Der Mensch ist kein Renditefaktor!
Der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hat sich mit einem Alarmruf in die Reihe jener Querdenker eingereiht, die seit kurzem gegen das von traditionellen Ökonomen konstruierte Modell des Menschen rebellieren, mit dem sie die real existierende Wirtschaft zu erklären suchen. Sie haben ein wohlinformiertes, rational kalkulierendes und ausschließlich auf den eigenen Nutzen ausgerichtetes Individuum entworfen, das von allen sozialen Bindungen, normativen Überzeugungen und Mitgefühl für anderen losgelöst ist, das mit anderen nur dann kooperiert, wenn es dem eigenen Vorteil dient. Wenn sie damit im Elfenbeinturm ihrer Wissenschaft bleiben würden, könnten sie keinen Schaden anrichten. Aber sie erheben den Anspruch, dass dieses Denkmuster wie eine fremde Besatzungsmacht alle sozialen Sphären beherrscht – die Gesundheits- und Pflegedienste, die Bildungs- und Sozialeinrichtungen sowie die öffentliche Verwaltung. Eine Rezension von Ulrich Schneiders Buch „Mehr Mensch! Gegen die Ökonomisierung des Sozialen“. Von Friedhelm Hengsbach [*]
Ulrich Schneider ist Insider. Er schildert die verheerenden Folgen der „Ökonomisierung“ in den Wohlfahrtseinrichtungen. Pflege im Minutentakt heißt: Große Wäsche 30 Minuten, Hilfe bei der Nahrungsaufnahme 15 Minuten, kleine Wäsche 15 Minuten, Kämmen am Morgen 2 Minuten. Der kranke, leidende, pflegebedürftige Mensch wird in Einzelteile zerlegt, die repariert und wieder funktionstüchtig werden sollen.
Wie konnte es dazu kommen? Was ist schief gelaufen? Eine einfache, aber unzureichende Antwort nennt Schneider mit der Umstellung des Abrechnungsverfahrens: Anstatt dass alle Kosten, die bei einer Behandlung anfallen, von den Kassen erstattet wurden, werden nun durch das System der Fallpauschalen einzelne Leistungen präzise definiert, mit Kennziffern versehen und in Geld- und Zeiteinheiten umgerechnet. Aber dies ist nur eine oberflächliche Erklärung.
Schneiders Widerstand richtet sich gegen den ökonomischen Imperialismus in gesellschaftlichen Bereichen, wo er nicht hingehört. In der Autoproduktion mag die Produktivitätsregel gelten, ein präzises Verhältnis von Arbeitskosten und einem in Geldeinheiten gemessenen Ergebnis, das in einem exakten Zeittakt erbracht wird. Aber wie soll dies in menschlichen Beziehungen des Dienstes am und mit dem Menschen gelingen? Dort spielt die persönliche Zuwendung die erstrangige Rolle. Dort geht es um das Mitwirken des Patienten, nicht eines souveränen Kunden. Und da geht es darum, ein selbstbestimmtes Leben auch mit Beeinträchtigungen wieder zu gewinnen, oder darum, dass ein junger Mensch aus einer tiefen Depression heraus begleitet wird, ohne Stoppuhr und Zielmarke am Monatsende. Industrielle Verfahren, betriebswirtschaftliche Logik und Marktsteuerung sind ein übergriffiger Fremdkörper in der Sphäre des Sozialen.
Die frei-gemeinnützigen Wohlfahrtsverbände waren einmal ein angesehener und bevorzugter Partner des Sozialstaats. Inzwischen werden sie – gleichgestellt mit privaten profitorientierten Anbietern – in einen gnadenlosen Verdrängungswettbewerb hineingetrieben. Der Staat übt auf sie einen massiven Druck aus, den sie, um zu überleben, auf Mitarbeiter und Patienten oder Klienten weiterwälzen. Ulrich Schneider nennt die Täter und Institutionen, die den Sozialstaat in einen Wettbewerbsstaat mutiert haben.
Welche Chancen gibt es für eine Kehrtwendung, aus der politischen Sackgasse herauszukommen? Eine qualifizierte Ausbildung und Professionalisierung der Mitarbeitenden, gesellschaftliche Aufwertung und ein Entgelt der Berufsgruppen, das dem in der Industrie angenähert ist. Und eine Rebellion gegen mechanische, technische Leistungsmythen, öffentliche Spardiktate und Schuldenbremsen, die das Mehr-Mensch-Sein blockieren.
„Ulrich Schneider – Mehr Mensch! Gegen die Ökonomisierung des Sozialen“ ist im Westend Verlag erschienen und kostet 13,99 Euro.
ISBN 978-3-86489-079-6
[«*] Friedhelm Hengsbach ist Mitglied des Jesuitenordens. Er studierte Philosophie, Theologie sowie Wirtschaftswissenschaften und promovierte 1976. Hengsbach war 1977 bis 1982 Lehrbeauftragter für Christliche Sozialwissenschaft an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main sowie bis 2006 Professor für Christliche Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main und Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik.