Eurokrise: Kleine Hoffnungszeichen beim Mainstream, kein Lernfortschritt bei Angela Merkel
Das diesjährige Treffen der Wirtschaftsnobelpreisträger in Lindau am Bodensee in der vorletzten Augustwoche und insbesondere Angela Merkels dortige Eröffnungsrede haben in den deutschen Medien vergleichsweise wenig Beachtung gefunden.[1] Das ist einerseits nicht bedauerlich, da bislang – von wenigen Ausnahmen wie etwa Joseph Stiglitz oder Paul Krugman einmal abgesehen – zumeist konservative, neoklassisch resp. monetaristisch orientierte Ökonomen den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten haben. Einen traurigen Höhepunkt bildete die nur als skandalös zu bezeichnende Nominierung von Eugene Fama (University of Chicago) im letzten Jahr. Zur Erinnerung: Nur wenige Jahre nach Beginn der globalen Finanzkrise wurde mit Fama ein Ökonom geehrt, dessen „Hypothese effizienter Märkte“ (efficient market hypothesis) besagt, dass Finanzkrisen unmöglich sind (siehe auch hier und hier).[2] Von Günther Grunert[*].
Andererseits war die Veranstaltung aus zwei Gründen interessant: Erstens kann sie als „Stimmungsbarometer“ dienen: Wie steht der ökonomische Mainstream – hier immerhin vertreten durch seine Elite – zur Austeritätspolitik in Europa, nachdem deren grandioses Scheitern mit jedem Tag offenkundiger wird? Von einem Stimmungsumschwung zu sprechen, wäre sicherlich verfrüht, aber überraschend war dennoch die harsche Kritik, die in Lindau selbst von konservativen Ökonomen an der europäischen Wirtschaftspolitik geübt wurde und über die im ersten Abschnitt dieses Beitrags näher berichtet wird. Zweitens bot das Treffen eine der eher seltenen Gelegenheiten, nicht nur bruchstückhaft, sondern in zusammenhängender und ausführlicher Form etwas über die wirtschaftspolitische Position Angela Merkels zu erfahren, die ja häufig genug diffus bleibt. Hört man sich die Eröffnungsrede der Bundeskanzlerin an, verfliegt aller vorsichtiger Optimismus sofort wieder. Denn wie im zweiten Abschnitt gezeigt wird, lässt sich bei Angela Merkel nicht der geringste wirtschaftspolitische Lernfortschritt feststellen. Abschnitt 3 beendet mit einem kurzen Fazit diesen Beitrag.
- „Ein schreckliches Ergebnis“
Der britische „The Telegraph“ berichtet in seiner Ausgabe vom 20. August 2014 von einem „massiven Angriff“ einer großen Zahl von Nobelpreisträgern auf die Wirtschaftspolitik in der Eurozone. Zitiert wird zunächst Peter Diamond (Massachusetts Institute of Technology), der gegenüber dem „Telegraph“ sagte: „Historiker werden Europas Zentralbanker teeren und federn. […] Junge Menschen in Spanien und Italien, die in dieser Rezession auf den Arbeitsmarkt kommen, werden auf Jahrzehnte negativ betroffen sein. Es ist ein schreckliches Ergebnis und es überrascht, wie wenig Aufruhr es gegen eine Politik gegeben hat, die so unfassbar destruktiv ist. […] Das ließe sich vermeiden mit einer besseren Nutzung von Konjunkturmaßnahmen und Infrastrukturausgaben. Das würde das Wachstum ankurbeln und auch dem Schuldenstand zugutekommen.“
Joseph Stiglitz (Columbia University) bezeichnete – so der „Telegraph“ – die Austeritätspolitik als einen „katastrophalen Misserfolg“ und sehe das „Risiko einer jahrelangen Depression, die selbst Japans verlorenes Jahrzehnt in den Schatten stellt“. Christopher Sims (Princeton University) ging gar so weit, die Existenz der Währungsunion in Frage zu stellen: „Wenn ich Griechenland, Portugal oder auch Spanien beraten würde, würde ich ihnen empfehlen, Notfallpläne für das Verlassen des Euro vorzubereiten. Es ist sinnlos, in der EWU zu sein, wenn das nur dazu führt, dass, sobald man von einem Schock getroffen wird, der Schock noch verschlimmert wird“ (alle Übersetzungen G.G.).
Auch gegenüber der konservativen „Welt am Sonntag“ äußerten sich einige Wirtschaftsnobelpreisträger sehr kritisch. „Die Welt“ zitiert Eric Maskin (Harvard University) mit den Worten: „Merkel verfolgt in Europa eine völlig falsche Politik. Der von ihr verordnete Sparkurs wird die Euro-Zone in die Depression schicken.“ Lars Peter Hansen (University of Chicago) sprach sich laut „Die Welt“ für Investitionen in Bildung oder Infrastruktur aus und warnte vor härteren Sanktionsmaßnahmen: „Einem Land, das bereits am Boden liegt, mit weiteren Strafmaßnahmen zu drohen, halte ich für keine so gute Idee.“ Schließlich wird von der Zeitung noch Edmund Phelps (Columbia University) zitiert: „Europa ist intellektuell und in Sachen Einfallsreichtum bankrott. […] Merkel scheint den Ernst der Lage nicht kapiert zu haben.“
Das alles sind klare Worte und den meisten davon kann man durchaus zustimmen. Wünschenswert wäre allerdings gewesen, die Ökonomen hätten sich bereits zu einem früheren Zeitpunkt in dieser Weise geäußert.[3]
- Angela Merkels Krisenanalyse
Angela Merkel beginnt den Teil ihrer Rede, der sich mit Europa befasst, mit der Feststellung, dass die Politik versucht habe, „neue Wege einzuschlagen, insbesondere in der Krise, die wir als Eurokrise bezeichnet haben. Man kann sie auch eine Staatsschuldenkrise oder eine Wettbewerbsfähigkeitskrise nennen.“ So ganz genau weiß Angela Merkel offenbar nicht, um welche Art von Krise es sich im Euroraum eigentlich handelt – es könnte eine Staatsschuldenkrise oder auch eine Krise der Wettbewerbsfähigkeit sein (oder beides?); in jedem Fall ist es irgendwie eine Eurokrise. Im Folgenden ist dann – kunterbunt gemischt – mal von zu geringer wirtschaftspolitischer Koordinierung, dann von „Altlasten in Form von sehr hohen Staatsverschuldungen“, dann wieder von intransparenten Bankensystemen etc. die Rede, ohne dass Angela Merkel auch nur den Versuch unternimmt, Zusammenhänge zwischen diesen Krisenursachen aufzuzeigen oder eine Gewichtung der einzelnen von ihr genannten Faktoren (Staatsschulden, Wettbewerbsfähigkeitsdefizite, Banken usw.) vorzunehmen.
Die schwammige, unklare Diagnose hält Merkel allerdings nicht davon ab, rigorose Therapiemaßnahmen vorzustellen. Eine Lehre aus der Krise ist demnach, „dass unser Referenzpunkt nicht der Durchschnitt aller Mitgliedstaaten des Euroraums ist, wenn es um Wettbewerbsfähigkeit geht, sondern dass der Referenzpunkt die Besten sein müssen und da auch nicht die Besten in Europa, sondern die Besten weltweit, wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen“. Offensichtlich zielt die Bundeskanzlerin immer noch (wie schon zuvor, z. B. in ihrem Beitrag auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im letzten Jahr) auf die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und ganz Europas gegenüber dem Rest der Welt ab, d. h. auf dauerhafte Außenhandelsüberschüsse mit den übrigen Ländern. Sie propagiert mithin weiter unverdrossen den Wettkampf der Nationen, eine absurde Idee, die das Modell des Wettbewerbs zwischen Unternehmen umstandslos auf Staaten überträgt, ohne zu bedenken, dass zwar Unternehmen andere Unternehmen, nicht aber Staaten andere Staaten vom Markt verdrängen können, ohne sich selbst zu schädigen. Der Sieger im Wettkampf der Nationen ist nämlich immer auch ein Verlierer, da er mit seinen Konkurrenten gleichzeitig seine Kunden ausschaltet: Erobern die Unternehmen eines wettbewerbsstärkeren Landes den Markt eines schwächeren Landes, so führt dies dort zu einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen, der den Menschen die Möglichkeit nimmt, weiterhin (in gleichem Umfang) die Güter des „Gewinnerlandes“ zu kaufen.
Außerdem: Wenn ein so großer Wirtschaftsraum wie die Eurozone insgesamt seine Wettbewerbsfähigkeit verbessert, zu wessen Lasten soll das gehen, wer soll dann also an Konkurrenzfähigkeit einbüßen? Die USA vielleicht, deren Leistungsbilanz bereits seit den 1980er Jahren fast durchgängig stark defizitär ist? Oder die Entwicklungsländer? Und was geschieht, wenn Europa – und darunter die EWU – tatsächlich zu den „Besten weltweit“ aufsteigt, damit wachsende Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber dem Rest der Welt erzielt, der Rest der Welt das aber nicht einfach hinnimmt, sondern seine Währungen gegenüber dem Euro abwertet? Eine Antwort auf diese Fragen sucht man im Vortrag Merkels vergeblich.
Stattdessen bringt sie erneut ihr Lieblingsargument von den 50 Prozent der weltweiten Sozialkosten, die Europa aus nur 25 Prozent des globalen BIP finanzieren müsse: „Man muss sich immer wieder vor Augen führen: Die Europäische Union hat noch einen Anteil von rund sieben Prozent an der Weltbevölkerung. Wir haben, wenn es einigermaßen läuft, einen Anteil von etwa 25 Prozent an der Wertschöpfung der Welt. Und wir haben annähernd 50 Prozent der Sozialausgaben der Welt. Wenn wir das auf Dauer erhalten wollen – unser Bevölkerungsanteil nimmt ab, unser BIP-Anteil wahrscheinlich auch –, dann müssen wir ziemlich kreativ, ziemlich innovativ sein und können uns wirklich nicht sozusagen am Mittelmaß der Welt orientieren.“
Gibt es eigentlich keinen Berater bzw. keine Beraterin im näheren Umfeld der Bundeskanzlerin, der oder die Angela Merkel darauf hinweist, dass sie hier eine Zahlenspielerei ohne jede Aussagekraft präsentiert? Solange der Anteil Europas an den weltweiten Sozialkosten durch die europäische Produktivität gedeckt ist, ist es völlig gleichgültig, ob der genaue Prozentsatz 40, 50, 60 oder sonst wieviel Prozent beträgt.
Etwas genauer: Jedes Land erwirtschaftet mit einer bestimmten Beschäftigtenzahl ein bestimmtes Einkommen, das im Regelfall in jedem Jahr mit dem Einsatz technologischer Innovationen im Produktions- und/oder Produktbereich ansteigt. Der technische Fortschritt führt mithin zu einem höheren realen Output je Arbeitsstunde, d.h. zu einer wachsenden Arbeitsproduktivität. Die erwirtschaftete Produktivität lässt sich in unterschiedlicher Weise verteilen (mit dem gleichen Effekt auf die Wettbewerbsfähigkeit); sie kann beispielsweise für höhere Einkommen oder vorrangig für kürzere Arbeitszeiten genutzt werden. Ebenso ist es möglich, dass ein Land beginnt, im Rahmen seiner Produktivitätsentwicklung stärker als andere Länder auf soziale Ausgaben statt auf reine Lohnsteigerungen zu setzen. Unterstellt man einmal zur Verdeutlichung eine gleiche Produktivitätsentwicklung in allen Nationen (bei unveränderten Währungsrelationen), so würde der Prozentanteil des gerade beispielhaft genannten Landes an den weltweiten Sozialkosten steigen, ohne dass ihm dadurch ein Nachteil in Form einer verminderten Wettbewerbsfähigkeit oder irgendeiner anderen Fehlentwicklung entstünde. Noch größer wäre der Spielraum des erwähnten Landes, seine Sozialausgaben (und damit seinen Anteil an den weltweiten Sozialkosten) zu erhöhen, wenn es z.B. nicht nur durchschnittliche, sondern im Ländervergleich weit überdurchschnittliche Produktivitätszuwächse verzeichnete.
Relevant sind immer nur die Arbeitskosten (incl. aller Lohnnebenkosten) pro Stunde im Verhältnis zum realen Output je Arbeitsstunde, d. h. die sog. Lohnstückkosten (Lohnkosten je Einheit Output) eines Landes, jedenfalls gilt dies unter den Bedingungen einer Währungsunion, innerhalb derer es keine Wechselkurse gibt. Betrachtet man den internationalen Wettbewerb von Ländern mit unterschiedlichen nationalen Währungen, so erhalten die „Lohnstückkosten in einer einheitlichen Währung“, die also zusätzlich Wechselkursänderungen berücksichtigen, zentrale Bedeutung. Eine Senkung oder zumindest Deckelung der Sozialausgaben in Europa, die Angela Merkel mit ihrem absurden Zahlenbeispiel möglicherweise anstrebt, brächte somit ebenso wenig wie eine allgemeine Kürzung der Löhne: Denn die übrigen Länder der Welt würden, wenn sie durch solche Maßnahmen unter Druck gerieten, von der Möglichkeit Gebrauch machen, ihre Währungen abzuwerten.
Das obige Zitat legt obendrein nahe, dass Angela Merkel der Unterschied zwischen Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit nach wie vor unbekannt ist. Denn mit „kreativ“ und „innovativ“ spricht sie ja Eigenschaften an, die zu einer hohen Produktivität führen können. Dass eine hohe Produktivität auch hohe Einkommen ermöglicht, ist richtig. Das eine kann es auf Dauer nicht ohne das andere geben. Aber – und das ist der springende Punkt, den die Berater der Bundeskanzlerin offenbar entweder selbst nicht verstehen oder zumindest ihr nicht ausreichend erklären können – eine hohe Produktivität bedeutet nicht automatisch eine hohe Wettbewerbsfähigkeit. Wenn etwa innerhalb einer Währungsunion in einem Land die Produktivität doppelt so hoch ist wie in einem anderen, dasselbe jedoch für die Arbeitskosten pro Stunde gilt, ergibt sich für das produktivere Land kein Kosten- und damit kein Wettbewerbsvorteil. Weisen hingegen z. B. zwei Länder das gleiche Produktivitätsniveau auf, sind aber in einem von beiden die stündlichen Arbeitskosten niedriger als im anderen, so verfügt das Niedriglohnland über eine höhere preisliche Wettbewerbsfähigkeit als das Vergleichsland. Entsprechend kann ein Land (bei hinreichender Lohnzurückhaltung) das Mittel der Preisunterbietung auch dann einsetzen, wenn es seine Produktivität nur relativ wenig oder auch gar nicht steigert.
Genau das hat ja Deutschland im ersten Jahrzehnt der EWU getan: kaum investiert, so dass die Produktivitätsentwicklung recht bescheiden verlief, aber die Preisentwicklung durch Lohnkostendumping schön unterhalb derjenigen der Handels- und Währungspartner gehalten – daraus ergab sich eine unschlagbare internationale Wettbewerbsfähigkeit. Mit Kreativität und Innovationen hatte diese Strategie herzlich wenig zu tun.
Was die Berater der Kanzlerin zusätzlich zu erklären vergessen haben: Eine hohe Wettbewerbsfähigkeit ist für ein Land kein speziell erstrebenswerter Zustand, denn, wie man am Beispiel Deutschlands lernen kann, führt das auf Dauer nur dazu, dass das Land sehr viel Vermögensansprüche gegenüber dem Ausland hat, aber vollkommen unklar ist, ob es diese Vermögensansprüche jemals in voller Höhe durchsetzen kann, d.h. ob das bei ihm verschuldete Ausland seine Schulden jemals zurückzahlen wird. Anzustreben ist für ein Land vielmehr eine hohe Produktivität (unter Berücksichtigung der langfristigen Nachhaltigkeit seiner Wirtschaftsweise) bei ausgeglichener Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den Handelspartnern, also bei ungefähr ausgeglichenem Außenhandel.
Doch diese logischen Zusammenhänge sind für Angela Merkel böhmische Dörfer. Stattdessen reitet sie lieber wieder auf dem Schuldenthema herum. Wie schon oft in der Vergangenheit preist sie erneut Deutschland als leuchtendes Vorbild in Europa. Wohl auch mit Blick auf Frankreich und Italien stellt sie fest: „Deutschland hat die Erfahrung gemacht, dass wir Haushaltskonsolidierung und Wachstum recht gut zusammenbekommen. Das ist ja einer der großen Diskussionsgegenstände: Muss man sich für Wachstum eigentlich immer verschulden? Wir haben in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht, dass man das nicht muss, sondern dass wir unseren Haushalt konsolidieren konnten – mit einer Schuldenbremse in der Verfassung arbeiten und leben – und gleichzeitig in den letzten zehn Jahren deutlich mehr Beschäftigung entstanden ist.“
Die Bundeskanzlerin hat offenbar immer noch nicht verstanden, dass und wie sehr auch das deutsche Wachstum in den vergangenen fünfzehn Jahren durch Verschuldung finanziert wurde, nämlich durch laufende Verschuldung des Auslands gegenüber Deutschland. Wie auf den NachDenkSeiten schon oft erklärt, konkurrierte Deutschland mit seinem Lohndumping die anderen Euroländer nieder und erzielte anhaltende Leistungsbilanzüberschüsse, denen spiegelbildlich Defizite der südlichen Euroländer (incl. Frankreichs) gegenüberstanden. Deutschland trieb damit seine Partnerländer in eine wachsende Verschuldung – und zwar entweder deren Privatsektor oder deren Staatssektor oder beide. Die auf Dauer unhaltbare Auslandsverschuldung der Währungspartnerländer fand in der Eurokrise ihren Niederschlag. Sich vor diesem Hintergrund hinzustellen und zu behaupten, das Beispiel Deutschlands zeige, dass man sich für Wachstum nicht verschulden müsse, obgleich doch fast das gesamte Wachstum hierzulande seit Jahren auf der Verschuldung der Handelspartner beruht, offenbart eine erschreckende Ahnungslosigkeit. Man kann daraus nur schließen, dass Angela Merkel gar nicht weiß, dass Leistungsbilanzüberschüsse eine Verschuldung des Auslands darstellen und dass Deutschland ohne diese beispiellose dauernde Verschuldung des Auslands bei uns – seit Jahren im dreistelligen Milliardenbereich! – nicht nur kein Wachstum erzielt hätte, sondern vielmehr in eine schwere Rezession geraten wäre.
Die triumphale Feststellung der Bundeskanzlerin, dass es Deutschland – anders als anderen Ländern – gelungen sei, Haushaltskonsolidierung und Wachstum gleichermaßen zu erreichen, und die spätere nochmalige Betonung Merkels, dass sie „Wachstum und Haushaltskonsolidierung als zwei Seiten ein und derselben Medaille“ sehe, zeigen erneut, dass sie die Zusammenhänge zwischen den Finanzierungsüberschüssen und -defiziten der volkswirtschaftlichen Sektoren nicht kennt. Wie an anderer Stelle näher ausgeführt (siehe hier) addieren sich die Finanzierungssalden der drei großen volkswirtschaftlichen Sektoren Staat (Einnahmen minus Ausgaben des Staates), Privatsektor (Ersparnis minus Investitionen) und Ausland (entspricht der Leistungsbilanz mit umgekehrtem Vorzeichen) stets definitorisch zu Null. Daraus folgt, dass für Deutschland als Land mit dauerhaft hohen Leistungsbilanzüberschüssen die Realisierung eines ausgeglichenen Staatsbudgets relativ einfach ist. Denn ein Leistungsbilanzüberschuss erlaubt dem Staatssektor eines Landes, einen ausgeglichenen Haushalt oder sogar einen Haushaltsüberschuss zu erzielen und dennoch gleichzeitig dem Privatsektor (den Haushalten und Unternehmen) als Ganzes zu sparen.[4] Oder etwas genauer: Mit dem Leistungsbilanzüberschuss eines Landes erhält dessen Staatssektor Spielraum für einen Budgetüberschuss, ohne dass dadurch das Wachstum beeinträchtigt wird, solange der negative Finanzierungssaldo des Auslands den positiven Finanzierungssaldo des Privatsektors mehr als ausgleicht. Eine solche Situation war beispielsweise hierzulande im letzten Jahr gegeben: Im Jahr 2013 wies Deutschland einen negativen Finanzierungssaldo des Auslands in Höhe von –202 Mrd. Euro (das Minuszeichen bedeutet einen Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands) auf, dem ein positiver Finanzierungssaldo sowohl des Privatsektors (201,7 Mrd. Euro) als auch des Staates (0,3 Mrd. Euro) gegenüberstand. Die Summe der Finanzierungssalden der volkswirtschaftlichen Sektoren betrug folglich – wie dies immer der Fall ist – Null: –202 + 201,7 + 0,3 = 0.
Völlig anders ist die Situation bei den Euro-Krisenländern, die Leistungsbilanzdefizite verzeichnen. Weist ein Land ein Leistungsbilanzdefizit auf (einen positiven Finanzierungssaldo des Auslands), entsprechen diesem zwangsläufig in der Summe ein negativer Finanzierungssaldo des Staates und des Privatsektors, d.h. der Staat und der Privatsektor können dann niemals gleichzeitig Finanzierungsüberschüsse erzielen (mindestens einer der beiden Sektoren muss ein Defizit verzeichnen). In dieser Lage befindet sich beispielsweise Frankreich, das im vergangenen Jahr einen positiven Finanzierungssaldo des Auslands – also ein Leistungsbilanzdefizit – von +38,2 Mrd. Euro realisierte, dem ein gleich hoher negativer Finanzierungssaldo von Privatsektor und Staat zusammengenommen entgegenstand, der sich aus einem positiven Finanzierungssaldo des Privatsektors (50 Mrd. Euro) und einem entsprechend negativen Saldo (d.h. einem Haushaltsdefizit) des Staates in Höhe von –88,2 Mrd. Euro zusammensetzte: 38,2 + 50 – 88,2 = 0.
Versucht ein Leistungsbilanzdefizitland wie Frankreich, einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu realisieren (oder gar einen Budgetüberschuss), so ist dies allein dann möglich, wenn sein Privatsektor ein Finanzierungsdefizit (und damit eine steigende Verschuldung) in Kauf nimmt. Oder wiederum etwas präziser: Ein Land mit einem Leistungsbilanzdefizit kann nur dann einen ausgeglichenen Staatshaushalt aufweisen, wenn es ein Defizit des heimischen Privatsektors akzeptiert, das in seiner Höhe exakt dem Leistungsbilanzdefizit entspricht.[5]
Das Problem mit einer solchen Konstellation ist, dass sie sich zwar einige Jahre lang aufrechterhalten lässt, aber niemals nachhaltig sein kann. Wird nämlich das Wachstum des BIP durch eine Expansion der privaten Schulden getrieben (d.h. verschuldet sich der Privatsektor immer mehr), so stößt dieser Prozess irgendwann an eine Grenze: Erreicht die Höhe des Schuldendienstes einen bestimmten Prozentsatz der Einkommen, ist der Verschuldungsspielraum des Privatsektors ausgeschöpft, da die Einkommen den Schuldendienst begrenzen. Private Haushalte und Unternehmen werden dann beginnen, ihre Bilanzen umzustrukturieren, um das Entstehen einer prekären Finanzlage zu verhindern. Als Folge verlangsamt sich die aggregierte Nachfrage aus der Schuldenexpansion, es entsteht eine wachsende Ausgabenlücke, die Wirtschaft kommt ins Stocken und mit der einsetzenden Rezession gerät schließlich – über die automatischen Stabilisatoren – der Staatshaushalt ins Defizit (Mitchell/Muysken 2008, S. 222).
Zum Triumphieren gegenüber Partnerländern wie Frankreich oder Italien besteht demnach kein Anlass. Einmal ganz abgesehen davon, dass das Anstreben ausgeglichener Staatshaushalte im Euroraum in der gegenwärtigen ökonomischen Situation wirtschaftspolitischer Irrsinn ist, wären – wenn man es dennoch allgemein versuchte – die Ausgangspositionen und damit die Möglichkeiten für das Erreichen dieses Ziels in den einzelnen Euroländern höchst unterschiedlich. Es ist eben nicht so – wie Angela Merkel anscheinend immer noch glaubt (Stichwort: schwäbische Hausfrau) –, dass das staatliche Budgetergebnis allein vom Spareifer und der Ausgabendisziplin eines Landes abhängt; vielmehr wird es weitgehend durch die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, d.h. endogen, bestimmt.[6]
- Fazit
Heiner Flassbeck schreibt zu Angela Merkels Vortrag in Lindau völlig zu Recht: „Diese Rede, man muss es sagen, wird in hundert Jahren von den Historikern als bestes Beispiel dafür genommen werden, wie weit abgehoben von der Realität die deutsche Regierung kurz vor dem Höhepunkt der großen europäischen Krise war“ (Flassbeck 2014). In der Tat sind die Ausführungen Angela Merkels in Lindau, die hier nur in wenigen Auszügen wiedergegeben werden können, eine einzige Ansammlung von Leerphrasen, Halbwissen und schlichtem Unfug. Das lässt für die Zukunft wenig Gutes erahnen.
Auf der anderen Seite ist die herbe Kritik von Seiten der Mainstream-Ökonomen an der Wirtschaftspolitik in Europa zwar ein kleines Zeichen der Hoffnung, mehr aber leider nicht, zumal die Nobelpreisträger nur wenige konstruktive Lösungsvorschläge für die Eurokrise anzubieten haben. Zu oft schon wurde in den vergangenen Jahren – gerade nach Beginn der globalen Finanzkrise – ein Umdenken in den Wirtschaftswissenschaften erwartet, das dann regelmäßig ausblieb[7], selbst wenn die Realität der Theorie noch so sehr widersprach.
Literatur
- Blyth, M. (2013): Austerity – The History of a Dangerous Idea, Oxford
- Fama, E. F. (1970): Efficient Capital Markets: A Review of Theory and Empirical Work, in: The Journal of Finance, Vol. 25, 2, S. 383-417
- Flassbeck, H. (2014): Was im August wichtig war, 1. September
- Minsky, H. P. (1982): Can „It“ Happen Again? Essays on Instability and Finance, New York
- Mitchell, W./Muysken, J. (2008): Full Employment Abandoned – Shifting Sands and Policy Failures, Cheltenham
- Skidelsky, R. (2009): Keynes – The Return of the Master, New York
[«*] Grunert, Günther, Dr., geb. 1955, ist an den Berufsbildenden Schulen der Stadt Osnabrück am Pottgraben vor allem im Bereich Berufs- und Fachoberschule Wirtschaft tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Makroökonomie, internationale Wirtschaftsbeziehungen, Arbeitsmarkt.
[«1] Für wertvolle Anmerkungen zu diesem Beitrag möchte ich Friederike Spiecker sehr herzlich danken.
[«2] Nach der „Hypothese effizienter Märkte“ neigen Märkte dazu, knappe Ressourcen effizient zu verteilen (nämlich hin zu den produktivsten ökonomischen Aktivitäten) und finanzielle Risiken denjenigen ökonomischen Einheiten zuzuweisen, die sie am besten tragen können. Da alle Marktanpassungen sofort erfolgen und die Preise alle relevanten Informationen (die sog. „fundamentals“) über alles, was gehandelt wird, widerspiegeln, kann es niemals Blasen (d.h. Zeiten, in denen die Preise nicht die „fundamentals“ widerspiegeln) oder Fehlallokationen von Ressourcen geben. Somit ist auch das Auftreten von Finanzkrisen ausgeschlossen (Fama 1970).
[«3] Von dieser Kritik ausdrücklich ausgenommen ist Joseph Stiglitz, der von Anfang an eine kritische Position zur Wirtschaftspolitik in Europa bezogen hat.
[«4] Unter „Sparen“ ist hier die Geldvermögensbildung als Differenz zwischen den Einnahmen in einer Zeitperiode und den Ausgaben in derselben Zeitperiode zu verstehen. Gibt ein Sektor (oder Wirtschaftssubjekt) in einer Periode weniger aus, als er einnimmt, so erzielt er einen Einnahmenüberschuss, d. h. er „spart“. Dieser Einnahmenüberschuss (auch Finanzierungsüberschuss genannt) erhöht dann entweder den schon vorhandenen Geldvermögensbestand oder er ermöglicht es, den Schuldenstand zu reduzieren.
[«5] Dies wirft die Frage auf, was geschieht, wenn in einem Land mit einem Leistungsbilanzdefizit der Staat und der Privatsektor das Unmögliche versuchen und beide gleichzeitig Finanzierungsüberschüsse anstreben. Nehmen wir an, der Staat beginnt also, seine Ausgaben zu kürzen, während parallel der Privatsektor als Ganzes zu sparen versucht (und deshalb seine Ausgaben reduziert). Die Folge ist dann, dass die Wirtschaft zu schrumpfen beginnt: Die aggregierte Nachfrage und mit ihr der Output, die Beschäftigung und das Volkseinkommen fallen. Das sinkende Einkommen aber verringert nicht nur die Sparfähigkeit des Privatsektors, sondern verschlechtert auch über die automatischen Stabilisatoren den staatlichen Finanzierungssaldo. Gleichzeitig verbessert sich die Leistungsbilanz, da die Importe des Landes zurückgehen (die Importausgaben sind eine Funktion des inländischen Einkommenswachstums). Am Ende werden durch die Einkommensanpassungen die Finanzierungssalden des Staates, des Privatsektors und des Auslands wieder in Einklang gebracht, aber insgesamt bei einem niedrigeren BIP.
[«6] Es ist in höchstem Maße ärgerlich, dass in der öffentlichen Debatte mit der Fokussierung auf irgendwelche willkürlich gesetzten Defizitgrenzen, Schuldenbremsen etc. gänzlich die zentrale Rolle aus dem Blickfeld geraten ist, die der Staat bzw. staatliche Defizite für die Stabilisierung der Wirtschaft spielen (oder besser: spielen sollten) – von der Nachfrage nach Gütern, über die Aufrechterhaltung der Unternehmensgewinne (und damit von Output und Beschäftigung) bis hin zur Bereitstellung sicherer Anlagemöglichkeiten für den Privatsektor: „As the government deficit now virtually explodes whenever unemployment increases business profits in the aggregate are sustained. The combined effects of big government as a demander of goods and services, as a generator – through its deficits – of business profits and as a provider to financial markets of high-grade default-free liabilities when there is a reversion from private debt means that big government is a three way stabilizer in our economy […]” (Minsky 1982, S. 56).
[«7] Dazu nur ein Beispiel: Im Jahr 2009 hatte der Keynes-Biograph Robert Skidelsky – noch ganz unter dem Eindruck der „Großen Rezession“, die ein Jahr zuvor begonnen hatte, und weitgehend unwidersprochen – die Wiederentdeckung von Keynes gefeiert: „Die Rückkehr des Meisters“, so der Titel seines vielbeachteten Buches (Skidelsky 2009). Tatsächlich dauerte die globale Rückkehr von Keynes dann nur ein einziges Jahr, wie Mark Blyth (Blyth 2013, S. 54ff) zeigt.