MH17 – Spekulationen, Indizien und deren Bewertung
Heute morgen haben wir den Brief unseres Lesers H.L. abgedruckt, der sich kritisch mit einem älteren Artikel der NachDenkSeiten auseinandersetzt. Das Thema MH17 lädt förmlich zu Spekulationen ein. Auch die nach wie vor wahrscheinlichste Version, nach der MH17 von einer Boden-Luft-Rakete einer Buk-Einheit abgeschossen wurde, weist keine lückenlose Indizienkette auf. Echte Beweise gibt es ohnehin nicht. Jedoch sollte man beachten, dass auch alternative Versionen keine lückenlose Indizienkette haben und oftmals noch nicht einmal im Ansatz durch Indizien gedeckt sind. Daher erlaube ich mir an dieser Stelle, auch die Thesen von Herrn L. auf deren Schlüssigkeit zu überprüfen. Von Jens Berger
Vorbemerkung: Es ist sehr schwer, bei diesem Thema den Überblick zu behalten. Weder Herr L. noch ich sind Experten auf dem Gebiet der militärischen Luftfahrt. Auch ich kann nur auf Primär- und Sekundärquellen zurückgreifen, die sich dann auch noch in Teilen widersprechen. Was wir hier machen ist nichts anderes als Spekulation. Wenn Sie harte Fakten wünschen, so muss ich Sie leider enttäuschen. Harte Fakten gibt es ebenso wenig wie Beweise. Im folgenden Text argumentiere ich zudem sehr technisch und vermeide es (wie in anderen Artikeln) in das Thema einzuführen. Bitte haben Sie dafür Verständnis. Leser, die am Thema interessiert sind, werden hier sicher ein paar interessante Denkanstöße finden. Für den Rest wird der Artikel weitgehend unverständlich sein. Seien Sie mir nicht böse – derartige Artikel sind und bleiben hier die Ausnahme.
SU-25 M1 – doch ein Abschuss durch einen Kampfjet?
Unser Leser H.L. hat Zweifel an der These, dass MH17 nicht von einer SU-25 abgeschossen werden konnte, da die SU-25 in derartigen Höhen überhaupt nicht operieren kann. Dazu verweist er auf die modernisierte Variante SU-25 M1, die angeblich eine Dienstgipfelhöhe von 12.000 Metern haben soll. Hintergrund ist, dass laut russischen Militärangaben zum Zeitpunkt des MH-17-Abschusses eine ukrainische SU-25 in unmittelbarer Nähe gesichtet worden sein soll. Das ist sogar wahrscheinlich. Flugzeuge vom Typ SU-25 sind sogenannte Erdkampfflugzeuge, deren Spezialität darin besteht, Ziele auf dem Boden zu beschießen. Während des gesamten Bürgerkriegs im Donbass werden immer wieder – so berichten übereinstimmend ukrainische und russische Quellen – SU-25-Jets gesichtet, die auch aktiv ins Kampfgeschehen eingreifen. Den Separatisten zufolge nutzen die SU-25-Piloten dabei gerne die Taktik, im „Radarschatten“ von sehr hoch fliegenden Großflugzeugen zu fliegen. Die russischen Angaben sind also stringent. Daraus den Schluss zu ziehen, eine SU-25 M1 habe MH17 abgeschossen, ist jedoch mutig.
Erst einmal ist völlig unklar, wie viele SU-25 M1 es überhaupt gibt. Richtig ist, dass die ukrainische Luftwaffe 2010 damit begann, die „alten“ SU-25 gegen die modernisierte Version auszutauschen. Es gibt jedoch auch Quellen, die besagen, dass dieses Modernisierungsprogramm wegen Geldknappheit gestoppt wurde. Einwandfrei belegbar ist lediglich, dass zwei Modelle tatsächlich umgerüstete wurden. Und in welcher Höhe kann die modernisierte Version operieren? Richtig ist, dass sie durch ein stärkeres Triebwerk auch in größeren Höhen operieren kann. Fachbücher [*] nennen hier eine maximale Operationshöhe von 6.000 Meter. Wie kommen andere Quellen dann auf 12.000 Meter? Ganz einfach. Die Maschine kann unter Testbedingungen in der Tat weitaus höhere Höhen erreichen. Dafür ist jedoch nicht entworfen. Über 2.000 Meter Höhe muss der Pilot eine Sauerstoffmaske aufsetzen, bei 6.000 Metern wird das Sauerstoffgemisch bereits auf 100% angesetzt. Wichtig zu wissen ist, dass die Maschine auch in der modernisierten Version nicht über einen Druckausgleich verfügt. Die Maschine kann zwar mit sehr leichter Bewaffnung für sehr kurze Zeit in die Höhe vordringen, auf der MH17 das Gebiet durchflog, dann müsse der Pilot aber – wie ein kanadischer Experte ironisch anmerkt – mit starken Nasenbluten und üblen Kopfschmerzen rechnen.
Hinzu kommt, dass die SU-25 auch in der modernisierten Version schlichtweg zu langsam ist. Die Reisegeschwindigkeit einer Boeing 777 beträgt Mach 0.84 – dies ist nur unwesentlich langsamer als die Maximalgeschwindigkeit (Mach 0.86) der SU-25 auf Seehöhe. In einem Steigflug sinkt die Maximalgeschwindigkeit dramatisch. Ein Szenario, nachdem die SU-25 „spontan“ die Boeing abgefangen und beschossen hat, ist also physikalisch unmöglich. Möglich – wenn auch sehr unwahrscheinlich – ist, dass eine SU-25 M1 in sehr großer Höhe (inkl. Nasenbluten und Kopfschmerzen) auf die Boeing „gewartet“ hat und sie dann ins Visier nahm. Da stellt sich dann aber die Frage, mit welcher Waffe sie die Boeing abgeschossen haben soll.
Eine zu große Rakete?
Unser Leser H.L. weißt darauf hin, dass das BUK-System einen vergleichsweise großen Sprengkopf (150 Pfund) habe und nennt als Vergleich den nur sieben Pfund schweren Gefechtskopf einer R60-M-Luft-Luft-Rakete. Herr L. kommentiert dies mit dem Satz „viel hilft viel“ und bezweifelt anhand von Experten-Statements, dass ein derart mächtiger Sprengkopf MH17 vom Himmel geholt haben könnte. Dazu muss man wissen, dass die SA-11 Gadfly (BUK-M-1) natürlich für ganz andere Zwecke als die kleine R60 konstruiert wurde. Das BUK-System ist ein Boden-Luft-System – hier spielt das Gewicht eine eher untergeordnete Rolle. Daher ist das BUK-System nicht nur zur Abwehr von Kampfflugzeugen, sondern auch zur Abwehr von großen Transportflugzeugen und sogar zur Abwehr ballistischer Raketen im Stande. Die kleine R60, die zur Standardbewaffnung der SU-25 gehört, ist hingegen eine reine Luft-Luft-Rakete, die darauf ausgerichtet ist, die Triebwerke eines feindlichen Kampfflugzeugs zu zerstören und es damit zum Absturz zu bringen. Um die Sprengkraft dieser kleinen und leichten Rakete einmal greifbar zu machen, bietet sich ein Vorfall aus dem Jahre 1988 an. Damals schoss eine angolanische MiG-23 „versehentlich“ zwei R-60-Raketen auf einen botswanische Regierungsjet. Trotz zweier Treffer in den Triebwerken konnte der Co-Pilot den Jet sicher notlanden. Das botswanische Flugzeug war eine kleine BAe-125 800A, deren Masse nur ein Zwanzigstel einer Boeing 777 beträgt. Eine große Maschine, wie die Boeing 777, lässt sich – da sind sich die Experten einig – nur dann augenblicklich vom Himmel holen, wenn man einen sehr großen Sprengkopf verwendet. Die K-8-Rakete, mit der 1983 die südkoreanische Boeing 747 (Flug KAL007) abgeschossen wurde, hat einen Sprengkopf mit 88 Pfund – sie ist allerdings so groß, dass sie nicht an eine SU-25 passt.
Fest steht, dass MH17 augenblicklich in einer Höhe von 33.000 Fuß von den Radarschirmen verschwand. Der Funkverkehr riss sofort ab und die bereits ausgewertete Blackbox ergab, dass was auch immer MH17 vom Himmel geholt hat die technischen Systeme im Cockpit augenblicklich zum Verstummen brachte. So etwas ist mit einer kleinen R60 nicht möglich … außer sie träfe direkt das Cockpit. Dagegen spricht jedoch das Schadensbild der Trümmer. Dagegen spricht aber auch und vor allem, dass die R60 eine infrarotgesteuerte, also hitzesuchende, Rakete ist. Derartige Raketen suchen sich ein besonders warmes Ziel und schlagen dort ein. Bei Flugzeugen sind dies die Triebwerke, aber nicht das Cockpit. Die Triebwerke von MH17 sind jedoch – soviel lässt sich aus den Bildern der Trümmer sagen – vergleichsweise intakt. Sie wurden nicht direkt getroffen. Daher ist es unmöglich, dass MH17 von einer Rakete mit Infrarot-Zielortung abgeschossen wurde. Die R-60-M-These sollte damit widerlegt sein. Dies gilt auch für die – ebenfalls im Netz diskutierte – These, MH16 sei von einer SU25 mit einer K-13-Rakete abgeschossen worden. Die K-13 (auch Wympel R-3) hat zwar einen (je nach Typ) zwischen 16 und 22 Pfund schweren Sprengkopf, der etwas größer ist als der der R60 – dafür ist auch sie infrarotgesteuert.
Kanonenfeuer?
Im russischen Propagandafilm „MH17 – The Untold Story“, den unser Leser M.H. zitiert, wird die These vertreten, MH17 könnte nicht von einer Rakete, sondern von der Bordkanone einer SU-25 abgeschossen worden sein. Das ist aus gleich zwei Gründen auszuschließen. Der erste Grund ist (s.o.) die mangelnde Kombination aus Flughöhe und Fluggeschwindigkeit der SU-25. Der zweite Grund ist das Einschlagbild, das auf den Fotos der Trümmer zu beobachten ist. Die Einschläge sind eindeutig zu klein. Auf den Bildern sind zahlreiche kleine Einschläge zu sehen, die ganz typisch für Schrapnells sind. Die Bordkanone einer SU-25 hat das Kaliber 30mm – das heißt, die Einschusslöcher müssten mindestens drei Zentimeter Durchmesser haben. Das ist aber nicht der Fall.
Hinzu kommt, dass die Bilder darauf hindeuten, dass vor allem das Cockpit von vorne getroffen wurde. Wenn ein derartiges Schadensbild von einer Bordkanone herrühren sollte, müsste der angreifende Jäger seitlich von vorne angreifen. Die SU-25 müsste also die Boeing auf einem Ost-West-Kurs abfangen. Östlich des Abschussgebiets liegt aber gleich die russische Grenze. Hinzu kommt, dass es – so behaupten zumindest Fachleute für den Luftkampf – völlig unüblich ist, ein gegnerisches Flugzeug von vorne mit der Bordkanone zu beschießen. Man darf nicht vergessen, dass es sich hierbei um Ziel handelt, das sich beinahe mit Schallgeschwindigkeit bewegt. Ein solches Ziel ohne technische Hilfsmittel von der Seite oder von vorne zu treffen, wäre ein echtes Kunststück. In der Realität näheren sich Jäger daher auch von hinten – der Kurs ist derselbe, man hat genügend Zeit das Ziel ins Visier zu nehmen. Die Bilder von den Trümmern zeigen jedoch, dass die Fremdkörper eben nicht von hinten in die Boeing eindrangen. Ein Abschuss durch eine Bordkanone ist demnach nach aller Wahrscheinlichkeit auszuschließen.
Auch ich weiß, dass ich nichts weiß
Und nun? Fest steht für mich, dass die These, MH17 sei von einer ukrainischen SU-25 abgeschossen worden, mehr als unwahrscheinlich ist. Nahezu alle Indizien sprechen gegen diese These. Mehr noch – es fehlt das eigentliche Motiv. Natürlich könnte man nun verschwörungstheoretisch in den Raum werfen, dass die ukrainische Regierung den Westen durch den Abschuss von MH17 gegen Russland in Stellung bringen wollte. Bleiben wir ruhig einmal in diesem Bild. Warum greift die Ukraine dann zur abenteuerlichen Lösung, die Boeing mit dem Flugzeug abzuschießen, das für diese Aufgabe von allen Waffen im Arsenal am denkbar ungeeignetsten ist? Die SU-25 ist – wie der Name schon sagt – eine Erdkampfflugzeug und kein Abfangjäger. Dabei verfügt die Ukraine mit der SU-27 und der MiG-29 über Waffensysteme, die für eine solche Aufgabe ganz hervorragend geeignet sind. Laut russischen Angaben waren zum Tatzeitpunkt jedoch weder SU-27- noch MiG-29-Jets in der Gegend.
Nach wie vor bleibt die Frage offen, wer MH17 abgeschossen hat. Auch wenn (zumindest für mich) klar ist, dass MH17 von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde, ist immer noch vollkommen offen, welcher Typ verwendet wurde und vor allem, wer für den Abschuss verantwortlich ist. Neben dem BUK-System kommt beispielsweise auch das S-125-System (bzw. SA-3) in Frage, das zwar veraltet ist, aber pikanterweise immer noch in der Donbass-Region produziert wird und auch in Beständen der ukrainischen Armee zu finden ist. Und selbst wenn es sich bei der Tatwaffe um ein BUK-System handeln sollte, ist nach wie vor offen, wer für den Abschuss verantwortlich ist. Fest steht, dass die Ukraine über BUK-System verfügt. Indizien belegen jedoch auch, dass die Separatisten ein solches System erbeutet haben könnten und andere Indizien weisen darauf hin, dass zum Tatzeitpunkt ein russisches BUK-System in der Region war. Die entscheidenden Fragen sind also immer noch nicht beantwortet.
[«*] z.B. Sukhoi Su-25 Frogfoot von Alexander Mladenov (Osprey Publishing)