.: Lang. S. 105-124.
- Link, Jürgen (2006): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 3. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Niemann, Dennis (2009): Changing Patterns in German Policy Making – The Impact of International Organizations. (=TranState Working Papers, No. 99/2009, SFB 597 Staatlichkeit im Wandel, Universität Bremen, Jacobs University Bremen, Universität Oldenburg).
- Reiter, Udo (2014): „Schlicht überfördert“. In: Süddeutsche Zeitung vom 14./15. Juni 2014.
- Steigels, Christian & Werthschulte, Christian (2014): „Inklusion – All together now!”. In: Stadtrevue 4/2014.
Siehe dazu jedoch: Inklu…was?, ein Interview mit Brigitte Schumann
[«1] Es versteht sich, dass ich hier nur von den erwartbaren diskursiven Breitenwirkungen der Inklusion spreche, nicht von der Sache selbst, für die ja durchaus einiges spricht.