Die Funktion des Feindes
Gespaltene und krisengeschüttelte Gesellschaften bedürfen eines äußeren Feindes, um sich zu einen und ein großes „Wir“ über den inneren Zerreißungen entstehen zu lassen. „Wer keinen Feind mehr hat, begegnet ihm im Spiegel“, hat Heiner Müller sarkastisch bemerkt. Und wer will das schon? Nach dem Untergang des „Ostblocks“ war die Position des Feindes eine Zeit lang vakant. Spätestens seit dem 11. September 2001 hat diese Funktion „der islamistische Terror“ übernommen. Sozialpsychologische Anmerkungen von Götz Eisenberg.
Auf einer Autofahrt durch NRW hörte ich am Samstagnachmittag WDR 2. Man brachte unablässig Reportagen über den Kampf gegen die IS-Milizen. Unter anderem wurde von einer Frau aus den Vereinigten Emiraten berichtet, die einen Kampfjet fliegt, der auch im Kampf gegen IS zum Einsatz kommt. Sie trage unter dem Helm ein Kopftuch, hieß es. Man nenne die attraktive junge Frau inzwischen „Lady Liberty“. Der Umstand, dass eine Frau Bomben auf sie wirft, sei für die IS-Milizen ein Albtraum und die schlimmste Demütigung, wurde mehrfach genüsslich wiederholt. Dann berichtete der Sprecher, dass der Einsatz der Dame in den sozialen Netzwerken weltweit begeistert gefeiert werde. Bei Twitter sei zum Beispiel gepostet worden: „Hallo, IS-Milizen, ihr werdet gerade von einer Frau plattgemacht!“
So etwas wird einfach unkommentiert gesendet, als handele es sich nicht auch bei den IS-Milizionären um Menschen, wie fanatisch und verbohrt sie auch sein mögen. Der Krieg findet auch sprachlich statt. Eine sprachliche Verrohung bereitet den Boden für unsere Bereitschaft, kriegerische Lösungen von Konflikten hinzunehmen und ihnen zuzustimmen. Aber was soll man erwarten, wenn US-Präsident Obama von ISIS als einem „Krebs“ spricht, „der die ganze moslemische Welt verheert“?
Adrian Kreye hat in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung darauf hingewiesen, dass wir solche Metaphern aus der NS-Geschichte kennen. Sie führen mitten ins Grauen des Völkermords, der dargestellt wird als ein Rettungsakt, als ein chirurgischer Eingriff, der vorgenommen werden muss, um den gesunden Körper der Völkergemeinschaft zu retten.
„Das Böse“ nimmt von Zeit zu Zeit Gestalt an und kommt als Plage über uns wie Ebola oder das Erdbeben von Lissabon oder eben der Terror. Nirgends erfährt man etwas über die Beweggründe der ISIS-Kämpfer und die gesellschaftlichen Ursachen des Fundamentalismus. Im Kampf gegen die militanten Gotteskrieger der ISIS entsteht ein großes „Wir“ über den krisengeschüttelten Gesellschaften des Westens. Sogar der Aushilfs-Schurke Putin und der Ukraine-Konflikt verblassen dagegen und treten in den Hintergrund. ISIS sei Dank, können „Wir“ all die anderen Probleme vergessen.
Ist das nicht wunderbar: Ein vom Westen selbst mit geschaffener und aus der Flasche gelassener Geist dient nun dazu, uns alle im Kampf gegen ihn zu einen! Im Schlagschatten dieses neuerlichen Anti-Terror-Kampfes breiten sich islamophobe Einstellungen wie ein Flächenbrand aus. Am Sonntagabend lieferte Günther Jauch ein Beispiel dafür, als er die Zuschauer, die einem in die Sendung eingeladenen Imam gelegentlich Beifall spendeten, als von diesem mitgebrachte Claqueure bezeichnete. Endlich haben wir wieder einen Feind!
„Nach dem Sieg hat man es mit sich selbst zu tun“, sagte Toqueville. Man sucht verzweifelt nach einem neuen Widerpart. Die Schwierigkeit, hinter der Nebelwand diffuser Bedrohungen einen robusten politischen Feind zu verorten, ist einer der Gründe dafür, dass Aggressionen sich mehr und mehr blind und ziellos entladen. Moderne Nationalstaaten sind immer weniger in der Lage, eine bestimmte Zentralgefahr in der Gestalt eines Feindes zu unterstellen, um im Anschluss daran legitime und illegitime Ängste zu unterscheiden und entsprechende Loyalitätsleistungen zuzumuten. Seit die Teilung zwischen Ost und West nicht mehr existiert und kein feindlicher Block mehr auszumachen ist, den wir für unser Unglück verantwortlich machen können, hat sich der Feind fortgepflanzt in eine Vielzahl kleiner und mittlerer Satane, die in allen möglichen Formen und Gestalten auftreten können. Der „Weltkommunismus“ war der Feind, der hätte erfunden werden müssen, wenn er nicht schon vorhanden gewesen wäre – ein Feind, dessen Stärke die Verteidigungswirtschaft und die Mobilisierung des Volkes im nationalen Interesse rechtfertigte und es erlaubte, die innerkapitalistischen Konflikte und Spannungen zu verdrängen.
Früher einmal stand der Feind vor allem im Osten, jetzt lauert er überall. In der Zeit des sogenannten Kalten Krieges wurden persönliche Ängste vor Zerrüttung ebenso wie familiäre Dramen mühelos dem Ost-West-Konflikt aufgebürdet und in seinen Termini ausgedrückt und buchstabiert. Eine politische Entspannung kann psychisch gerade die gegenteiligen Folgen haben: Verschwindet ein Feind durch Entspannung oder Kapitulation, schwindet auch die Möglichkeit, eigene Konflikte auf ihn abzuwälzen. Das Bild des „Bösen“, das uns in Gestalt des jeweiligen Sündenbocks und Feindes präsentiert wird, ist das beste Gefäß für alle möglichen Bedrohtheits- und Unsicherheitsgefühle. Denen wären wir ausgeliefert, hätten wir nicht den jeweiligen „Feind der Saison“, der uns eine Verschiebung unserer diffusen Ängste ermöglicht, diese konkretisiert und im Kampf gegen die vermeintliche Angstquelle zugleich beruhigt. „Wir tun etwas, um das Übel zu beseitigen“, ist ja die Botschaft, die Obama verkündet. Nun werfen wir wieder Bomben. Den ISIS-Kämpfern am Boden zu begegnen, uns ihnen zu stellen und in die Augen zu sehen, sind wir zu feige. Wir lösen solche Probleme aus der Luft, machen uns die Hände und Uniformen nicht blutig. Den Kampf am Boden überlassen wir den kurdischen Peschmerga-Milizen, denen wir Waffen schicken. Lange Zeit waren die Kurden der Inbegriff des Schrecklichen, jetzt sind sie plötzlich die Repräsentanten des Guten und unsere tapfere Vorhut.