Hintertür für Hartz V?
Bis zum Jahresende wollen CDU, CSU und SPD eine Novellierung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) vornehmen, das die Grundsicherung für Arbeitsuchende regelt und gemeinhin als „Hartz IV“ bezeichnet wird. Zunächst hat eine im Juni 2013 konstituierte Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Rechtsvereinfachung im SGB II“ ein Papier mit Empfehlungen zu den drei Teilbereichen „Einkommen und Vermögen“, „Kosten der Unterkunft und Heizung“ sowie „Verfahrensrecht“ ausgearbeitet, anschließend die Bundesagentur für Arbeit zahlreiche Änderungsvorschläge dazu unterbreitet.
Seither wird das Thema von Zeit zu Zeit häppchenweise in die Öffentlichkeit lanciert, indem man einzelne politische Versuchsballons startet und das mediale Echo abwartet. Dahinter steht offenbar das Ziel, Schlussfolgerungen für die Durchsetzbarkeit besonders heikler Änderungen zu ziehen. Von Christoph Butterwegge.
Exemplarisch angeführt sei die Forderung nach „Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die Erhebung von Daten im Internet“ durch die Träger der Grundsicherung. Zur Begründung wies die Bundesagentur für Arbeit auf die wachsende Bedeutung des Internets für Handel und Dienstleistungen hin. Es sei davon auszugehen, dass „in nennenswertem Umfang“ auch Leistungsberechtigte auf diese Weise computergestützt Einkünfte erzielten, ohne sie dem für sie zuständigen Jobcenter zu melden. Die von der Bundesagentur für Arbeit geplante „automatisierte Beobachtung des Internets zur Feststellung von Leistungsmissbrauch“ erregte im Frühherbst 2013 wahrscheinlich aufgrund der zeitlichen Nähe zum NSA-Skandal größeres Aufsehen, wurde überwiegend als „Ausweitung der Schnüffelpraxis“ kritisiert und nicht bloß von den potenziell Betroffenen, Arbeitsloseninitiativen, Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden zurückgewiesen.
Erfahrungen mit früheren „Korrekturen“ der Hartz-IV-Reform
Kaum war Hartz IV am 1. Januar 2005 in Kraft getreten, schon nahm die zweite Große Koalition zahlreiche Gesetzesänderungen vor. Die im Ersten und im Zweiten SGB-II-Änderungsgesetz sowie im Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz enthaltenen Modifikationen der rot-grünen Arbeitsmarktreform liefen trotz einzelner Verbesserungen größtenteils auf eine Kürzung des Leistungsumfangs, wenn auch nicht der Regelsätze, sowie eine Ausweitung der Kontrollmaßnahmen und eine Verschärfung der Sanktionen vor allem für Jugendliche und Heranwachsende hinaus. Damit wollte man Leistungsmissbrauch unterbinden bzw. aufdecken und die Kosten für den Staat senken.
Extrem hart trafen die Gesetzesänderungen junge Menschen, die von zu Hause ausziehen und als Arbeitsuchende mittels der Grundsicherung nach dem SGB II lieber eine eigene Bedarfsgemeinschaft gründen wollten, als im Haushalt ihrer Eltern zu verbleiben. Mit dem Zweiten SGB-II-Änderungsgesetz wurden Kinder, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, zur Bedarfsgemeinschaft ihrer Eltern gerechnet und der Regelsatzbedarf für sie vom 1. April 2006 an auf 80 Prozent reduziert. Damit ging man weit über zivilrechtliche Unterhaltsverpflichtungen der Eltern für ihre erwachsenen Kinder hinaus. Wenn die jungen Menschen einen eigenen Hausstand gründen wollen, müssen sie nunmehr vorher die Zustimmung des kommunalen Leistungsträgers einholen. Ziehen sie ohne dessen Einwilligung bei ihren Eltern aus, erhalten sie bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gleichfalls nur 80 Prozent der Regelleistung. Heranwachsende und junge Erwachsene wieder in der Abhängigkeit von ihren Eltern zu belassen und ihnen per Mittelentzug die Möglichkeit der Gründung eines eigenen Hausstandes zu nehmen, ist einer wohlhabenden und hoch individualisierten Gesellschaft, die im Zeichen der Globalisierung berufliche Flexibilität und geografische Mobilität von ihren Mitgliedern verlangt, unwürdig.
Die strengen Kontroll- bzw. Strafmaßnahmen im Zweiten SGB-II-Änderungsgesetz und im Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz zeigten, dass Hartz IV mitnichten das Ende der Reformen, sondern womöglich nur einen Zwischenschritt auf dem Weg vom Sozial- zum „Kriminal-“ bzw. „Sicherheitsstaat“ darstellte. Gesellschaftspolitisch bedeutet die Schwerpunktverlagerung von der Wohlfahrtsproduktion zur Regulation der Risikopopulation per Überwachung und Bestrafung, dass ein immer rigideres Armutsregime etabliert wird.
Mit dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch hat der Bund im Frühjahr 2011 die nach dem Verfassungsgerichtsurteil vom 9. Februar 2010 erforderliche Neufestsetzung der Regelsätze (seither: Regelbedarfe) von Arbeitslosengeld (Alg) II und Sozialgeld, aber auch wieder öffentlich wenig beachtete Verschärfungen von Hartz IV vorgenommen. Die wohl gravierendste davon war folgende: Seit dem 1. April 2011 können Landkreise und kreisfreie Städte von den Bundesländern, in denen sie liegen, ermächtigt oder verpflichtet werden, die „angemessenen“ Kosten für Unterkunft und Heizung per Satzung auf ihrem Gebiet festzulegen. Dies gilt für Mietpauschalen, wenn auf dem kommunalen Wohnungsmarkt ausreichend freier Wohnraum zur Verfügung steht und sie dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit entsprechen, sowie für „Gesamtangemessenheitsgrenzen“, die Unterkunft und Heizung betreffen. Obwohl sich Heizkosten nur bedingt und Unterkunftskosten gar nicht für eine Pauschalierung eignen, hat Hessen im Juni 2011 als erstes Bundesland von der Möglichkeit einer solchen Satzungsermächtigung seiner Kommunen Gebrauch gemacht.
Für die Betroffenen wie für die Gesellschaft sind die Folgen eines Satzungserlasses im höchsten Maße unerfreulich: Durch eine Pauschalierung der Unterkunftskosten werden nicht bloß neuerliche Kürzungen des Existenzminimums von Transferleistungsbezieher(inne)n möglich, sondern manche Hartz-IV-Empfänger/innen vermutlich auch gezwungen, ihre bisher vom zuständigen Grundsicherungsträger bezahlte Wohnung in einem gutbürgerlichen Stadtviertel aufzugeben und in eine Hochhaussiedlung am Stadtrand zu ziehen, wo die Mieten niedriger sind. Gleichzeitig wird einer sozialräumlichen Segregation der Armutspopulation, die sich in Deutschland erst ansatzweise erkennen lässt, tendenziell Vorschub geleistet und der soziale Sprengstoff vor Ort vermehrt, was die Gefahr eines höheren Drogenmissbrauchs, wachsender Kriminalität und größerer Brutalität im Alltag mit sich bringt.
Verschärfung statt Verbesserung von Hartz IV
Vor weiteren Verschärfungen für Hartz-IV-Betroffene, die einmal mehr im Gewand rechtlicher Vereinfachungen daherkommen, ist aus vielerlei Gründen dringend zu warnen. Wenn z.B. erwogen wird, Bezieher(inne)n von Arbeitslosengeld II bei dreimaliger Nichtbefolgung der Einladung seines Jobcenters die gesamte Leistung zu streichen, bedeutet dies eine qualitative Veränderung der ursprünglichen Regelung. Zu befürchten ist, dass gewissermaßen durch die Hintertür der Verwaltungsvereinfachung ein noch strengeres Armutsregime errichtet werden soll: Hartz IV wird auf diese Weise am Ende womöglich zu Hartz V.
Vorgesehen sind auch versteckte Leistungskürzungen für Alg-II-Bezieher/innen: Selbstständigen, die nach zwei Jahren ihren Lebensunterhalt noch nicht selbst erwirtschaften, soll die aufstockende Leistung gestrichen werden. Dabei sind Anlaufschwierigkeiten beim Aufbau eines tragfähigen Geschäftsmodells normal, ganz abgesehen von psychosozialen Probleme jener Menschen, die von den Jobcentern als „Kunden“ bezeichnet, aber wie lästige Bittsteller/innen behandelt werden.
Neben den geplanten, teilweise durchaus sinnvollen, Vereinfachungen für die Jobcenter – genannt seien nur die Verlängerung des Bewilligungszeitraums von in der Regel sechs auf zwölf Monate und die Einführung einer Bagatellgrenze, bis zu der versehentlich zu viel gezahltes Alg II nicht an das Jobcenter bzw. die Agentur für Arbeit zurücküberwiesen werden muss – sollte es auch spürbare Verbesserungen für die Betroffenen geben. Dies gilt insbesondere für Sanktionen, denen vor allem Heranwachsende ausgesetzt sind. Hartz IV prägt das Schicksal von Millionen jungen Menschen, deren Lebensperspektiven davon ebenso maßgeblich bestimmt werden wie ihr Alltag. Jugendliche, Heranwachsende und junge Erwachsene, die weder einen Arbeits- noch einen Ausbildungsplatz finden, werden von den Jobcentern häufiger und (außer bei bloßen Meldeversäumnissen) auch schärfer sanktioniert als ältere Leistungsberechtigte. Diese enorme Strenge ist weder in vergleichbaren Ländern noch auf anderen Rechtsgebieten üblich. Beispielsweise billigt das Jugendstrafrecht den Heranwachsenden besonderen Schutz zu und verfährt ihnen gegenüber sogar viel milder als das Erwachsenenstrafrecht, was sich zum Zwecke der noch möglichen erzieherischen Einflussnahme auch geradezu anbietet.
Bereits nach der zweiten „Pflichtverletzung“ (z.B. der Weigerung, einen 1-Euro-Job anzunehmen oder Eigenbemühungen zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit nachzuweisen) droht Heranwachsenden neben dem Entzug der Regelleistung die Verweigerung der Übernahme von Miet- und Heizkosten durch das Jobcenter, was für sie absolute Verarmung bedeuten kann. Zweifel, ob eine solche Totalsanktionierung bzw. die Drohung damit verfassungskonform ist, drängen sich geradezu auf. Obwohl der Sozialstaat nach dem Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG) die Pflicht hat, ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ (Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 9. Februar 2010) für alle Transferleistungsbezieher/innen zu gewährleisten, tritt er dieses Verfassungsgebot ausgerechnet bei jungen Menschen mit Füßen. Umso berechtigter ist die von einem breiten Bündnis erhobene und von zahlreichen Einzelpersonen unterstützte Forderung nach einem Sanktionsmoratorium.
Auch nach der geplanten Neuregelung vieler Details im SGB II bleibt Hartz IV ein ständiger Konfliktherd. Auf dieser Dauerbaustelle der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik dürften weitere Streitigkeiten zwischen den Parteien und gesellschaftlichen Interessengruppen kaum ausbleiben. Das immer noch heftig umstrittene Gesetzespaket hat unsere Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert und sie kälter, aber keineswegs humaner oder friedlicher gemacht. Falls die SPD, der hauptsächlich wegen ihrer „Agenda“-Politik und der Hartz-Gesetze viele Millionen Wähler und hunderttausende Mitglieder abhanden gekommen sind, bei der anstehenden Gesetzesnovellierung erneut versagt, büßt sie auch noch den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit als „Partei der sozialen Gerechtigkeit“ und traditionelle „Verteidigerin des Wohlfahrtsstaates“ ein. Es darf keine Fortsetzung und weitere Verschärfung des Drucks auf Langzeitarbeitslose sowie Menschen geben, die im Niedriglohnsektor tätig sind und Hartz IV als sog. Erwerbsaufstocker beziehen!
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt ist die 5., aktualisierte Auflage seines Standardwerkes „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ bei Springer VS (Wiesbaden 2014) erschienen.
Siehe dazu: Politischer Druck auf Bundesregierung erfolgreich und weiterhin nötig
Bundesregierung nimmt offensichtlich Abstand von einigen “Rechtsvereinfachungen” bei Hartz IV
Quelle: DIE LINKE
In der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von Katja Kipping (Auswertung siehe unten) wird deutlich, dass sie offensichtlich Abstand nimmt von einigen Vorschlägen einer nicht öffentlichen Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur so genannten Rechtsvereinfachung bei Hartz IV, so von der Streichung der Mehrbedarfszuschläge für Alleinerziehende, die nicht erwerbstätig sind oder an einer Maßnahme teilnehmen, von der Ausweitung der Datenabgleiche und der Begrenzung des SGB-II-Anspruchs für Selbstständige auf 24 Monate. Dazu erklärt Katja Kipping, Vorsitzende der Partei DIE LINKE:
“ErwerbslosenaktivistInnen und die DIE LINKE haben besonders skandalöse Vorschläge der Bund-Länder-Arbeitsgruppe veröffentlicht und politischen Druck erzeugt. Auch dies hat dazu beigetragen, dass die Bundesregierung sich nun offensichtlich von einigen Vorschlägen distanziert. Wir brauchen weiteren außerparlamentarischen und parlamentarischen Druck: Hartz IV muss weg, eine individuelle sanktionsfreie Mindestsicherung in Höhe von 1050 Euro her.”
Quelle: Katja Kipping