Rechtsruck und geringe Wahlbeteiligung – eine Bedrohung für Europa
Bis auf CSU und FDP waren bei den Europawahlen am Wahlabend mal wieder alle Sieger. In der Begeisterung über die Wahlergebnisse ging völlig unter, dass diese Wahl alles andere als eine Begeisterung der Deutschen für das Europäische Parlament und für die Europäische Union erkennen lässt. Geradezu eine Bedrohung für den europäischen Gedanken ist das Abschneiden der europakritischen oder europafeindlichen Parteien innerhalb der EU-28. Auch in Deutschland ist die AfD mit einem Ergebnis von 7,1% erfolgreichste Partei, noch dramatischer ist der Rechtsruck in anderen Ländern. Jede Fünfte Stimme in Europa ging an Nazis, Rechtsextreme, Rechtspopulisten oder Europakritiker. Nimmt man noch die geringe Wahlbeteiligung hinzu, so müsste das Europawahlergebnis für alle europäisch Gesinnten und für alle Demokraten ein schrilles Warnsignal sein. Doch das Einzige was am Wahlabend offenbar interessierte, war die Frage, ob nun Jean-Claude Juncker oder Martin Schulz oder womöglich jemand anderes Präsident der Europäischen Kommission werden wird. Welche Schlussfolgerungen aus dem Rechtsruck und aus der Wahlabstinenz für die künftige Europapolitik zu ziehen wären, spielte in all den Stellungnahmen, Interviews und Analysen keine Rolle und das ist die wirkliche Bedrohung für eine politische Union in Europa. Von Wolfgang Lieb
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Bis auf den offenbar völlig erschütterten CSU-Chef Horst Seehofer und den entzauberten FDP-Jungstar Christian Lindner, waren alle anderen gestern Abend mal wieder Sieger. CDU-Fraktionschef Volker Kauder freut sich, dass die Unionsparteien trotz Verlusten von insgesamt 2,5% mit 30,2 % für die CDU (-0,5%) und mit 5,3% CSU (-1,9%), mit insgesamt 35,3% stärkste Partei bleiben. Merkel, die im Europawahlkampf plakatiert wurde, als stünde sie selbst zur Wahl, scheute allerdings am Wahlabend die Kameras. Im Willy-Brandt-Haus schien die Begeisterung bei den Fans keine Grenzen zu kennen, dass die SPD mit 6,5% erstmals bei Europawahlen zugelegt und einen der größten Zugewinne bei einer deutschlandweiten Wahl erhalten habe, aber gerade nur einmal 27,3% erreicht hat. Und das, obwohl ihr Spitzenkandidat Martin Schulz weitaus populärer war als der konservative Gegenkandidat Jean-Claude Juncker aus dem Nachbarland Luxemburg und obwohl die SPD im Wahlkampf die nationale Karte gespielt hat („Nur wenn Sie…SPD wählen, kann ein Deutscher Präsident…werden“).
Die Grünen (10,7%; – 1,4%) und die Linke (7,4%; -0,1%) haben sich in etwa gehalten. Nur die FDP (3,4%; – 7,6%(!)) und die CSU (sie ist von 48% bei der Wahl 2009 auf nur noch gut 40% abgesackt) gestehen eine Niederlage ein (Wolfgang Kubicki: „ein hundsmiserables Ergebnis“; Seehofer: „bittere Stunde und auch eine Niederlage für einen persönlich“).
Zwar haben die Vertreter der etablierten Parteien versucht hervorzuheben, dass die Europakritiker und die Rechtspopulisten (bei uns) in Grenzen gehalten wurden, das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die AfD aus dem Stand mit 7,1% den größten Zugewinn aller Parteien geschafft hat.
Jeweils einen Sitz erhalten die Tierschutzpartei, die ÖDP, die NPD, die Familienpartei, Die Partei (des Satirikers Sonneborn), die Piratenpartei und die Freien Wähler, obwohl sie nur um ein Prozent dümpeln.
Allenthalben wurde am Wahlabend auch der Anstieg der Wahlbeteiligung von 43 auf 48% als großer Erfolg gefeiert, dass aber – obwohl in 10 Ländern gleichzeitig Kommunalwahlen stattfanden – über die Hälfte der Wahlberechtigten nicht abgestimmt hat, das hat offenbar die Freude nicht getrübt.
Begeisterung für Europa und Zustimmung zur Politik in Europa sieht allerdings anders aus.
Sieht man auf die anderen 28 Länder die im Europäischen Parlament vertreten sind, so wird das Bild noch dramatischer:
In Belgien holen die Separatisten in Flandern gut 30%; in Dänemark wird die rechtspopulistische Dänische Volkspartei („Dansk Folkeparti“) mit rund 23% stärkste Kraft; die „Wahren Finnen“ liegen bei 13%; der Front National wird mit 25% stärkste Partei (2009 noch 6,3%) in Frankreich (gegenüber 13,9% der regierenden Sozialisten); die Nazis der „Goldenen Morgenröte“ in Griechenland kommen auf annähernd 10%; die EU-Gegner UKIP in Großbritannien schaffen ein politisches Erdbeben und kommen in manchen Regionen auf nahezu ein Drittel der Stimmen und lassen die Torys (23%) und Labour (24%) hinter sich; die Euroskeptiker der Fünf-Sterne-Bewegung (26,5%) in Italien werden zur zweitstärksten politischen Kraft, die rechtspopulistische Lega Nord kommt auf 6% und die antideutsche Berlusconi-Partei auf 18%; die rechte FPÖ (20,5%) bekommt jede fünfte Stimme in Österreich; auch aus Polen kommen Vertreter des „Kongresses der Neuen Rechten“ ins Europäische Parlament; genauso Rechtspopulisten aus Schweden. In Ungarn bekam die rechtskonservative Fidesz-Partei des Ministerpräsidenten Orban über die Hälfte der Stimmen und Mandate und zusätzlich erhielt die rechtsextreme Jobbik (Die Besseren) rund 15 Prozent und drei Mandate. In Tschechien holte die „Aktion unzufriedener Bürger“ 16%. (Angaben aus BR wahl) Die Anti-Europa-Partei des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders verlor zwar 3,5% Prozentpunkte, wurde aber mit 13,2% immer noch drittstärkste Partei.
Rechte Parteien kamen in Europa auf rund 19 Prozent der abgegebenen Stimmen, d.h. jeder Fünfte der in den 28 EU-Ländern wählen ging, wählte eine rechtsorientierte oder rechtspopulistische Partei. Da mag Jörg Schönenborn noch so sehr abwiegeln und die Tatsache herunterspielen, dass „nur“ 85 bis 90 Mandate den Rechtsextremen, Rechtspopulisten oder EU-Kritiker zufallen und diese angesichts von 750 Mandaten im Europäischen Parlament eine Minderheit darstellten, das ändert nichts daran, dass die Europawahl einen Rechtsruck in Europa darstellt.
Die Wahlbeteiligung war in den europäischen Ländern insgesamt niedriger als 2009 und in vielen Ländern sogar extrem niedrig ist: In der Slowakei gingen nur 13% der Wahlberechtigten an die Urnen, in Portugal waren es nur etwas über 12%, in Spanien etwas mehr als ein Drittel und in Tschechien nur jeder Fünfte.
Der Rechtsruck und die geringe Wahlbeteiligung müsste für die demokratischen Parteien ein schrilles Warnsignal sein. Ein Warnsignal dafür, dass wenn der politische Kurs in Europa so weitergefahren wird wie bisher, sich immer mehr Menschen von der Politik und damit auch von Europa abwenden oder dass sie bestenfalls ihrem Protest durch Stimmabgabe für Rechtskräfte Ausdruck verleihen. Frankreich ist dafür ein typisches Beispiel: Die Franzosen haben Sarkozy abgewählt, weil sie dessen neoliberalen Kurs satt hatten, nun ist auch Hollande umgefallen und auf diese Politik eingeschwenkt. Kein Wunder, dass immer mehr Leute darauf verzichten, wählen zu gehen oder – wenn überhaupt – aus Zorn die Rechte wählen.
Ob nun Martin Schulz oder der luxemburgische Bankenvertreter Jean-Claude Juncker Präsident der EU-Kommission wird, ist noch völlig offen, weil noch niemand vorhersagen kann, wer die Mehrheit im Europäischen Parlament hinter sich versammeln kann. Die konservative EVP ist mit 212 Abgeordneten zwar stärker als das Lager der Sozialdemokraten und Sozialisten mit 185 Abgeordneten. Ob der konservative Block zu Juncker steht und wie sich die übrigen über 350 Mandatsträger verhalten werden, ist schwer vorherzusagen. Wenn sich die Bundeskanzlerin Angela Merkel überwindet und ihren Parteifreund Juncker für das Amt des Kommissionspräsidenten gegenüber den anderen Regierungschefs durchsetzt, dann hat dieser alle Aussicht Präsident zu werden. Das auch deshalb, weil insbesondere die Krisenländer einen Deutschen als Präsidenten der EU nicht gerade als Hoffnungssignal betrachten können. Von Juncker könnten sie jedoch noch viel weniger erwarten.