Freihandelsabkommen und Arbeitszeit: Ein Beispiel für die indirekte Senkung von Standards
Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA sollen Arbeit und Wohlstand bringen, so heißt es. Dazu sollen die Vertragspartner zwar gleichwertige Normen und Standards gegenseitig anerkennen – senken aber wolle man soziale und ökologische Standards nicht. So versprechen es jedenfalls die BefürworterInnen von Freihandelsabkommen. Schlüssig und überzeugend sind solche Beschwichtigungen nicht. Denn gerade die indirekte Senkung von Standards ist eine reale Gefahr. Dies sei nachfolgend an einem kleinen Beispiel aufgezeigt: dem deutschen Arbeitszeitgesetz. Von Patrick Schreiner[*].
Es gibt kaum einen Befürworter und kaum eine Befürworterin von TTIP, CETA und Co., der/die Ängste vor einer Senkung von Schutz- und Regulierungsstandards nicht regelmäßig herunterspielt. So sagte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) im Mai in seiner Eröffnungsrede beim „Dialogforum zur Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft“:
Durch ein Handelsabkommen könnten wir gleichwertige Standards gegenseitig anerkennen sowie doppelte Zulassungsverfahren abschaffen. Es geht also nicht darum, die Standards in einem der beiden Länder zu senken, sondern sie gegenseitig anzuerkennen […]
Michael Froman, der US-Chefunterhändler für die Verhandlungen über ein EU-US-Freihandelsabkommen TTIP, will Standards setzen – nicht senken:
Mit einem Freihandelsabkommen könnten wir Standards setzen, gegenüber Drittländern und der ganzen Welt: bei Arbeitnehmerrechten, Umweltstandards oder dem Schutz des geistigen Eigentums.
Und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will beschwichtigen:
Es geht hier nicht, wie oft gesagt wird, um die Absenkung von Standards – im Gegenteil.
Der Präsident des Europaparlaments und ehemalige Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokratie bei den Europawahlen, Martin Schulz, gab zum Besten:
TTIP darf Sozialstandards, Datenschutzregeln und Umweltschutz nicht unterminieren.
Das Problem ist nur: TTIP (und CETA und alle anderen Freihandelsabkommen) werden Standards unweigerlich unterminieren. Dies gilt zumindest, sofern die höchsten Standards nicht in den Abkommen selbst festgeschrieben werden (was nicht passieren wird). Um zu verstehen, weshalb und wie sie dies tun, ist es wichtig, den Unterschied zwischen einer direkten und einer indirekten Senkung von Standards zu verstehen. Ohne dass sie es auch explizit aussprechen, scheinen Gabriel, Froman, Merkel und Schulz nämlich nur die direkte Senkung von Standards zu meinen. Möglicherweise sagen sie damit nicht einmal gänzlich die Unwahrheit: Tatsächlich ist zu erwarten, dass die indirekte Senkung von Standards durch TTIP, CETA und Co. sehr viel umfangreicher ausfallen wird als die direkte.
Im Folgenden sei zunächst erläutert, was eine „direkte“ von einer „indirekten“ Senkung von Standards unterscheidet.
- Eine „direkte“ Senkung von Standards liegt vor, wenn sich in den Verträgen über eine gemeinsame Freihandelszone eine oder beide Verhandlungsseiten verpflichten, das bestehende Schutzniveau oder bestehende Regulierungen abzubauen. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn die EU vertraglich gezwungen würde, die berühmten Chlorhähnchen zuzulassen, oder wenn umgekehrt die USA gezwungen würden, europäischen Rohmilchkäse zu akzeptieren. Solche direkten Senkungen von Standards sind zwar mit Blick auf das EU-US-Freihandelsabkommen TTIP denkbar, aber unwahrscheinlich – nicht zuletzt wegen des enormen politischen Widerstands.
- Eine „indirekte“ Senkung von Standards hingegen liegt vor, wenn sie nicht direkt in den Freihandels-Verträgen selbst festgeschrieben wird, sondern sich erst im Zusammenspiel eines Freihandelsabkommens mit weiteren Gesetzen oder Abkommen ergibt. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn die USA gezwungen würden, die europäische Finanzmarktregulierung als gleichwertig anzuerkennen. Dann dürften sie zukünftig europäische Tochterbanken von US-Banken nicht mehr kontrollieren. Heute tun sie das noch – was der Finanzindustrie ein Dorn im Auge ist. Insbesondere, weil die USA bei der Regulierung von Banken in einigen Punkten strenger sind, als es die Europäische Union ist, sieht die Bankenlobby hier Handlungsbedarf. Eine gegenseitige Anerkennung von Standards wäre hier mit deren Abbau identisch. Solche indirekten Senkungen von Standards sind bei Freihandelsabkommen die Regel und nicht nur weit häufiger, sondern oft auch gefährlicher als direkte Senkungen.
Beispiele für die indirekte Senkung von Standards gibt es viele. Eines sei im Folgenden im Detail dargestellt. Es bezieht sich auf das Verbot von Sonn- und Feiertagsarbeit, wie es im deutschen Arbeitszeitgesetz festgeschrieben ist.
Zweck des gesamten Gesetzes ist es gemäß § 1, erstens die Arbeitszeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu begrenzen, zweitens zugleich eine gewisse Flexibilität bei den Arbeitszeiten zu gewährleisten und drittens Sonntage sowie Feiertage bestmöglich von Arbeit freizuhalten.
Das Gesetz enthält, entsprechend dieser Zielsetzung, konkretisierende Regelungen beispielsweise zur werktäglichen Arbeitszeit, zu Ruhezeiten und zu Nacht- und Schichtarbeit. Gleich in mehreren Paragraphen ist Sonn- und Feiertagsarbeit geregelt.
- In § 9 ist festgeschrieben, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen nicht beschäftigt werden dürfen.
- In § 10 werden zahlreiche Ausnahmen festgelegt – beispielsweise für Rettungsdienste, Polizei und Feuerwehr, für Messen sowie für Industriebetriebe, die aus technischen Gründen die Produktion nicht unterbrechen können.
- $ 11 enthält Regelungen zum Ausgleich von Sonn- und Feiertagsarbeit und begrenzt den Umfang von Sonntagsarbeit.
- $ 12 erlaubt unter bestimmten Bedingungen Abweichungen durch Tarifverträge.
Die hier relevante Ausnahme findet sich in § 13 Abs. 5. Sie hat es mit Blick auf Freihandelsabkommen durchaus in sich:
Die Aufsichtsbehörde hat abweichend von § 9 die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen zu bewilligen, wenn bei einer weitgehenden Ausnutzung der gesetzlich zulässigen wöchentlichen Betriebszeiten und bei längeren Betriebszeiten im Ausland die Konkurrenzfähigkeit unzumutbar beeinträchtigt ist und durch die Genehmigung von Sonn- und Feiertagsarbeit die Beschäftigung gesichert werden kann.
Dieser Absatz räumt Unternehmen einen Rechtsanspruch (!) auf die Beschäftigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen ein, sofern
- diese Unternehmen mit ausländischen Unternehmen in Konkurrenz stehen, die ihre Beschäftigten gleichfalls sonn- und feiertags arbeiten lassen,
- hierdurch die eigene „Konkurrenzfähigkeit unzumutbar beeinträchtigt“ ist und
- durch Sonn- und Feiertagsarbeit Arbeitsplätze erhalten bleiben.
Dieser Absatz ist alles andere als nebensächlich: Quasi täglich wird heute schon in Deutschland Sonn- und Feiertagsarbeit auf dieser Grundlage genehmigt. Zuständig für die Umsetzung sind die Länder. In der Regel begnügen sich die jeweiligen Ministerien als Genehmigungsbehörden mit einer mehr oder weniger umfangreichen Begründung und Erläuterung seitens der antragstellenden Unternehmen. Eine intensive Prüfung der Sachverhalte erfolgt in der Regel nicht. Ablehnungen sind Ausnahmen.
Und was hat das mit TTIP, CETA und Co. zu tun? Sinn und Zweck von Freihandelsabkommen ist es, den grenzüberschreitenden Handel auszuweiten. Dies hat unweigerlich zur Folge, dass die Konkurrenz zwischen Standorten und Unternehmen zunimmt. Damit wird auch die Zahl der Unternehmen zunehmen, die einen Rechtsanspruch darauf haben, ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen zu beschäftigen. Dies stellt eine indirekte Senkung von Standards dar – denn das Verbot von Sonn- und Feiertagsarbeit wird weiter ausgehebelt, ohne dass dies in den Freihandelsabkommen selbst so festgeschrieben wäre. Darunter zu leiden haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Man könnte dies verhindern, indem man in den Freihandelsabkommen Sonn- und Feiertagsarbeit verbietet und Ausnahmen auf ein absolut notwendiges Minimum beschränkt (ähnlich wie in § 9 und 10 des deutschen Arbeitszeitgesetzes). Das aber ist weder geplant noch gewünscht.
Stattdessen verkünden Merkel, Gabriel, Froman, Schulz und Co., dass man keine Standards senken werde. Und machen anschließend – indirekt – doch genau das.
[«*] Patrick Schreiner lebt und arbeitet als hauptamtlicher Gewerkschafter in Hannover. Er schreibt regelmäßig für die NachDenkSeiten zu wirtschafts-, sozial- und verteilungspolitischen Themen.