Die Verkehrung der Welt in mehreren Akten (3/3)
Karl-Heinz Klär am 12. April 2014 im Gespräch mit Kuno Rinke über den Finanzkapitalismus, die Krise der Europäischen Union und die Übertölpelung der jungen Generation. Grundlage des Gesprächs ist der Artikel „Die GroßeMittelKlasse“, den Karl-Heinz Klär am 7. Februar auf den NachDenkSeiten veröffentlicht hat. Aufgrund der Länge haben wir das Gespräch, das auch in der Zeitschrift Politisches Lernen erschienen ist, in drei Folgen unterteilt. Der erste Teil erschien vorgestern, der zweite Teil gestern.
- Eine schwäbische Hausfrau
Kommen wir zurück zur Makroökonomie, zu den Folgen der Finanzkrise und zur „Verkehrung der Welt”, der Sie in diesem Gespräch ein dreifaches Desaster angelastet haben. Sehen Sie einen politischen Ausweg daraus?
Es gibt Ansätze. Da in der Europäischen Union viel von Deutschland abhängt, ist es ein Fortschritt, dass in unserem Land die Zahl derer zunimmt, die begreift, dass in der EU nicht nur welche über ihre Verhältnisse gelebt haben, sondern auch welche darunter bleiben mussten, vor allem bei uns.
Wen meinen Sie damit genau?
Es sind vor allem diejenigen, die durch Schröders Agenda-Politik abgehängt wurden, aber ebenso die arbeitenden Mittelschichten, die in unserem Steuersystem wie Großverdiener behandelt und, anders als die wahren Großverdiener, tatsächlich abgezockt werden.
Ich vermute, der Anflug von Optimismus in Ihrer ersten Antwort hat mit dem aktuellen Ergebnis des Tarifstreits im Öffentlichen Dienst zu tun?
Unter anderem, ja. Da werden plötzlich von der Politik und in den Medien Lohnsteigerungen für gewöhnliche Beschäftigte hingenommen, die noch vor zwei Jahren als Anfang vom Ende des Abendlandes denunziert worden wären. Bemerkenswert und objektiv erfreulich!
Noch einen Ansatz?
Die Sicht auf Steuerschuld und auf Steuerbetrug hat sich in Politik und Medien ebenfalls realistisch gewendet. Die Betrüger sind keine stillen Helden mehr, und die Großverdiener geraten wieder in den Blick, wenn es darum geht, die Finanzbedürfnisse der öffentlichen Hand zu stillen.
Wie weit gehen Sie? Halten Sie das schon für eine Wende?
Nein, aus mehreren Gründen nicht. Die Bundesregierung der Großen Koalition und die Meinung machenden Medien nehmen hier etwas hin, was von der EU-Kommission und den meisten Partnern in der Europäischen Union leise gefordert und von der deutschen Bevölkerung mit Mehrheit unterstützt wird. Ich sehe nicht, dass die Große Koalition und die Medien in der Bundesrepublik davon auch überzeugt wären. Dazu müssten sie ja die volks- und weltwirtschaftlichen Zusammenhänge verstanden haben — nach meinen Erfahrungen ist das nicht der Fall.
Ist das nicht ein überhebliches Urteil?
Fragen Sie die Bundeskanzlerin, ihre Minister und Staatssekretäre, fragen Sie die Ministerpräsidenten und ihre Finanzminister, fragen Sie die Chefredakteure von Tagesschau, ZDF und SZ und die Herausgeber der FAZ unvorbereitet nach der Saldenmechanik von Wolfgang Stützel (1958) und dem Theorem von Gerhard Mackenroth (1952). Wenn Sie auch nur fünf annähernd korrekte Antworten bekommen, spende ich einen namhaften Betrag zusätzlich an Terre des Hommes. Nebenbei, Noah kennen die alle …
Was wollen Sie damit sagen?
Ich will damit sagen, dass die Chefs und Chefinnen der deutschen Politik und ihrer Meinung machenden Medien in volks- und weltwirtschaftlichen Angelegenheiten extrem unterbelichtet sind. Diese biederen Leute glauben ernsthaft, die sogenannte schwäbische Hausfrau sei ein Rollenvorbild für eine anständige Wirtschaft- und Finanzpolitik auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene. Von Standard- Erkenntnissen der wissenschaftlichen Volkswirtschaftslehre, die für die Wirtschafts- und Sozialpolitik von grundlegender und alltäglicher Bedeutung sind, haben sie dagegen oft nicht die mindeste Ahnung.
Sie meinen, daran habe sich im Gefolge der Finanzkrise nichts geändert?
Nein, daran hat sich nichts geändert.
Können Sie vor dem Hintergrund der allgemeinen und unendlich anmutenden Schuldenmacherei zumindest die Sehnsucht nach dem Role Model „schwäbische Hausfrau” verstehen?
Ja, das schon. Aber woher kommt die Schuldenmacherei: Hier der Privaten, dort der Unternehmen, andernorts der öffentlichen Hand und gelegentlich aller zusammen? Dahinter steckt ja nicht Dummheit, Gier oder sonst eine Bosheit! Enorm wachsende Kredite und Schulden liefern seit den 1980er Jahren den Schmierstoff für die gewaltige Ausdehnung der kapitalistischen Akkumulation. Das System der Plusmacherei, vulgo der Kapitalismus verlangt danach wie der Junkie nach Drogen, denn nur solange das Volumen der Geschäfte wächst, läuft die allgemeine Konjunktur und ist die Welt in Ordnung. Das meine ich nicht spöttisch. Alles wird leichter, wenn Output und Beschäftigung wachsen.
Welche Rolle hat dann der Ruf nach der „schwäbischen Hausfrau”?
Die Frage haben Sie bereits selbst beantwortet: Es ist eine Sehnsucht. Sie ist besonders stark, wenn es wieder mal fürchterlich gekracht hat.
Aber die Sehnsucht verhindert den Krach nicht?
Nein, nie. Sie verhindert auch den Krach nach dem Krach nicht. Denn wenn es gekracht hat, läuft jedes Mal der gleiche Film ab: Es wird restauriert.
Gäbe es denn eine realistische Alternative?
Für Radikalliberale und Kommunisten durchaus. Die sagen: Sinn einer solchen Krise ist die Reinigung. Die radikalen Liberalen hoffen, dass der Kapitalismus daraus gestärkt hervorgehen wird; die Kommunisten hoffen, dass die Leute endlich die Nase voll haben und etwas Neues haben wollen.
Und was genau macht die Bundeskanzlerin, die von vielen ja für den Inbegriff der schwäbischen Hausfrau gehalten wird?
Bei Griechen, Iren und Portugiesen ist sie radikalliberal, zu Hause weiß sie, dass die Leute mit Geld kein Geld verlieren wollen, dort ist sie eine zahnlose Restaurateurin der alten Verhältnisse. Aber lieber wäre ihr schon, man könnte den Übertreibungen des Kapitalismus einen Riegel vorschieben.
Dafür müssten Sie doch Verständnis aufbringen, oder?
Schauen Sie, ich bin in der Sache kein Kommunist wie oben beschrieben, ich mag Leute nicht leiden sehen. Ich bin aber auch kein schlapper Restaurateur und seufze melancholisch, wenn sich mit meinem Zutun wieder Verhältnisse etablieren wie jene, die uns den letzten Krach beschert haben.
Ich erinnere mich, Sie wollten vor Jahren das internationale Finanzkapital radikal neu reguliert sehen …
2010 haben mir im Plenum des Ausschusses der Regionen am Ende drei Stimmen gefehlt, um die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften der EU für eine radikale Neuregulierung der internationalen Finanzwirtschaft in Anspruch zu nehmen, ja. Der Versuch war ambitioniert …
Sie sind bescheiden geworden?
Weder intellektuell noch politisch. Mir geht es nun um einige wesentliche Schritte, die zwanglos machbar sind, wenn die deutsche Bundesregierung sich dazu entschließt. In unserem Land sind Steuern und Abgaben auf Arbeit bei kleinen und mittleren Einkommen hoch, die Abgaben sogar extrem hoch, sie müssen runter. Die geringe Besteuerung hoher und höchster Einkommen und vor allem von Vermögen ist ein Witz, was aber nicht am zu geringen Höchstsatz der Einkommenssteuer liegt, sondern an der unzulänglichen Besteuerung von Kapitaleinkünften inklusive Erbschaften, die muss wieder hoch.
In der EU muss Schluss gemacht werden mit der dummdreisten Strategie „Wie bescheiße ich meinen Nachbarn?” Und es muss endlich eine wirksame Finanztransaktionssteuer her, die erstens den Zunder aus den Schieß- und Zockerbuden des Finanzkapitals nimmt und zweitens die Finanzkraft der Staaten substantiell stärkt.Schließlich ist die Zeit reif, weltweit die üblen Orte des organisierten Steuerbetrugs — ihre Liebhaber nennen sie „Steueroasen — abzureißen, notfalls durch schlichte Kapitalverkehrsverbote auch gegen den Willen der kommerziellen und politischen Hintermänner dieses organisierten Verbrechens.
Sie sagen, das sei „zwanglos machbar”. Glauben Sie wirklich, dass man den US-Bundesstaat Delaware so ohne weiteres abreißen könnte oder auch nur das Haus 1209, Orange Street in der dortigen Stadt Wilmington, weil an dieser Adresse sage und schreibe 285 000 Anonyme Gesellschaften 2012 ihren Sitz hatten?
Okay, „zwanglos” gilt nur für die politischen Maßnahmen in der Bundesrepublik und weitgehend für jene in der EU.
- Eine verstörte Jugend
Selbst wenn man Ihren Optimismus gelten lässt, Herr Klär, bleibt ein gravierender Einwand: Es wird dauern.
Bestreite ich nicht. Deswegen muss in der Bundesrepublik noch eine zentrale Weiche umgelegt und ein sehr deutscher Wahnwitz beendet werden.
Ich habe eine Vermutung: Es geht Ihnen um die Staatsverschuldung …
Ja, zu dieser Ahnung gehört keine Sehergabe. Was sich die Politik, was sich die Modelle bastelnden Nationalökonomen und die Meinung machenden Medien in diesem Land seit Jahren in puncto Staatsverschuldung leisten, erfüllt den Tatbestand der gesteigerten Volksverdummung.
Sie halten die Bundesrepublik nicht für überschuldet, vermute ich.
Zunächst: Deutschland als Ganzes ist in der Welt Nettogläubiger, nicht Nettoschuldner. Die Schulden des Bundes, der Länder und Gemeinden sind ihrerseits in der Masse nichts Anderes als Forderungen der Bewohner dieses Landes an die deutschen Gebietskörperschaften. Die öffentliche Hand hat bei den Bürgern Kredite aufgenommen in Form von Anleihen, die Bürger halten im Gegenzug Wertpapiere, die der Schuldner verzinst. Die Schulden hier sind die Guthaben dort. Wenn der Staat einmal keine Schulden mehr haben sollte, wird es auch keine Guthaben mehr geben, die diesen Schulden entsprechen.
Saldenmechanik?
Ja. Zwei und zwei ist vier, wie Stützel sagte. Man braucht keine Theorie, um das zu verstehen, und ein ökonometrisches Modell schon gar nicht.
Aber bitte: Die deutschen Länder haben zu der Zeit, als Sie Bevollmächtigter von Rheinland-Pfalz waren, mit dem Bund eine Schuldenbremse ausgehandelt, dafür gab es eine Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Kammern, Bundestag und Bundesrat!
Das war das Werk der Finanzminister im Verein mit den Meinung machenden Medien. Die Finanzminister hatten den regelmäßig wiederkehrenden Ärger bei der Haushaltsaufstellung satt und wollten einen dicken Knüppel; die Regierungschefs von Bund und Ländern besaßen in der Sache keine eigene Expertise und Überzeugung; Vorsitzende der Kommission waren zwei Juristen, und die erste Geige spielte ebenfalls ein Jurist, noch dazu ein bajuwarischer; wer in den Landeskabinetten von der Chose abriet, bekam eine klassische politische Auskunft: Da kommen wir nicht drum herum, da müssen wir durch. Hier und da stellten Regierungschefs subkutan die Vertrauensfrage. Am Schluss stand die Bremse im Grundgesetz.
Wenn man Ihnen zuhört, könnte man meinen, dass die Überschuldung des Staates keine Gefahr sei.
Natürlich kann Überschuldung eine Gefahr sein. Aber wann kann man tatsächlich von Überschuldung reden? Wie wird Überschuldung zur Gefahr und für wen konkret? Und wen holt die Gefahr ein, wenn die Überschuldung in der Insolvenz des Staates endet? Die deutsche Diskussion hierzu ist aufschlussreich. In ihr wird nichts geklärt, und doch ist die Illusion einer einzigen klaren Auskunft in aller Munde, von den Rechtspopulisten bis zu den Grünen: Die Verschuldungspolitik versündigt sich an den Jungen, die Jungen werden die Zeche zahlen.
Versteht sich das nicht von selbst?
Von wegen, sachlich ist das ein grober Unfug. Und dennoch ziehe ich den Hut: Was für eine wirkmächtige, destruktive Angstmache ist hier in die Welt gesetzt worden! Die Jungen, vor allem die Jungen in den Medien — und diesmal nicht nur in den Meinung machenden — glauben ehrlich, sie seien die Gekniffenen, fürchten, himmelhohe Schulden des Landes und dazu die angeblich fürstlichen Renten der Alten stemmen zu müssen, die nicht sterben wollen — ohne Aussicht, selbst einmal eine anständige Rente zu beziehen.
Das sieht nach einer sehr düsteren Zukunft aus …
Wäre ja auch so …
Ist aber nicht so und wird so nicht sein. In Wahrheit erzeugt diese Angstmache eine nahezu perfekte Verkehrung der Welt im Interesse der Superreichen und ihres Anhangs.
Wie kommen Sie gleich wieder auf die Superreichen?
Die geistige Vorwegnahme künftiger Schuldenrückzahlung und das Leiden daran sind das stärkste Druckmittel, alle heutigen Schulden zu begleichen. Das ist der Sinn der Angstmache. Und die großen Gläubiger heute sind nun mal keine Hartz-4-Empfänger. Jung sind sie auch eher nicht.
Ist es denn wirklich nur Angstmache?
Ja. Bei durchschnittlicher Wirtschaftsentwicklung besteht nicht die mindeste Gefahr, dass die Bundesrepublik ihre Schulden nicht bedienen und eine auskömmliche Rente nicht gewährleistet werden kann. Das gilt selbst für den Fall, dass Bürgschaften fällig werden. Auch die meisten Partner in der EU werden keine Probleme haben, sogar bei einer Schuldenquote von 100% nicht; für Griechenland, Irland und Portugal wäre ein Schuldenschnitt angebracht und wird vermutlich auch kommen. Meine stillschweigende Voraussetzung bei dieser Prognose lautet: Die Europäische Zentralbank wird nicht germanisiert.
Noch was gegen den Strich?
Ja. Diese unverfrorene und sagenhaft erfolgreiche Angstmache schadet vor allem den Jungen und ihnen mehr als alles Andere! Wären die Jungen nicht so verstört, dann ergingen sie sich nicht in belanglosem Generationsgeplänkel à la Mißfelder, sondern bliesen zum Kampf für eine Erneuerung der geistigen und materiellen Infrastruktur unseres Landes, IHRES Landes.
Und skandierten die Parole: Jetzt öffentlich Kredite aufnehmen!?
Das hätte was! Die Bundesrepublik braucht nach der einigermaßen gelungenen Renovierung Ostdeutschlands nun dringend massive öffentliche Investitionen in der gesamten Republik: von der Bildung über die Forschung bis zur materiellen Infrastruktur. Zu viel ist liegen geblieben oder vernachlässigt worden. Wenn das Steuergeld (noch) nicht langt, müssen Kredite aufgenommen werden. Für Investitionen, deren Nutzen weit in die Zukunft reicht, ist Kreditfinanzierung ohnehin vernünftig.
Sie wollen die deutsche Welt auf den Kopf stellen.
Nein, vom Kopf wieder auf die Füße. Haben Sie das Gewese um die sogenannte Schwarze Null beim Bundeshaushalt verfolgt? Ich kann nur sagen: Die Anbetung der Schwarzen Null in nahezu allen deutschen Parteien und in nahezu allen deutschen Medien ist noch dümmer als die Anbetung des Goldenen Kalbs. Das ist Götzendienst! Eine rationale Politik sähe anders aus.
Der Staat soll also nicht sparen, sondern investieren?
Jetzt sind wir zwanglos am Knackpunkt angelangt. Auch wenn es dem Alltagsverstand nicht einleuchten mag: Der Staat kann nicht sparen! Der Staat kann sparsam mit den Steuergeldern umgehen, das ja, und das soll er gefälligst auch tun. Aber der Staat kann kein Geld für schlechte Zeiten auf die hohe Kante legen, das funktioniert im Rahmen der Volkswirtschaft nicht, und im Rahmen der Weltwirtschaft wäre der Versuch reine Zockerei. Die schlichte Wahrheit in Sachen Staat und Sparen lautet: Der Staat spart, indem er zu Hause investiert.
Investieren macht reich?
Ja. Gut investieren macht die Reichen reicher, wenn das Gleiche dem Staat im Interesse der Bürgerschaft gelingt, werden alle reicher. Und die Pointe im Jahr 2014 ist dann noch diese: Nie waren seit den 1960er Jahren die Kreditkosten niedriger als heute.
Abschließend: Können Sie sich ernsthaft vorstellen, dass die deutsche Politik einer solchen Wegweisung einmal folgen wird?
Sie werden sich wundern, wie rasch das gehen wird.
Jetzt machen Sie Witze.
Keineswegs. Nachdem wieder mal durch ist, dass Kredite unbedingt zurückgezahlt werden müssen – ich grüße David Graeber! – werden die großen Anleger ungerührt darauf dringen, dass gerade auch die solventen Staaten erneut ordentlich Schulden machen. Diese Anleger werden nicht hinnehmen, dass die Möglichkeit, Geld risikoarm, wertgeschützt, ja leicht profitabel zu verwerten, durch einen sehr erfolgreichen Kreuzzug in eigener Sache verbaut sein sollte.
Klingt nach Verschwörungstheorie.
Ist original James Carville. Der Mann war Bill Clintons überragender Wahlkampfchef 1990 und hatte ursprünglich als Präsident oder Papst wiedergeboren werden wollen. Aber dann entdeckte er, wo die wahre Macht steckt, und verkündete: „But now I want to come back as the bond market. You can intimidate everybody”.