Dass man auf die Wahl des Wortes „Lügenpresse“ zum Unwort des Jahres stolz sein kann, begreife ich nicht.
Mit seinem Votum und seinem engagierten Plädoyer für diese Entscheidung fügt sich der hoch geschätzte Stephan Hebel nach meiner Einschätzung in die angelaufene Kampagne gegen die Kritiker der Medien ein. Das ist bedauerlich, zumal im letzten Jahr zum ersten Mal die berechtigte Kritik an der Meinungsmache und an den vielen und politisch folgenschweren Kampagnen der Medien einen Durchbruch erzielte. Dieser Erfolg und damit auch der Erfolg der Arbeit vieler NachDenkSeiten-Leserinnen und Leser wird gefährdet, wenn die Gegenkampagne erfolgreich sein wird. Das ist der Grund, warum ich mich zu Wort melde, auch wenn es unseren Leserinnen und Lesern vermutlich lästig wird, wenn sie von Tag zu Tag auf den NachDenkSeiten neue Dispute erleben. Es hätte übrigens passende Alternativen für die Auswahl des Unwortes gegeben: Putin-Versteher zum Beispiel. Oder: Maidan, ein Wort das möglicherweise kriegsentscheidend missbraucht worden ist. Oder: „Die schwarze 0“. Angesichts der verlotterten Infrastruktur eine Lachnummer der besonderen Art. Albrecht Müller.
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Die Jury hat sich für „Lügenpresse“ entschieden. Diese Wahl lenkt ab von wesentlichen Problemen und lenkt hin auf Nebensächlichkeiten, vor allem hin zu den Anliegen der Medien selbst. Dass der als fortschrittlich geltende Stephan Hebel an dieser „populistischen“ – dieses Wort verwende ich selten, hier passt es – Entscheidung maßgeblich mitgewirkt hat, ohne zu sehen, wie diese Entscheidung in die Kampagne der meinungsführenden und großen Medien eingepasst und instrumentalisiert wird, irritiert mich.
Erstaunliche Fortschritte der Medienkritik im vergangenen Jahr
Im Jahr 2014 ist erstaunlich viel Medienkritisches passiert. In Stichworten:
- Als im Umfeld der Münchner Sicherheitskonferenz zu Anfang des Jahres der Bundespräsident, Bundesaußenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen einvernehmlich und wahrscheinlich abgesprochen für „mehr Verantwortung“ und auch für mehr Beteiligung an militärischen Interventionen warben, haben sie einen erstaunlich starken Gegenwind erlebt.
- Jene Medien, die mehrheitlich im vergangenen Jahr für Härte gegenüber Russland eintraten, stießen auf breite Skepsis bei der Mehrheit der Menschen.
- Im Februar und März hat Uwe Krüger die Ergebnisse seiner Recherchen zur Einbindung führender Journalisten in atlantische, NATO- und US-Einrichtungen und PR-Organisationen veröffentlicht. Vielen Menschen gingen die Augen auf, weil sie die Artikel und Kommentare von führenden Köpfen der Publizistik, von Joffe (Zeit), Kornelius (Süddeutsche Zeitung), Frankenberger (FAZ) und einigen anderen mehr endlich besser einordnen konnten.
- Die NachDenkSeiten haben dazu ausführlich publiziert. Siehe zum Beispiel hier, dort auch Links auf vorherige Berichte)
- Das ZDF/Die Anstalt machte die Informationen einem weiteren Kreis zugänglich und gewann auch noch eine juristische Auseinandersetzung zum Thema mit Herrn Joffe (Die Zeit).
- Im letzten Jahr wurde auch sichtbar, wie verlogen die mindestens zehn Jahre dauernde Kampagne für die Riester-Rente wegen ihrer angeblichen Rentabilität war. Diese Behauptungen erwiesen sich als eine glatte Lüge. Die NachDenkSeiten weisen seit Beginn der Arbeit im Jahre 2004 darauf hin. In meinem 2004 erschienenen Buch „Die Reformlüge“ und hier geschah das sowieso.
Im Jahr 2014 zeichnete sich der Durchbruch ab. Gerade jene Medien, die Wortführer der vielen strategisch geplanten Kampagnen sind, waren unsicher geworden, weil ihre Leser, Hörer und Zuschauer ihnen nicht mehr glaubten. Die Medien haben im Jahr 2014 ein Problem bekommen: das Glaubwürdigkeitsproblem.
Die Arbeit einiger Medien wie der NachDenkSeiten und ihrer vielen Unterstützerinnen und Unterstützer schien endlich Fuß zu fassen und Ergebnisse zu zeitigen.
Die Bunkermentalität vieler Journalisten
Mir fiel im letzten Jahr allerdings schon auf, dass auch Kolleginnen und Kollegen der Publizistik, die kritische NachDenkSeiten-Leserinnen und -Leser bis dahin zu Mitkämpfern auf dem Feld der Aufklärung zählen konnten, angesichts des Verlustes an Glaubwürdigkeit plötzlich ein merkwürdiges Gluckenbewusstsein entwickelten. Man könnte auch sagen: Wagenburgmentalität, Bunkermentalität. Sie solidarisierten sich de facto mit den Sorgen von Frau Mohn von Bertelsmann und von Frau Springer vom Springer-Konzern und all den anderen Kampagnenmachern, denen der Verlust der Glaubwürdigkeit auch kommerzielle Probleme bereitete.
Die Jury zur Wahl des Unwortes des Jahres hätte den Kontext, in dem ihre Entscheidung steht, vielleicht genauer anschauen müssen. Zum Kontext gehört neben vielen anderen Produkten der Publizistik zum Beispiel dieser Beitrag in der FAZ:
Anschlag in Paris – Blut auf die Mühlen
In den westlichen Demokratien müssen die Extremisten und Volksverhetzer jeder Couleur von der Nachschubverbindung aus dem politisch gemäßigten Lager abgeschnitten werden. Unbändigen Hass auf die „Lügenpresse“ gibt es auch in Deutschland. 07.01.2015, von Berthold Kohler.
Oder einen Essay des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen im „Spiegel“ von letzter Woche. Er betrachtet die aktuelle Medienkritik als irrational. Aus dem Essay zitiert Paul Schreyer in diesem Artikel von gestern.
Oder die schon wiedergegebene Abbildung auf der Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom Sonntag mit einem Mörder von Paris und der Sprechblase „Lügenpresse“.
Wie läuft der Meinungsbildungsprozess bei den Menschen vermutlich ab, wenn sie lesen und hören, „Lügenpresse“ sei das Unwort des Jahres?
Es bleibt zu begründen, warum die Entscheidung der Jury, „Lügenpresse“ zum Unwort des Jahres zu küren, Wasser auf die Mühlen der Gegner kritischer Medien und kritischer Bürgerrinnen und Bürger ist.
Bitte stellen Sie sich vor, wie der Meinungsbildungsprozess bei der großen Zahl der nicht sonderlich Informierten und auch bei Informierten abläuft, wenn sie hören oder lesen, dass eine gestandene und glaubwürdige Jury in Darmstadt wie jedes Jahr das Unwort des Jahres verkündet und dieses Mal das Wort „Lügenpresse“ ausgewählt hat. Was wird dann im Kopf der meisten und mit ihren Gefühlen passieren, wenn sie nicht gerade zu PEGIDA-Anhängern zählen: Sie werden lernen, dass der Vorwurf an die Medien, sie würden nicht die Wahrheit sagen und schreiben, und stattdessen Kampagnen machen, zumindest in Zweifel zu ziehen ist. Wenn es anders wäre, würde dieses angesehene Gremium das Wort „Lügenpresse“ ja nicht zum „Unwort“ küren.
Dabei sollte man auch beachten, dass die meisten Menschen beispielsweise nicht wissen, dass „Lügenpresse“ schon von den Nazis gebraucht worden ist. Wenn Sie das jetzt beiläufig erfahren, dann wird ohne große rationale Erwägung hängen bleiben, dass man heute nicht davon ausgehen kann, dass dieses Etikett durch Fakten gedeckt ist. Die Medien lügen doch nicht so sehr, bleibt hängen.
In jedem Fall ist die Entscheidung der Jury eine Hilfe für alle jene, die sich gegen die Kritik an den Medien wehren. Wie kann man das übersehen?
Eines sollte man auch noch beachten: mit der Auswahl eines der anderen auch nominierten Worte wie etwa „Putinversteher“ wäre die Jury auf Widerstand bei den Hauptmedien gestoßen. Mit ihrer Entscheidung für „Lügenpresse“ hat die Jury das große publizistische Los gezogen. Seit gestern sind die Hauptmedien voll des Lobes. Wenn man ständig gegen den Stachel löckt, dann weiß man, wie gut es tut, einmal zur Mehrheit zu gehören. Ich gönne Stephan Hebel das Bad in der Menge, aber verstehen kann ich weder die Entscheidung der Jury noch sein Plädoyer in den NachDenkSeiten.
Dass die Mehrheit der Menschen, die nicht zu den Oberen gehören, den Eindruck gewinnen, dass die Mehrheit der Medien die Unwahrheit sagen, ist nicht erstaunlich. Sie haben ein von den Nazis geprägtes Wort zur Verkündung ihres Unmuts gebraucht. Das wird ihnen jetzt zum Stolperstein.
Das Wort Lügenpresse ist diskreditiert durch den Gebrauch durch die Nazis. Also dürfen die Leute das nicht benutzen. Sie sind aber nicht so historisch gebildet und bewandert wie Stephan Hebel und Wolfgang Lieb zum Beispiel. Deshalb haben sie zunächst auch nicht gemerkt, dass sie einer historisch belasteten Parole hinterher laufen.
Aber das kann uns doch nicht davon abhalten, die Frage zu stellen, ob ihr Aufschrei nicht einen sachlichen Hintergrund hat. Hier ein paar Belege dafür:
- Die Menschen hören, es gehe uns allen gut. Aber was ist, wenn sie schon die 100. Bewerbung um einen Arbeitsplatz geschrieben haben? Ohne Erfolg. Oder wenn sie in einem prekären Beschäftigungsverhältnis sind? Oder wenn sie als kleiner Gewerbetreibender kämpfen, auch mit staatlichen Einrichtungen kämpfen, und gleichzeitig sehen, wie die großen Wirtschaftsunternehmen und vor allem die Finanzwirtschaft von der Politik bedient werden.
- Die Menschen hören und lesen ständig, zur jetzt installierten Politik gäbe es keine Alternative. Sie ahnen, dass das nicht stimmt. Sie ahnen, dass sie wie auch andere Völker Europas auf diese Alternative angewiesen wären. Und dennoch finden sie in den Medien keine Resonanz für diese Forderung nach offenem Nachdenken und nach entsprechendem Handeln. Was soll man dann als Reaktion erwarten außer der Klage: die Medien verschweigen, die Medien sagen uns nicht die Wahrheit, sie lügen?
- Die Menschen hören und lesen seit 1997, sie sollten privat vorsorgen, und dafür werden sogar ihre Steuergelder verwandt, und jetzt entdecken sie, dass sie nur die Profite der Versicherungswirtschaft und der Banken vermehrt haben, aber nicht ihre Rente gesichert haben. – Was sollen sie da den Medien sagen? Ihr habt uns angelogen. Und wenn sie historisch nicht bewandert sind, dann sagen sie „Lügenpresse!“
- Die Menschen hören, Exportüberschüsse sind gut. Wo spüren Sie das? Allenfalls in Landesteilen, wo die Exportwirtschaft in der Tat floriert und für Arbeitsplätze und gute Einkommen sorgt.
- Die älteren Menschen hören von der Mehrheit der Medien: die Russen sind Imperialisten, Putin muss weg, notfalls über Destabilisierung und militärische Gewalt. Sie haben aber in ihrem Herzen noch vergraben: Nie wieder Krieg! Was sollen sie dann den Medien sagen? Ihr lügt.
- Herr Schäuble und die Medien sagen einvernehmlich: Einwanderung ist wirtschaftlich notwendig und nutzt uns allen. – Sehr viele Menschen spüren aber die Konkurrenz der Zuwanderer auf ihrem Arbeitsmarkt, Herr Schäuble nicht und die führenden Vertreter der Medien merken das auch nicht und machen deshalb weiter mit ihrer Propaganda. Was sollen die Menschen daraufhin sagen? Lügenpack vielleicht.
Das ist insgesamt keine gute demokratische Form der Auseinandersetzung. Aber zu dieser unguten Art gehören beide Seiten. Dazu gehört auch die mangelnde Sensibilität der Spitzenpolitiker und der Spitzenmedien. Sie haben keine Ahnung von der Lebenslage der Mehrheit der Menschen oder sie nehmen keine Rücksicht darauf, weil ihnen deren Lebenslage rundum egal ist.
Wetten, dass auch ein Teil unserer Leser, wenn sie die letzten Absätze lesen, denken, ich sei ein Pegida-Versteher. So weit sind wir schon. Verständnis für die Lage der „Kleinbürger“ und „Spießbürger“ ist schon dem gemeinsten Verdacht ausgesetzt.
Anhang:
Mails zum Artikel von Stephan Hebel in den NachDenkSeiten [PDF – 94 KB]
Vorbemerkung: Hier sind alle Mails wiedergegeben und hoffentlich keine übersehen. Sie sind nicht zensiert. Die Autoren sind mit Initialen benannt. Schreibfehler sind nicht korrigiert. Die einzelnen Mails sind durch durchgezogene Linien getrennt. Ich mache mir nicht alle Aussagen zu eigen, selbstverständlich nicht. A.M.