Ansichten eines Putinverstehers
Das Bekenntnis ein „Putinversteher“ zu sein, scheint eine zweischneidige Sache. Dass „Verstehen“ nicht „Zustimmung“ heißt und ein „Versteher“ nicht dasselbe ist wie ein „Verehrer“ – diese semantische Eindeutigkeit ist möglicherweise nicht so selbstverständlich wie sie sein sollte. Zumal „Putinversteher“ seit der Eskalation der Ukraine-Krise als Denunziationsvokabel für jeden gebraucht wurde, der die Verantwortung für den Bürgerkrieg nicht allein Russland zuschreiben wollte. Wir, der Westen, sind immer die Guten, weil wir „Freiheit“, „Demokratie“ und „Menschenrechte“ auf unsere Fahnen schreiben, wenn wir imperiale Kriege führen. Wir sind auch immer unschuldig, wenn wir dabei Länder besetzen, Staaten zerstören, Zivilisten ermorden, Menschen foltern usw. – das sind „Kollateralschäden“, die wir zwar anrichten aber nie beabsichtigen. Das tun nur die Bösen, Leute wie Putin, die aus reiner Machtgier handeln, wenn sie etwa Zivilflugzeuge vom Himmel holen ohne einen Schuss abzugeben, aber es ist klar, dass sie es waren. Weil sie die Bösen sind. Von Mathias Bröckers.
Mathias Bröckers, Paul Schreyer: Wir sind die Guten – Ansichten eines Putinverstehers oder wie uns die Medien manipulieren, Westend-Verlag, 208 Seiten, 16,99 Euro
Dem Publikum einen solchen Schwarz-Weiß-Film, ein Blame Game auf Kindergartenniveau vorzuführen und es als Realität zu verkaufen, das ist die grundlegende Manipulation, der wir derzeit durch die großen Medien ausgesetzt sind. Und die auch dafür sorgte, dass die Suche nach einem etwas differenzierteren Verständnis denunziert und Russland,- oder Putinversteher zum Schimpfwort wurde. Wo jedoch nicht mehr analysiert werden darf, da herrscht Ideologie, wo Verstehen verboten wird, regieren Glaubensbekenntnisse. Und da sollte niemand mitmachen, der noch bei Verstand ist.
Es scheint aber indessen, dass sehr viele Bürger noch über genügend gesunden Menschenverstand verfügen und spüren, dass sie mit diesem Schwarz-Weiß-Film über einen stets das Gute wollenden Westen, der hilflos dem aggressiven Mega-Schurken Osama Bin Putin ausgesetzt ist, über den Tisch gezogen werden. Selten klafften öffentliche und veröffentlichte Meinung in Deutschland weiter auseinander wie im Zusammenhang dieses Konflikts. Dass sich die Leitartikler und Redakteure der Großmedien noch wundern, auf wie viel Unglauben (und Leserproteste) sie mit ihrer Inszenierung des Kreml als wiedergeborenen Hort des Bösen stoßen, ist allerdings verwunderlich, denn schon ein kurzer ein Blick auf die Landkarte zeigt, wie sich die NATO in den letzten 20 Jahren ausgebreitet hat.
Wer dann noch einen Blick auf das geopolitische Schachbrett wirft – und auf die Pentagon-Strategie einer nuklearen Erstschlagsdrohung sobald Russland mit einer Raketenabwehr umstellt ist und nicht mehr antworten kann – sollte verstehen, warum die zweitgrößte Nuklearmacht der Erde kein Interesse daran haben kann, dass NATO-Raketen nun direkt vor ihrer Haustür aufgestellt werden sollen. Und warum es im Sinne des Friedens und der Zusammenarbeit in Europa äußerst wünschenswert wäre, wenn eine neutrale, blockfreie Ukraine künftig als Brückenkopf zwischen Europa und Asien fungieren könnte. Wünschenswert sowohl für das Land selbst, das in den kaum mehr als zwei Jahrzehnten seines Bestehens noch nicht zu einer nationalen Identität gefunden hat, als auch für seine Nachbarn in Russland und in Europa. Warum taucht eine solche Rolle der Ukraine, die ihre multi-ethnischen Provinzen unter einem föderalen Dach vereinigt und Wirtschaftsbeziehungen sowohl nach Osten als auch nach Westen aufbaut, bisher weder als Option noch als Zielvorstellung am politischen Horizont auf ? Spätestens die Beantwortung dieser Frage entlarvt den Schwarz-Weiß-Film, den unsere Medien von diesem Konflikt zeichnen, als Farce. Denn verantwortlich für die Tatsache, dass die Ukraine statt zu einem neutralen Brückenstaat zu einem neuen Fronstaat im Kalten Krieg gemacht und in einen blutigen Bürgerkrieg verwickelt wurde, sind weniger Russland und Putin – die mit einer solchen Lösung sehr gut hätte leben können – sondern in erster Linie die USA, die NATO und ihr ziviler Arm, die EU. Diese Einschätzung stammt übrigens nicht von einer Putin-Fanseite, sondern aus einer aktuellen Analyse in „Foreign Affairs“ (John Mearsheimer: Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault), einem Organ des „Council on Foreign Relations“, dem sich nur schwerlich Russophilie nachsagen lässt. Sehr wohl aber die Kenntnis des kleinen Einmaleins der Geopolitik und einen realistischen Blick auf die Lage. Denn es war nicht Russland, das gegen die Absprachen der 2+4 Verträge seinen militärischen Einflussbereich ausdehnte, es waren die USA und die NATO; es war nicht Russland, das mit seinem Angebot einer Zoll,-und Handelsunion der Ukraine die Pistole auf die Brust setzte, es war die EU, die mit ihrem Entweder/Oder-Angebot den Konflikt anheizte und die Regierung in Kiew zwang, mit der wirtschaftlichen EU-Assoziation auch die militärische Präsenz der NATO zu schlucken. Es war auch nicht Russland, das die berechtigten Bürgerproteste gegen eine korrupte Regierung als Trittbrett für einen gewaltsamen Putsch in Kiew nutzte. Wer die Scharfschützen auf dem Maidan beauftragte, deren massenhafter Mord der Auslöser für den Umsturz war, ist bis heute unaufgeklärt, ebenso wer die Schüsse auf den malaysischen Flug MH-17 abgab. Für beides wurde Putin umgehend und lautstark beschuldigt, wobei irgendein Beleg dafür niemals aufgetaucht ist. Stattdessen werden die Aufzeichnungen der Voice-Recorder, der ukrainischen Flugüberwachung und die Satellitenbilder der USA bis heute unter Verschluss gehalten. Für diese Nicht-Ermittlung und Nicht-Aufklärung lässt sich keine andere Begründung finden, als dass sie der Vertuschung dienen – und das Schweigen der großen Medien über diesen Skandal zeigt einmal mehr, dass sie nach wie vor auf ihrer Schwarz-Weiß-Malerei beharren. Und statt der Forderung, die Verantwortlichen für den Tod hunderter Menschen endlich zu ermitteln, lieber eine russische Lastwagenkolonne mit Babynahrung und Decken hysterisch zur „militärischen Invasion“ hochschreiben. Insofern scheint der Vorwurf mehr als berechtigt, dass sich die Medien von ihrem Auftrag möglichst neutraler, objektiver Information verabschiedet und zur Konflikt,- und Kriegspartei geworden sind.
„Wie wird die Welt regiert und in den Krieg geführt? Diplomaten belügen Journalisten und glauben es, wenn sie’s lesen,“ notierte der Wiener Schriftsteller Karl Kraus, nachdem auf eine Falschmeldung der deutschen und österreichischen Presse über einen französischen Bombenabwurf auf Nürnberg Ende Juli 1914 unmittelbar die Kriegserklärung an Frankreich erfolgt war. Dieser fingierte Bericht war für ihn die Urlüge und das Paradebeispiel für die Manipulation der Massen in Kriegszeiten, die Kraus dazu führte, „den Journalismus und die intellektuelle Korruption, die von ihm ausgeht, mit ganzer Seelenkraft zu verabscheuen.“
Die Art und Weise, wie der Journalismus, auch der sogenannten „Qualitätspresse“, den Konflikt in der Ukraine darstellt, gibt allen Anlass, diesen Abscheu nachzuempfinden. Wie aber sollen wir, der Souverän, das Volk, entscheiden, welche Position in diesem Konflikt vernünftig ist, wenn Politik und Medien die Agenda der USA und der NATO und die zugrundeliegende militärische Doktrin des anglo-amerikanischen Imperiums, die globale „Full Spectrum Dominance“, systematisch ausblenden ? Und damit auch die dazu notwendige geopolitische Strategie, den Rohstoffriesen Russland, der über etwa ein Drittel aller planetaren Rohstoffe verfügt, militärisch und ökonomisch unter Kontrolle zu bringen. Nur wenn über diesen amerikanischen Masterplan einer unipolaren Welt gesprochen wird, nur wenn die Interessen des Westens und die Russlands offen auf dem Tisch liegen, kann über Krieg und Frieden in der Ukraine wieder vernünftig gesprochen und erfolgreich verhandelt werden. Und die entscheidende Frage beantwortet werden, ob es wirklich im Interesse Deutschlands und Europas ist, diesem Masterplan weiter zu folgen. Dass der französische und der deutsche Außenminister mit ihren russischen und ukrainischen Kollegen mittlerweile ohne Beisein der USA verhandeln scheint immerhin anzudeuten, dass „Old Europe“ auch seine eigene Interessen vertritt, die nicht deckungsgleich sind mit den geostrategischen Interessen der einzigen Weltmacht. Am Ende unseres heute erscheinenden Buchs heißt es dazu:
„Wandel durch Annäherung“ lautete 1963 die von Egon Bahr geprägte Formel, die eine neue deutsche Ostpolitik einleitete, als Alternative zur alten Politik der Stärke der Versuch des gegenseitigen Verstehens und Verhandelns. Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner Mauer, der den Erfolg dieser visionären Strategie krönte, ist es höchste Zeit, sich wieder an dieses außenpolitische Erfolgsmodell zu erinnern – zumal mit dem Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsmacht und Russlands zur Rohstoffmacht Nummer eins die Tatsache einer künftigen multipolaren Welt unabweisbar und ein Festhalten an der Doktrin der unipolaren Vorherrschaft der USA damit schlicht irrational ist. Mitten in Europa kommt Deutschland deshalb eine Schlüsselfunktion zu, eine Alternative zu entwickeln, gegen eine neue Politik der Stärke, die keine Perspektive hat – außer der nuklearen Apokalypse eines Dritten Weltkriegs.“