Hinweise des Tages

Jens Berger
Ein Artikel von:

Hier finden Sie einen Überblick über interessante Beiträge aus anderen Medien und Veröffentlichungen. Wenn Sie auf “weiterlesen” klicken, öffnet sich das Angebot und Sie können sich aussuchen, was Sie lesen wollen. (HR/WL/JB)

Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert:

  1. Ukraine
  2. Transatlantik – Journalisten unter Bündnisverdacht
  3. Europawahl
  4. Orwell 2.0
  5. Verteilungs(un)gerechtigkeit
  6. „Die Wut wird sich entladen“
  7. Der Niedergang Europas, der als seine Rettung beschworen wird
  8. Paul Krugman – Points of No Return – Punkte ohne Umkehr
  9. Die deutsche und europäische Konjunktur im Frühjahr 2014: Gemischte Zeichen, aber keine Besserung in Euroland
  10. Mindestlohninitiative in der Schweiz: Ein falsches Signal
  11. Milliardenrisiken: Regierung will mit Konzernen über Atom-Altlasten verhandeln
  12. Krankenkassen beklagen massiven Abrechnungsbetrug
  13. Offener Brief des Wissenschaftlichen Beirats von Attac an den Direktor des Instituts für die Zukunft der Arbeit (IZA) Professor Klaus Zimmermann
  14. Umstrittener Deal: Gabriel bewilligt Rüstungsexporte in Milliardenhöhe
  15. Bildungsaufsteiger: Der Weg nach oben
  16. DGB-Bundeskongress 2014 beschließt: Gute Bildung für gute Arbeit und gesellschaftliche Teilhabe
  17. Zur Gleichschaltung: googlet mal…
  18. Sahra Wagenknecht – Ludwig Erhard: Der Kompromisslose

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Ukraine
    1. Ukraine-Krise: Helmut Schmidt wirft EU Größenwahn vor
      Helmut Schmidt rechnet mit der EU-Außenpolitik in der Ukraine-Krise ab. Der Altkanzler attestiert den Brüsseler Beamten Unfähigkeit – und warnt vor der Gefahr eines dritten Weltkriegs.
      Es sind scharfe Worte, die Altkanzler Helmut Schmidt wählt: Er wirft Brüssel vor, sich zu sehr in die Weltpolitik einzumischen. “Das jüngste Beispiel ist der Versuch der EU-Kommission, die Ukraine anzugliedern”, sagte der Sozialdemokrat in einem Interview mit der “Bild”-Zeitung. Falsch sei auch, Georgien an sich zu ziehen. “Das ist Größenwahn, wir haben dort nichts zu suchen.”
      Auf die Frage, ob Schmidt, mehr außenpolitische Zurückhaltung derEU fordere, antwortet er: “Nicht von der gesamten EU, aber von den Beamten und Bürokraten in Brüssel. Die verstehen davon zu wenig! Und sie stellen die Ukraine vor die scheinbare Wahl, sich zwischen West und Ost entscheiden zu müssen.”
      Weiter sagte Schmidt: “Ich halte nichts davon, einen dritten Weltkrieg herbeizureden, erst recht nicht von Forderungen nach mehr Geld für Rüstung der Nato. Aber die Gefahr, dass sich die Situation verschärft wie im August 1914, wächst von Tag zu Tag.”
      Schmidt meldet sich nur wenige Tage vor der Europawahl zu Wort. Zuvor hatte bereits SPD-Altkanzler Gerhard Schröder die Ukraine-Politik des Westens kritisiert. In den vergangenen Tagen hatten etliche aktive und ehemalige SPD-Politiker bemängelt, die EU habe die Spannungen in der Ukraine-Krise mitverursacht. (…)
      Schmidt kritisiert in dem Interview mit der “Bild”-Zeitung auch die Bundesregierung. Die von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) geplante Genfer Konferenz Mitte April sei sicher dringend geboten gewesen. “Aber zurzeit gibt es leider niemanden, der konstruktive Vorschläge zur Zukunft der Ukraine vorbringt”, sagt er.
      Quelle: SPIEGEL Online

      Anmerkung H.R.: Interessant wäre zu erfahren, von welcher „OSZE-Mission“ Herr Annen, der vom German Marshall Fund (Mitglied der Atlantik-Brücke!) gefördert wurde, spricht. Meint er etwa die (deutschen, dabei ein Oberst) Soldaten, die im Osten der Ukraine festgehalten wurden, wie die Verteildigungsministerin, die diese Reise auch als „OSZE-Mission“ bezeichnete?
      Es kann bezweifelt werden, dass die Aktionen der Soldaten im Rahmen der OSZE geschahen. Vielmehr kann angenommen werden, dass sie lediglich auf bilateraler Basis erfolgten. Siehe dazu auch: Deutsche Militärbeobachter in der Ukraine

    2. Die nützliche Erfindung der “Pro-Russen”
      Seit Beginn des Ukraine-Konflikts zeigen die deutschen Medien mit dem Finger auf Moskau. Innerukrainische Erklärungen für den Konflikt spielen hingegen kaum eine Rolle. Als nützlichste Medien-Erfindung erweisen sich dabei die “Pro-Russen”
      Die Konfliktparteien in der Ukraine als “pro-russisch” und “pro-westlich” zu bezeichnen, hatte sich seit Beginn der Auseinandersetzung medial eingebürgert. Jedoch beschreiben solche Begriffe die beiden Lager mit all ihren Ausprägungen und inneren Widersprüche nur ungenügend und zum Teil auch falsch. So war Janukowitschs Politik lange positiv auf die EU ausgerichtet und Brüssel galt er als legitimer Verhandlungspartner. Wohingegen die Partei Swoboda und andere rechtsradikale Gruppen lieber eine national-souveräne als eine europäisch-integrierte Ukraine wollen. Schon im Dezember 2013 konnten diese Dinge jedem Journalisten mit ein wenig Recherche klar sein.
      Statt “pro-russisch” und “pro-westlich” haben sich in der Ukraine denn auch ganz andere Bezeichnungen für die Konfliktparteien etabliert: Euro-Maidan und Anti-Maidan. Diese Begriffe nutzen hiesigen Medien jedoch kaum, hätten sie doch zur Folge, sich genauer mit den Gruppen beschäftigen zu müssen.
      Als Viktor Janukowitsch aus der Ukraine flüchtete, begann ein neues Kapitel in dem Konflikt. Für jeden ersichtlich, hatten die Euro-Maidan- und die Anti-Maidan-Bewegung nun die Rollen getauscht.[1] Die einen sitzen seitdem an den Schalthebeln der Macht, die anderen haben sich in ihren Regionen bewaffnet, öffentliche Gebäude besetzt und Barrikaden gebaut – geradezu ein Spiegelbild der Situation von Dezember bis Februar. [2] Auch die internationalen Unterstützer beider Seiten drehten ihre Argumentation jeweils um 180 Grad.
      Doch seit diesem Moment gilt das Ganze nicht mehr als Auseinandersetzung zweier inländischer Konfliktparteien, die jeweils mächtige ausländische Regierungen hinter sich wissen. Medien konstruieren stattdessen, dass Russland gegen die Ukraine kämpft.[3] Egal ob bewaffnet oder friedlich – aus ukrainischen Regierungsgegnern werden so pauschal “Pro-Russen”
      Quelle: Telepolis
  2. Transatlantik – Journalisten unter Bündnisverdacht
    Pro USA und contra Putin hätten sich Journalisten verbündet. Der Vorwurf ging durchs Netz bis ins ZDF in die Sendung “Die Anstalt”. Die Kollegen zeigten auf, welche ranghohen Journalisten in welchen NATO-nahen Organisationen Mitglieder oder gar Beiräte sind. Die Vorlage dafür lieferte Uwe Krüger mit seinem Buch “Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten”. Ein Stoff, der seit der Ukraine-Krise besonders Brisanz beinhaltet. Krüger zeigt Mitgliedschaften und Verbindungen zu pro-westlichen Bündnissen auf. Im Zusammenhang mit der Ukraine-Berichterstattung hat ZAPP Uwe Krüger dazu befragt.
    Quelle: NDR Zapp

    dazu: “Es ist Teil meines Geschäfts”
    Die öffentliche Diskreditierung, befremdet Stefan Kornelius von der “Süddeutschen Zeitung”. Aber mehr Transparenz stimmt er zu und gesteht ein, dass Journalisten hier was tun müssen.
    Quelle: NDR Zapp

  3. Europawahl
    1. Wie wird man Kommissionspräsident? Angst vor dem dritten Mann
      Ach, wenn doch alles so einfach wäre, wie Martin Schulz es gerne darstellt! Der Spitzenkandidat der Sozis für die Europawahl weiß scheinbar ganz genau, wie man Präsident der Europäischen Kommission wird. Man muss bloß am 25. Mai die meisten Wählerstimmen auf sich vereinen, dann wird man vom Europaparlament nominiert und gewählt – und schon darf man die beliebte Brüsseler Behörde führen! Doch ganz so einfach ist es nicht. Von einer Direktwahl des Kommissionspräsidenten ist nämlich keine Rede im EU-Vertrag von Lissabon. Auch nicht von einem Vorschlagsrecht des Parlaments. Das hat vielmehr der Europäische Rat, also die Versammlung der 28 Staats- und Regierungschefs. Die Chefs sollen bei der Nominierung des Kommissionspräsidenten zwar den Ausgang der Europawahl “berücksichtigen” – das war’s aber auch schon.
      Schulz warnt vor einem “Hinterzimmer-Deal”, sein Parteichef Sigmar Gabriel sogar vor “Volksverdummung”. Sie fürchten, Kanzlerin Merkel könne am Ende das Votum der Wähler übergehen und weder Schulz noch den konservativen Jean-Claude Juncker, sondern einen dritten Mann nominieren. Mit schnellen Entscheidungen sei nicht zu rechnen, die Nominierung könne noch Wochen dauern, warnte Merkel. Wie wird man eigentlich Kommissionschef? Offenbar weiß auch die Kanzlerin noch keine schlüssige Antwort. Klar ist nur, dass sie sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen will. Der Dumme könnte am Ende der Wähler sein.
      Quelle: taz

      Anmerkung Orlando Pascheit: Es hat schon seine Richtigkeit, dass auf vielen Wahlplakaten einfach Frau Merkel zu sehen ist. Gegen sie läuft nichts. In einem dürften sich Europas Regierungschefs, wie in Fall Barroso, einig sein, allzu mächtig darf er nicht werden – also ist wieder Mittelmaß gefragt, wie bei den meisten Kompromisskandidaten. Die Wahl selbst ist nicht nur Volksverdummung, sondern hinsichtlich der Wahl des Kommissionspräsidenten betrügerisch.

    2. CDU-Plakate zur Europawahl: der blanke Hohn
      “Gemeinsam erfolgreich in Europa”? Ja, wer denn? Deutschland, ok. Deutschland ist immer mehr oder weniger erfolgreich, ob mit oder ohne Europa. Aber “gemeinsam erfolgreich in Europa”? Ja, mit wem denn? Mit Spanien vielleicht? Arbeitslosenquote 25,3 %, Jugendliche unter 25 Jahren ca. 54 % – mehr als die Hälfte aller jungen Menschen ohne Job. Saisonbereinigt. Viele sehen für sich keinerlei Zukunft mehr in Spanien und wandern aus. Arbeitslose Tierärzte, das kam neulich im Fernsehen, schulen um und werden Schäfer. Weil Spanien jetzt wieder in großem Stil Landschaftspflege betreibt, mit Schafherden. Subventioniert von Brüssel.
      In vielen anderen EU-Ländern sieht’s ganz ähnlich aus mit der Arbeitslosigkeit: Italien (12,7 / 42,7 %), Frankreich (10,4 / 23,4 %), Portugal (15,2 / 35,4 %). Ebenso in den Balkanstaaten. Von Griechenland reden wir erst gar nicht. Auch nicht von der viel zu hohen Staatsverschuldung in ganz Europa. Und übrigens, nur weil ein Land den Rettungsschirm nicht mehr nötig hat, ist es nicht gleich erfolgreich. Es beginnt gerade erst wieder zaghaft, auf eigenen Beinen zu stehen. Der Staatsbankrott droht nicht mehr unmittelbar, weil man sich am Kapitalmarkt wieder Geld leihen und weitere Schulden anhäufen kann.
      Also, der ganze Süden Europas, inklusive Frankreich, kann wohl nicht gemeint sein mit “erfolgreich”. Selbst in den Beneluxstaaten fängt es bereits an zu bröckeln. (…)
      Nein, die CDU will uns mit ihren Wahlplakaten für dumm verkaufen. Sie hat eine europäische Entwicklung ganz wesentlich mit zu verantworten, die dem “einen Prozent” dient, vielleicht auch Deutschland (viele sagen, auf Kosten der anderen), aber “den Menschen in Europa” ganz gewiss nicht.
      Quelle: Denkraum

      Anmerkung unseres Lesers M.H.: “Gemeinsam erfolgreich in Europa”, das stellt die Tatsachen auf den Kopf und verleugnet die realen Verhältnisse. Angesichts der massenhaften Verelendung weiter Teile der europäischen Bevölkerung ist ein solcher Werbeslogan nicht nur dämliche Sprücheklopferei, er ist zynisch – der blanke Hohn.
      Die CDU will uns mit ihren Wahlplakaten für dumm verkaufen. Sie hat ganz wesentlich eine europäische Entwicklung mit zu verantworten, die dem “einen Prozent” dient, vielleicht auch Deutschland, aber ganz gewiss nicht “den Menschen in Europa”.

    3. Die NPD vor Straßburg
      Die Wahlen zum Europäischen Parlament nehmen daher in den strategischen Planungen der NPD einen herausragenden Stellenwert ein. Mit einem Mandat in Straßburg sind hohe Zuwendungen verbunden, mit denen die eigenen Unterstützer in Lohn und Brot gebracht werden können. Auch deshalb brachte sich der Schweriner NPD-Fraktionschef und neue Vorsitzende Udo Pastörs in Position. Der wegen „qualifizierter Holocaustleugnung“ verurteilte Kader glaubt, dass „in Brüssel ein relativ erfahrener Nationalist agieren sollte“.[2] Sein Interesse an „dem doch recht provinziellen Parkett“ in Schwerin hat der 61jährige inzwischen nämlich verloren. Im Landtag werden NPD-Anträge von den demokratischen Fraktionen unisono abgebügelt. Außer billigen Provokationen hat die Fraktion nichts zu bieten…
      Quelle: Blätter für deutsche und internationale Politik

      Anmerkung JB: Nicht nur die NPD verspricht sich viel. Hier in der niedersächsischen Provinz stammen gefühlt 75% aller Wahlplakate von AfD, NPD oder den Republikanern. Die großen Parteien scheinen den Wahlkampf nicht so wirklich ernst zu nehmen. Die Plakate von CDU, SPD und Grünen sind an Belang- und Phantasielosigkeit kaum zu überbieten und auch die Linke wiederholt vor allem lang bekannte Slogans. Das wirkt alles doch sehr blutleer. Am Ende soll sich nur niemand darüber echauffieren, dass die Rechtspopulisten und Rechtsextremen auch in Deutschland einen Erdrutschsieg feiern können.

    4. Rechtspopulismus ist mit der herrschenden Politik kompatibel
      Was sind die spezifischen Merkmale des Rechtspopulismus – in Abgrenzung zu Konservatismus und Liberalismus einerseits und in Abgrenzung zur extremen Rechten andererseits?
      Phillip Becher: Wenn man den Rechtspopulismus als politische Bewegung von anderen Strömungen abgrenzen will, lässt sich zunächst einmal festhalten, worin diese bürgerlichen Ideengebäude übereinstimmen. Konservatismus und Rechtspopulismus halten beide Ungleichheiten zwischen Menschen für eine natürliche Sache und erachten hierarchische Strukturen demnach als positiv. Während Konservative vor diesem Hintergrund jedoch ein positives Verständnis von „Elite“ haben, grenzen sich Rechtspopulisten strikt von den politischen und gesellschaftlichen Führungsgruppen ab. Diesen wird dann vorgeworfen, sich von dem Volk, als dessen einzig wahre Interessensvertretung der Rechtspopulismus sich geriert, entfernt zu haben. Hierbei werden unter dem „Eliten“-Begriff zumeist ziemlich unterschiedliche Akteure eingeordnet: Die etablierten Politiker ebenso wie Gewerkschaftsfunktionäre und manchmal auch Wirtschaftsbosse – also Akteure mit zum Teil sehr verschiedenen oder sogar gegensätzlichen Interessen. Diese Kritik ist aber keine egalitäre. Vielmehr ist man in der Regel der Auffassung, als rechtspopulistische Formation selbst die „bessere“ Elite stellen zu können.
      Das Verhältnis von Abgrenzung und Übereinstimmung zum Liberalismus lässt sich ganz ähnlich bestimmen. Der Rechtspopulismus ist liberal, insoweit man seine Favorisierung neoliberaler Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle in Rechnung stellt. Er ist antiliberal, wenn man sich anschaut, wie er gesellschaftliche Probleme lösen will. Die im Allgemeinen – ob nun zu Recht oder zu Unrecht sei an dieser Stelle mal dahingestellt – mit dem Liberalismus verbundenen Freiheitsrechte rangieren in seiner Werteskala entweder weit hinter der Forderung nach „law and order“, oder sie werden als nicht universell verstanden. Ein Beispiel liefert das Grundrecht der Religionsfreiheit und die anhaltende rechtspopulistische Agitation gegen den Bau und die architektonische Gestaltung muslimischer Gotteshäuser.
      Quelle: annotazioni
  4. Orwell 2.0
    1. Der Brief an die Kanzlerin
      Im Juli 2013 erhielt Angela Merkel einen offenen Brief, den die Schriftstellerin Juli Zeh gemeinsam mit über 30 Autoren verfasst hatte. Dieser Brief wurde von 67.407 Menschen unterschrieben. Sie forderten die Kanzlerin darin auf, den “größten Abhörskandal in der Geschichte der Bundesrepublik” nicht hinzunehmen. Eine Antwort hat Juli Zeh bis heute nicht bekommen. Weder auf ihren Brief noch auf den Aufruf gegen die Massenüberwachung durch die NSA, den über tausend Autoren aus aller Welt unterzeichnet haben. Nun schickt Juli Zeh der Kanzlerin eine Mahnung und fragt: “Warum schweigen Sie, Frau Merkel?”
      Letztes Jahr habe ich Ihnen schon einmal geschrieben. Mein Brief reagierte auf die Enthüllungen Edward Snowdens und stellte die Frage, wie Ihre Strategie für ein digitales Zeitalter aussehe, in dem die Freiheitsrechte der Bürger mit Füßen getreten und Grundprinzipien der Demokratie auf den Kopf gestellt werden. Gefolgt wurde dieser Brief von einem internationalen Appell, der von rund tausend Schriftstellern aus über achtzig Ländern unterzeichnet wurde und einen Schutz der persönlichen Freiheit im Kommunikationszeitalter fordert.
      Seitdem sind Monate vergangen, und ich habe von Ihnen keine ernst zu nehmende Antwort vernommen. Wir erleben einen Epochenwandel, der aufgrund seiner politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Implikationen mit der industriellen Revolution verglichen werden kann. Ihr Schweigen dazu, Frau Merkel, ist das Schweigen der mächtigsten Frau Europas. Es schrillt in den Ohren wie das Geräusch von Fingernägeln auf einer Schiefertafel.
      Kann es wirklich sein, dass Sie die Tragweite des Problems nicht erfassen? Es geht nicht nur um Ihr Handy. Es geht nicht einmal “nur” um die Aktivitäten der NSA, auch nicht “nur” um das Verhältnis Deutschlands zu Amerika oder darum, ob Snowden im Untersuchungsausschuss gehört werden soll oder nicht. Wir haben es mit Technologien zu tun, die unsere Lebensrealität bis in den tiefsten Kern des humanistischen Menschenbilds verändern. Es geht also um die Frage, wie wir in Deutschland und Europa in den nächsten fünfzig Jahren leben wollen. (…)
      Frau Merkel, ich wiederhole meine Frage. Antworten Sie nicht mir, antworten Sie Ihrem Volk: Wie sieht Ihre Strategie aus?
      Quelle: Zeit Online
    2. NSA-Ausspähung: Die DDR wusste frühzeitig Bescheid
      Wie umfassend die NSA ihre Alliierten nach dem jeweiligen Stand der Technik ausspionierte, wie selektiv die Amerikaner mit ihren deutschen Kollegen vom BND umgingen, war dem ostdeutschen Ministerium für Staatssicherheit seit 1985 bekannt.
      Die NSA-Überwachung deutscher Telekommunikation hat eine lange Tradition. Auf einer von der Wau Holland-Stiftung und von Reporter ohne Grenzen in Berlin veranstalteten Podiumsdiskussion mit dem ehemaligen NSA-Technikchef William Binney vertrat Klaus Eichner diese Ansicht. Der ehemals für das Treiben der NSA und CIA zuständige Chefanalytiker des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) berichtete, wie eine “Quelle” ihm 1985/1986 die sogenannte NSAR-Liste zuspielte, die das ganze Ausmaß der Überwachung der Alliierten durch die NSA dokumentierte.
      Auf der Podiumsdiskussion berichtete zunächst William Binney wie bei seinem Auftritt auf dem Europäischen Datenschutztag, wie die NSA die Telekommunikation überwacht. Seine Anmerkungen wurden von John Goetz (Geheimer Krieg) und Holger Stark (Der NSA Komplex) ergänzt. (…)
      Stasi-Abteilungsleiter Klaus Eichner erzählte von den “NSA Requirements” aus dem Jahre 1982, einer 4000 Seiten umfassenden Liste mit Beschreibungen all der Personen und Institutionen, die für die NSA informationsmäßig von Bedeutung waren. Diese “Bestell-Liste” der NSA umfasste rund 30.000 “Einzelposten”, was für Frankreich 50, für Deutschland 35 Seiten an “Bestellungen” ergab. “Es wurde niemand ausgespart, auch die eigenen Freunde nicht”. Eichner sah sogar eine Parallele zum Fall Snowden: Die Quelle war ein technischer Fernmeldeaufklärer der Bundeswehr mit relativ niedrigem Dienstgrad. Beim MfS war man sehr erstaunt, dass eine solche Person Zugriff auf ein derart brisantes Verzeichnis hatte.
      Quelle: heise online
    3. Gabriel heuchelt wieder: Gegen Google aber nicht gegen die NSA
      Was hat Sigmar Gabriel im Wahlkampf zur NSA-Affäre nicht alles von sich gegeben. Er hat Merkel als Marionette amerikanischer Geheimdienste bezeichnet und u.a. auch eine Vernehmung Snowdens gefordert. Kaum an der Macht, versucht er das zu praktizieren, was die Politik in der Vor-Snowden-Ära stets getan hat. Man tut so, als ginge es ausschließlich um amerikanische Konzerne wie Google & Co. Von den Geheinmdiensten ist keine Rede mehr. Diese Camouflage hat mehrere Vorteile. Man kann vom eigenen politischen Versagen ablenken und muss der amerikanischen Politik, der sich ein Gabriel ganz offenbar nicht ansatzweise gewachsen sieht, nicht die Stirn bieten. Mit den mächtigen eigenen Geheimdiensten wie dem BND muss man sich ebenfalls nicht anlegen.
      In einem heuchlerischen Beitrag in der FAZ wettert Gabriel gegen amerikanische Unternehmen und erwähnt die NSA noch nicht einmal. Wie kann man es überhaupt wagen, sich expressis verbis auf Leute wie Juli Zeh oder Sascha Lobo zu berufen, wenn man gleichzeitig die flächendeckende Überwachung durch Geheimdienste weltweit gezielt ausblendet.
      Quelle: Internet-Law
  5. Verteilungs(un)gerechtigkeit
    1. Aktuelle Daten und Analysen zur wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit
      der Ökonom Thomas Piketty und der neue Länderbericht der OECD haben die Debatte über wirtschaftliche und soziale Ungleichheit neu belebt. Die Hans-Böckler-Stiftung forscht seit vielen Jahren zu diesen Themen.
      Aktuelle Daten und Analysen finden Sie über die folgenden Links. Sie führen zu Pressemitteilungen oder Artikeln aus unserem Infodienst Böckler Impuls.
      Am Ende der Texte gibt es meist einen Link zu den vollständigen Studien, die von der Stiftung erstellt oder gefördert wurden.
      Vermögen: Jeder Vierte hat nichts. Zusammen mit Österreich weist Deutschland im Euroraum die höchste Ungleichheit bei der Vermögensverteilung auf. 28 Prozent der Bevölkerung haben netto nichts oder sind sogar im Minus.
      Reallöhne: Nur Tarifbeschäftigte im Plus. Die Bruttolöhne in Deutschland liegen real immer noch niedriger als im Jahr 2000. Stärker entwickelt haben sich die Tariflöhne, vor allem aber die Gewinn- und Vermögenseinkommen [PDF – 95.2 KB].
      Einkommensverteilung: Der Abstand zwischen hohen und niedrigen Einkommen ist zuletzt wieder gewachsen. Und auch an der vermeintlichen Entspannung in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre gibt es Zweifel, zeigt der aktuelle WSI-Verteilungsbericht.
      Niedriglöhne: Knapp ein Viertel der Beschäftigten arbeitet im Niedriglohnsektor. Tarifverträge schützen: 90 Prozent der tariflichen Lohn- und Gehaltsgruppen liegen oberhalb von 8,50 Euro [PDF – 257 KB].
      Armut: Bundesweit leben 18,9 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter der Armutsschwelle. Erstmals haben WSI-Forscher die Daten für 39 einzelne Regionen in der Bundesrepublik detailliert ausgewertet.
      Noch mehr wissenschaftliche Befunde auf unserer Themenseite im Netz.
      Quelle: Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung
    2. Nie waren Großbritanniens Reiche vermögender
      Die 1000 reichsten Briten besitzen gemeinsam rund 637 Milliarden Euro – und damit doppelt so viel wie noch vor fünf Jahren. Neben Geschäftsleuten zählen auch die Beckhams, Jamie Oliver und die Queen zu den Supervermögenden…
      Insgesamt konnten die reichen Briten ihr Vermögen im vergangenen Jahr noch einmal deutlich vermehren: Sie besitzen zusammen 518,975 Milliarden Pfund, das sind umgerechnet rund 637 Milliarden Euro – und 15,4 Prozent mehr als vor einem Jahr. Und im Vergleich zu 2009 hat sich ihr Vermögen sogar verdoppelt. Erst vor einer Woche war bekanntgeworden, dass Großbritannien das Land mit dem weltweit höchsten Superreichen-Anteil der Bevölkerung ist.
      Quelle: Spiegel Online
    3. The Origins of Inequity
      Much has been written over the past year about the growing income inequality in America, and how the wealthiest 1% households have accrued 95% of all the national income gains in the US economy since the June 2009 so-called economic ‘recovery’ officially began.
      Liberal economists like Paul Krugman, Robert Reich, James Galbraith and others have writing numerous books and countless newspaper columns on the subject over the past year. They have finally discovered in recent years the sad fact of accelerating income inequality in America, a developing trend that has been in progress for decades, at least since the early 1980s. Actually, theirs has been less a ‘discovery’ than a re-reporting of work on the subject done by others.
      While liberal economists have been reporting on income inequality, they have yet to explain why and how the growing concentration of income, and consequently wealth, in the hands of the 1% has been occurring and, indeed, why that inequality has been accelerating now after more than three decades. As the data conclusively show, the 95% of all income growth accruing to the wealthiest 1% households since 2009,noted above, represents an acceleration, from 65% of all income gains accruing to the 1% during the Bush years, 2001-08, and 45% during the Clinton years, 1993-2000.
      While no doubt of value in itself, it is one thing to cite data that shows the irrefutable trend of income and wealth concentration; it is another to explain how and why that concentration has occurred and who is responsible for it—a responsibility that lies not with mystical categories like ‘the market’ or ‘globalization’ but with real individuals and policymakers in both business and government for the past 30 years. (…)
      The discovery of inequality was initially given its major boost more than a decade ago in the then pioneering work of Emmanual Saez, a French economist transplanted more than a decade ago to the University of California, Berkeley. Saez back in 2002 was the first to begin reporting the facts about growing income inequality in the U.S. since the early 1980s, based on previously unavailable data from the Internal Revenue Service. Prior to Saez’s work, other official sources of government data from the Bureau of Labor Statistics, Commerce Dept., Federal Reserve and Congressional Budget Office were, and still remain, notoriously limited and incomplete with regard to accurately estimating capital incomes. Of course, with regard to Krugman and others, better late than never to have ‘discovered’ inequality. But Saez is the real economist hero—not Krugman, Reich & company—having revealed for more than a decade now the more accurate (although in some ways still limited) facts about growing income inequality in America.
      Quelle: counterpunch
  6. „Die Wut wird sich entladen“
    Philippe Legrain beriet EU-Kommissionspräsident Barroso zum Beginn der Krise. Die Kommission hatte keine Ahnung und folgte Merkel blind, sagt er heute.
    Quelle: taz
  7. Der Niedergang Europas, der als seine Rettung beschworen wird
    Die marktliberalen Eliten fahren die Eurozone wirtschaftlich und sozial gegen die Wand. Umso schlimmer die Auswirkungen ihrer Politik spürbar werden, umso aggressiver fordern sie Maßnahmen um den Niedergang des Kontinents zu verhindern. Doch ein Vergleich mit den USA zeigt: Nichts trägt mehr zum Niedergang der EU bei als genau diese Maßnahmen.
    Vor 100 Jahren hatte Europa im globalen Vergleich den größten Entwicklungsvorsprung. Zwei Weltkriege schwächten seine politische, kulturelle und ökonomische Weltdominanz erheblich. Im Jahr 1945 lag Europa darnieder, die USA erzeugten nach Angaben des Historikers Eric Hobsbawm beinahe zwei Drittel der weltweiten Industrieproduktion. Bis in die frühen 1980er-Jahre legten besonders die kontinentaleuropäischen Staaten einen erstaunlichen Aufholprozess hin: 1982 erreichten die zwölf ursprünglichen Mitglieder der Eurozone eine Wirtschaftsleistung pro Kopf, die bei 76 Prozent des US-Wohlstandsniveaus lag. Die USA und Großbritannien entwickelten sich weniger dynamisch, und gerieten gegenüber Kontinentaleuropa und Japan ins Hintertreffen.
    Ende der 1970er und Anfang der 1980er-Jahre begannen die Regierungen in den USA und Europa mit neuen Formen der ökonomischen Steuerung zu experimentieren. Die Wirtschaftspolitik war inspiriert vom Paradigma des Monetarismus Milton Friedmans. Dieser Kurswechselbedeutete laut dem Ökonomen Engelbert Stockhammer eine bewusste „Verschiebung der Prioritäten hin zu Preisstabilität auch auf Kosten von Massenarbeitslosigkeit.“ Jenseits des Atlantiks blieb der Monetarismus allerdings nur eine Episode. Mitte der 1980er-Jahre kam es in den USA zu einer moderaten Abkehr, kurz darauf zu einem deutlichen Bruch. Europa hat sich allerding mit dem Monetarismus – mit den Worten den Ökonomen Heiner Flassbeck – „auf eine langwierige und folgenreiche Partnerschaft eingelassen“.
    Das ist genau der Punkt, ab dem der alte Kontinent den Anschluss an die US-Entwicklung verloren hat. Nach einem ersten Einbruch schien sich der Konvergenzprozess Ende der 1980er-Jahre wieder einzustellen. Nach 1991 ging es jedoch tendenziell bergab, sodass heute das BIP pro Kopf der Euro-12 sogar unter 70 Prozent des US-Werts liegt.
    Quelle: Arbeit & Wirtschaft
  8. Paul Krugman – Points of No Return – Punkte ohne Umkehr
    Zwei unabhängig voneinander und mit unterschiedlichen Methoden arbeitende Forschungsteams sind kürzlich zu demselben beunruhigenden Ergebnis gekommen: Der westantarktische Eisschild ist dem Untergang geweiht. Das Abgleiten des Schilds ins Meer und der folgliche starke Anstieg des Meeresspiegels wird wahrscheinlich langsam vonstatten gehen. Aber er ist irreversibel. Selbst wenn wir sofort drastische Maßnahmen zur Begrenzung der Erderwärmung ergriffen, dieser spezielle Prozess der Umweltveränderung hat einen Punkt erreicht, von dem es kein Zurück gibt.
    Der Senator Marco Rubio – desses Staat nun zu einem guten Teil zum Untergang in den Wellen verdammt ist – hat sich jetzt aber zum Klimawandel geäußert. Einige Leser erinnern sich vielleicht, dass Mr. Rubio 2012 auf die Frage, wie alt seiner Meinung nach die Erde wohl sei, mit “Mann, ich bin doch kein Wissenschaftler” antwortete. Dieses Mal aber erklärte er zuversichtlich, dass der überwältigende wissenschaftliche Konsens über den Klimawandel falsch sei, wenngleich er in einem späteren Interview keine Gründe für seine Skepsis angeben konnte.
    Wie der Senator solch eine Erklärung abgeben konnte? Das liegt wohl daran, dass die intellektuelle Evolution seiner Partei (oder, vielleicht zutreffender, ihre Devolution) genau wie dieser Eisschild einen Punkt ohne Umkehr erreicht hat, bei dem das treue Festhalten an falschen Glaubenssätzen zum entscheidenden Erkennungszeichen wird.
    Quelle: New York Times
  9. Die deutsche und europäische Konjunktur im Frühjahr 2014: Gemischte Zeichen, aber keine Besserung in Euroland
    Wir haben uns entschlossen, die Konjunkturberichte, die wir sonst in kleinen Stücken getrennt veröffentlicht haben, immer zur Monatsmitte zusammenzufassen, weil man dadurch – auch hinsichtlich der Entwicklung in Europa – leichter den Überblick behält über das, was aktuell von Bedeutung ist und welches Gesamtbild sich daraus ergibt.
    Gestern meldete das Statistische Bundesamt, dass nach seiner ersten Schätzung die deutsche Wirtschaft im ersten Quartal um 0,8 Prozent gewachsen ist (vgl. Abbildung 1).
    Das sieht erfreulich aus. Das Bundesamt relativiert diese Zahl jedoch: „Bei diesem kräftigen Wachstum zum Jahresbeginn spielte allerdings auch die extrem milde Witterung eine Rolle“, ist im vierten Satz der Pressemitteilung zu lesen. Das Wetter dürfte also die Bauinvestitionen gestützt haben. Die Inlandsnachfrage war zum ersten Mal seit langer Zeit spürbar erhöht, was zu den Umsätzen des realen Einzelhandels in den ersten drei Monaten passt (vgl. Abbildung 2) – wir waren darauf bereits vor einem Monat kurz eingegangen.
    Gestern gab es von Eurostat auch eine erste Schätzung für die saisonbereinigte Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts in der Eurozone (vgl. Abbildung 3).
    Sollte sich die veröffentlichte Wachstumsrate von 0,2 Prozent für die Europäische Währungsunion (EWU) im ersten Quartal 2014 bestätigen – für einige kleinere Länder liegen offenbar noch keine Daten vor –, gleicht diese Meldung einer Katastrophe für die anderen Länder der Eurozone. Denn bei einer Wachstumsrate von 0,8 Prozent für Deutschland, das ja innerhalb der Eurozone für mehr als ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts steht, bedeutet das rein rechnerisch, dass die übrigen Länder zusammen genommen gerade mal eine Null beim Wachstum zustande gebracht haben, also nicht über die Stagnation hinausgekommen sind – und das bei fast 17 Millionen Arbeitslosen bzw. einer Arbeitslosenquote von über 12 Prozent dort.
    Ausweislich der Schätzung von Eurostat war jedenfalls Stagnation angesagt in Frankreich, das die geringe Belebung im vierten Quartal 2013 (+0,2 Prozent) nicht fortsetzen oder gar steigern konnte. Und Italien hat mit -0,1 Prozent das ohnehin dürftige Plus vom Vorquartal (+0,1 Prozent) schon wieder verloren. Von einer wirklichen Besserung der Lage in der Eurozone ausschließlich Deutschlands kann keine Rede sein.
    Und selbst aus der Zahl für Deutschland kann man nicht sicher auf eine durchgreifende Belebung hierzulande schließen. Denn die Einkommensverhältnisse der Mehrheit der Menschen haben sich nicht in einer Weise verbessert bzw. werden das in naher Zukunft angesichts der getroffenen Lohnvereinbarungen auch nicht so tun, dass man blind auf einen anhaltenden Schwung beim privaten Verbrauch zählen könnte (jedenfalls nicht ohne eine Senkung der Sparquote der privaten Haushalte). Darüber hinaus lässt die Schuldenbremse den öffentlichen Konsum wie die öffentlichen Investitionen nicht aus ihrem starren Korsett. Abgesehen von Witterungseffekten mag der Wunsch nach Betongold als Reaktion auf die Eurokrise in Verbindung mit den extrem niedrigen Zinsen den Bauinvestitionen auf die Sprünge geholfen haben und auch noch in naher Zukunft eine gewisse Rolle spielen.
    Doch schon im März – das ist der letzte verfügbare Berichtsmonat – ist der von uns am meisten beachtete Indikator für die laufende monatliche Entwicklung in Deutschland, die Auftragseingänge in der Industrie, erheblich zurückgegangen (vgl. Abbildung 4).
    Die Aufträge aus dem Ausland sind deutlich gesunken, die Inlandsaufträge leicht. Obwohl man einen einzelnen Monat nicht überbewerten sollte, versetzt das den Hoffnungen auf eine rasche Belebung in Deutschland und in Europa einen kräftigen Dämpfer.
    Quelle: flassbeck-economics
  10. Mindestlohninitiative in der Schweiz: Ein falsches Signal
    Nicht einmal jeder Vierte in der Schweiz hat Ja gesagt zur Einführung eines Mindestlohns von 4000 Franken in der Schweiz. Die überdeutliche Ablehnung ist ein fatales Signal…
    Die Angstmacherei der Wirtschaft hat verfangen: Bei einer Annahme der Initiative würden Arbeitsplätze abgebaut, Firmen vernichtet oder zum Abwandern gezwungen, die Berufslehre auf einen Schlag unattraktiv…
    Mag sein, dass die abgelehnte Initiative zu viel Angriffsfläche bot, weil sie den wirtschaftlichen Unterschieden in den verschiedenen Regionen zu wenig Rechnung trug. Vermutlich wäre aber auch jeder andere Vorstoß zur Einführung eines Mindestlohns verworfen worden. Wenn es um die Verbesserung von Arbeitsbedingungen geht, üben sich die Schweizer in Bescheidenheit. Eher sind wir bereit zu glauben, dass die längst ins Perverse gekletterten Gewinne von Konzernen und Aktionären die Grundlage für den relativen Wohlstand in der Schweiz sind.
    Quelle: Tages Woche
  11. Milliardenrisiken: Regierung will mit Konzernen über Atom-Altlasten verhandeln
    Nur wenige Tage ist es her, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel noch gegen die einseitige Übernahme des Milliardenrisikos aus dem Atomgeschäft aussprach. Nach Informationen des SPIEGEL hat die Bundesregierung allerdings angekündigt, mit den Energiekonzernen über die Rückstellungen für den Rückbau der deutschen Atomkraftwerke zu verhandeln. Das geht aus einer Antwort auf eine Anfrage der Grünen hervor.
    Die Energieriesen E.on, RWE und EnBW favorisieren derzeit eine Lösung, bei dem sie die Milliarden, die sie für den Atomausstieg zurückgelegt haben, in einen Fonds einzahlen. Alles was darüber hinausgeht – Risiken, Mehrkosten – soll demnach der Bund übernehmen.
    Diese Pläne stießen auf Empörung. Auch die Kanzlerin schien sich von dem Modell zu distanzieren: “Im Grundsatz muss es dabei bleiben, dass die Unternehmen die Verantwortung für die Entsorgung von Atommüll tragen”, sagte Merkel noch am Freitag der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung”. Doch der Anfrage zufolge will die Bundesregierung nun “über die Realisierung der rechtlichen Verpflichtungen” mit den Konzernen “Gespräche führen”.
    So scheint das Bundeswirtschaftsministerium von Sigmar Gabriel (SPD) selbst nicht sicher zu sein, ob die AKW-Betreiber das Geld für den milliardenteuren Abriss der Atomkraftwerke und die Lagerung der radioaktiven Abfälle überhaupt aufbringen werden. Das Ministerium äußerte lediglich die “Erwartung”, dass die Kosten für die nukleare Entsorgung von den Verursachern getragen würden. “Im Hause Gabriel scheint man nun auch skeptisch zu sein, ob mit dem Geld noch zu rechnen ist”, kommentierte der Grünen-Abgeordnete Oliver Krischer.
    Quelle: SPON

    Anmerkung J.K.: Na also, geht doch. Wir schrieben hier ja bereits letzte Woche: „Man darf ziemlich sicher sein, dass dies in der „marktkonformen“ Demokratie auch bei den Energiekonzernen schon funktionieren wird. …. Natürlich erst wenn etwas Gras über die Angelegenheit gewachsen ist.“ Dass die Bundesregierung so schnell vor den Konzerninteressen einknickt überrascht dann doch. In der schönen neoliberalen Welt gibt es offenbar kein unternehmerisches Risiko mehr, Banken und Konzerne dürfen sich mittlerweile ganz nach Lust und Laune aus den öffentlichen Kassen selbst bedienen. Das Gute dabei, dann kann man wieder über die wachsende Staatsverschuldung herziehen und Kürzungen bei den Sozialausgaben einfordern.

  12. Krankenkassen beklagen massiven Abrechnungsbetrug
    Sachsen-Anhalts Krankenkassen beklagen einen massiven Abrechnungsbetrug. Einer Umfrage zufolge betrifft das vor allem gefälschte Rezepte, unnötige Operationen und erfundene Rechnungen. Die Kassen forderten deshalb im vergangenen Jahr von Krankenhäusern, Pflegediensten, Ärzten und Apothekern Schadensersatz in Millionenhöhe. Die Summe war den Angaben zufolge fünf Mal höher als im Jahr davor. (…)
    Betrug findet der Umfrage zufolge in allen Bereichen statt: In einem Krankenhaus in Sachsen-Anhalt wurden beispielsweise Operationen schlichtweg erfunden – und teuer der IKK in Rechnung gestellt, wie die Krankenkasse mitteilte. Finanziell gesehen entstand nach einer bundesweiten Auswertung der größte Betrugsschaden allerdings im Bereich der Apotheken. Allein der KKH entstand durch gefälschte und überteuerte Rezepte im vergangenen Jahr ein Verlust von 1,6 Millionen Euro. Bei ambulanten Pflegediensten machte die Krankenkasse Schäden von insgesamt 144.000 Euro geltend.
    Auf dem Rücken der Versicherten
    Laut dem KKH-Verwaltungsratsvorsitzenden Hans-Jürgen Müller ist die Dunkelziffer der Betrugsfälle und -summen vermutlich viel höher. Letztendlich finde der Abrechnungsbetrug auf dem Rücken der Versicherten statt, sagte Müller. Denn die Kassen müssten Ausfälle durch höhere Versicherungsbeiträge weitergeben. In Sachsen-Anhalt gibt es nach Angaben des Verbands der Ersatzkassen insgesamt rund 2,1 Millionen gesetzlich Versicherte.
    Quelle: MDR

    Anmerkung JB: Für die Verantwortlichen in den Krankenhäusern bieten die momentanen Regelungen eine Steilvorlage zum Betrug, da die Krankenkassen in allen Fällen, in denen sie den Betrug nicht zweifelsfrei anhand der Akten belegen können, den Krankenhäusern die Kosten für die Überprüfung des jeweiligen Falls „erstatten“ müssen. Geprüft wird freilich nicht von externen Fachleuten, sondern von den Krankenhäusern selbst. Und selbst wenn ein Betrug zweifelsohne nachweisbar ist, kommen die Täter mit einem geringen Aufschlag davon. So verhindert man keinen Betrug. Da stellt sich die Frage, warum die „Betrüger“ nicht strafrechtlich verfolgt werden? Offenbar ist der „massive Abrechnungsbetrug“ politisch durchaus gewollt.

  13. Offener Brief des Wissenschaftlichen Beirats von Attac an den Direktor des Instituts für die Zukunft der Arbeit (IZA) Professor Klaus Zimmermann
    Die Unterzeichner fordern Professor Zimmermann auf, auch sie zu verklagen, sollte er seine Klage gegen Dr. Werner Rügemer und die Neue Rheinische Zeitung vor der Pressekammer des Landgerichts Hamburg aufrecht erhalten. Dr. Rügemer hatte das von Professor Zimmermann geleitete Institut wegen seiner Lobby-Tätigkeit kritisiert und die für ein wissenschaftliches Institut gebotene Unabhängigkeit in Frage gestellt.
    Der Artikel “Die unterwanderte Demokratie” von Werner Rügemer erschien im August 2013 in den “Blättern für deutsche und internationale Politik”. Eine um die strittigen Passagen gekürzte Version können Sie hier nachlesen.
    Weitere Erläuterungen zu dem Fall sind folgendem Beitrag Werner Rügemers auf den “Nachdenkseiten” zu entnehmen.
    Quelle: Attac [PDF – 59.9 KB]
  14. Umstrittener Deal: Gabriel bewilligt Rüstungsexporte in Milliardenhöhe
    Die Empfänger sind Singapur, Saudi-Arabien, Algerien: Sigmar Gabriel hat nach SPIEGEL-Informationen umfangreiche Rüstungsexporte in umstrittene Drittländer genehmigt. Der Gesamtwert der Lieferungen betrug mehr als eine Milliarde Euro.
    Sigmar Gabriel ist für seine Kritik am Waffenhandel mit umstrittenen Empfängerländern bekannt. Doch nach SPIEGEL-Informationen hat der SPD-Wirtschaftsminister in den ersten Monaten seiner Amtszeit selbst umfassende Rüstungsexporte in diese Länder vorbereitet.
    Zwischen Januar und April dieses Jahres erteilte der Vizekanzler demnach Ausfuhrgenehmigungen im Gesamtwert von knapp 1,2 Milliarden Euro. Dies geht aus einem Schreiben seines Ministeriums an den Linken-Abgeordneten Jan van Aken vom 15. Mai hervor. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum reduzierten sich damit die Genehmigungen zwar um rund ein Viertel. Allerdings stiegen die Bewilligungen für Exporte an jene kritischen Drittländer, die nicht der EU oder der Nato angehören, auf 649 Millionen Euro.
    Spitzenreiter unter den Empfängerländern der Exporte ist Singapur, auch Saudi-Arabien sowie das nordafrikanische Algerien gehören zu den Top Ten der Hauptprofiteure. Bei dem Export nach Singapur handelt es sich demnach um gebrauchte “Leopard 2”-Kampfpanzer aus Beständen der Bundeswehr.
    Gabriel hatte zuletzt mehrfach angekündigt, Exporte von Waffen und Kriegsgerät in Zukunft restriktiver handhaben zu wollen. Noch Anfang Januar hatte er Altkanzler Helmut Schmidt beigepflichtet, es sei eine Schande, dass Deutschland zu den größten Waffenexporteuren der Welt gehöre. “Ich bin für eine restriktive Haltung beim Waffenexport.
    Quelle: SPIEGEL Online

    Anmerkung H.R.: Vorausgesetzt diese „Spiegel“-Information stimmt, wäre es erneut ein Beleg für die Flexibilität des SPD-Bundesvorsitzenden. Die NachDenkSeiten hatten mehrfach über Gabriels sehr variable Ansichten berichtet; u.a. hier: Deutschlands Geschäft mit dem Tod und SPD sieht in EU-US-Freihandelsabkommen mögliche Vorteile für Arbeitnehmer/innen. Macht sich Herr Gabriel angesichts seiner offensichtlichen Anpassungsfähigkeiten keine Sorgen über seine Glaubwürdigkeit?

  15. Bildungsaufsteiger: Der Weg nach oben
    Warum haben manche Leute auch bei schlechten Startchancen Erfolg im Bildungssystem, andere nicht? Wissenschaftler suchen nach Antworten, von denen Pädagogen und Politiker lernen können. Was macht am Ende den Erfolg aus? El-Mafaalani hat beobachtet, dass Bildungsaufsteiger die Motivation für ein Studium selbst entwickeln müssen. Während in Akademikerhaushalten Bildung ein Wert an sich ist, müssen Aufsteiger erst erkennen, dass der Weg sich lohnen kann. Die Eltern reagieren dann oft skeptisch. Den Milieuwechsel ganz allein zu vollziehen sei daher kaum möglich, sagt der Politik-Professor: „Alle Interviewten hatten einen sozialen Paten. Jemanden, der ihnen das Selbstvertrauen gegeben hat, dass sie das auch schaffen können.“ In der Regel seien das reine Zufallsbegegnungen: Eltern von Schulfreunden, Nachbarn, Vorgesetzte, Parteifreunde.
    Entscheidend sei, so ihr Kollege El-Mafaalani, aber auch, dass die jungen Menschen selbst entscheiden, an sich zu arbeiten, sich zu verändern – oft in einer emotionalen Krise. Einen konkreten Masterplan für den sozialen Aufstieg hätten seine Interviewpartner aber nicht gehabt: „Ziel war nicht das Ende der sozialen Leiter, sondern immer die nächste Sprosse.“ Gefragt, ob man für den sozialen Aufstieg auch eine besondere Persönlichkeitsstruktur braucht, ist er vorsichtig. Nach seinen Studien entscheidet nicht unbedingt der Charakter über den Aufstieg – aber der Aufstieg verändert den Charakter. Denn zu einem Aufstieg in die Elite braucht man eine „enorme Trennungskompetenz“, wie er feststellt. Das alte Umfeld reagiert skeptisch bis verärgert auf die Veränderungen. Oft wird den Aufsteigern gar Verrat vorgeworfen. Familie und Freunde erkennen den geliebten Menschen einfach nicht mehr wieder.
    Quelle: Magazin Mitbestimmung

    Anmerkung Orlando Pascheit: Aladin El-Mafaalani spricht davon, dass den Aufsteigern aufgrund ihres veränderten Verhaltens Verrat vorgeworfen wird. Diese Reaktion mag in manchen Fällen zutreffen, ich persönlich habe eher das Gegenteil beobachtet: Den Stolz der Eltern und auch der Freunde – aber diese Beobachtung ist halt subjektiv und nicht wissenschaftlich gestützt. Wenn es denn zur Entfremdung kommt, liegt dies eher bei den Aufsteigern selbst, die sich von ihrem alten Umfeld distanzieren. Allerdings sollte man berücksichtigen, dass El-Mafaalani sog. “Extremaufsteiger” untersucht hat, “die in einem bildungsfernen Elternhaus aufgewachsen sind und sich selbst über akademische Bildung in einer beruflichen Spitzenposition etabliert haben.” Die Distanzierung erfolgt “nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich vom Herkunftsmilieu – ich bezeichne das als Habitustransformation” so El-Mafaalani in einem Interview mit Jens Wernicke. Dabei es geht nicht so sehr um eine persönliche Entscheidung des Aufsteigers, sondern um einen quasi zwangsläufigen Anpassungsmechanismus. El-Mafaalani spitzt zu: „Für den Aufstieg müssen gerade die extremen Bildungsaufsteiger die Loyalität zu ihrem alten Milieu weitgehend aufkündigen. Sonst geht es nicht.“ Leider kann diese Aufkündigung der Loyalität nicht nur für die persönliche Umgebung Konsequenzen haben, sondern weit darüber hinaus.

    Als entscheidende Wende in der bundesrepublikanischen Gesellschaft wird häufig auf den Sieg des Neoliberalismus hingewiesen, der sich auch in den Köpfen ursprünglich linker/alternativer Politiker und Gewerkschafter festsetzte. Man kann zwar Neoliberalismus sagen, aber entscheidend ist, dass das Kapital (auch durch seine wissenschaftlichen, politischen wie auch publizistischen Dienstleister) fast auf ganzer Linie gesiegt hat, dass es sich klüger angestellt hat. Dazu muss man nicht nach großartigen machiavellistischen Plänen zu suchen. Das Kapital ist ganz offen vorgegangen, wie z.B. in der ganzen Gesetzgebung (im Wesentlichen Wettbewerbsrecht) um das europäische Binnenmarktprojekt ersichtlich ist. Aber warum haben in den führenden Köpfen der linken Institutionen nicht alle Alarmglocken geläutet? Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass die Spitzen der klassischen Linken, der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften, nicht einfach durch neoliberales Gedankengut angekränkelt waren, sondern dass ihr “Verrat” an der Arbeiterschaft im Sinne El-Mafaalanis in der Realisierung einer „enormen Trennungskompetenz“ liegt, die für ihren Aufstieg erforderlich war. Das Verhalten von Leuten wie Steinkühler, Schröder, Müntefering bis Fischer lässt sich dann als zwar extremes, aber klassisches Aufsteigersyndrom erklären. Geradezu augenfällig ist der Fall Gerhard Schröder. „Dass Schröder als Genosse der Bosse galt, war ihm offensichtlich nicht peinlich“, sagt El-Mafaalani. „Er schien sich darin zu gefallen.“ Schön wäre es, wenn es nur um Brioni-Anzüge ginge. Dieser ungeheure Drang mit dazuzugehören, hat zur Folge, dass man sich nicht nur dem äußeren Erscheinungsbild der da oben anpasst, sondern sich auch ihrer Gedankenwelt anpasst. Es war Peter von Oertzen, der sich gegen Ende seines Lebens ziemlich ungeschminkt zu Schröder äußerte: “Schröder tickt ganz einfach, er will von den feinen, den reichen, den mächtigen Leuten anerkannt werden. Er ist ein aufstiegssüchtiger Plebejer voll schrecklicher Minderwertigkeitskomplexe. … das Projekt ‘Sozialdemokratie’ ist nun erledigt. Man kann nicht gleichzeitig Gott dienen und dem Mammon. Schröder glaubt, wenn ein Vorstandsvorsitzender nett zu ihm ist, hat er den Klassenkampf gewonnen. Der spinnt, das ist eine lächerliche Einschätzung der realen Machtverhältnisse.” Die Frage ist natürlich, wie konnten solche Leute an die Spitze kommen. Für El-Mafaalani liegt eine mögliche Erklärung darin, “dass der Anpassungsdruck umso größer ist, je undurchlässiger die Gesellschaft ist.” Aber dies ist nur die eine Seite. Zeitgeschichtlicht dürfte sicherlich die folgenschwere Fehleinschätzung Oskar Lafontaines zu nennen sein, aber auch die Basis muss verlockt, angekränkelt sein von den äußerlichen Attributen der “feinen Gesellschaft”. Warum kann die Basis auch heute allzu häufig nicht unterscheiden, welcher ihrer Aufsteiger vom Willen beseelt ist, die Gesellschaft zum Besseren zu gestalten oder wer da einfach seinem ganz privaten Ehrgeiz folgt?

    Sicherlich wird Geschichte in der Hauptsache nicht von Personen geschrieben, aber ich bin geneigt, den immer noch anhaltenden Niedergang der Sozialdemokratie ganz wesentlich einer bestimmten, unglücklichen Personenkonstellation zuzuschreiben: Die klassische “Linke”, die Sozialdemokratie ist am “Verrat” durchgeknallter, sich als Realpolitiker gerierenden, Aufsteiger zerbrochen und hat bis heute die Kraft verloren, eine glaubwürdige gesellschaftliche Alternative zu entwickeln. Dabei waren am Ende der Kohl-Ära viele Wähler bereit, zumindest den Versuch mitzutragen, das Kapital wieder stärker in Pflicht zu nehmen. – Unglücklich nenne ich diese Konstellation, weil der Elitenforscher Michael Hartmann – ich verdanke diesen Hinweis Jens Wernicke – festgestellt hat, dass “die wenigen Arbeiterkinder, die es ganz nach oben geschafft haben, immer noch relativ nah dran an der Meinung der Bevölkerung [seien]. Sie finden die sozialen Unterschiede immerhin auch zu gut 61 Prozent ungerecht. Bei den Elitenangehörigen, die stattdessen in gut bürgerlichen oder gar großbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen sind, sieht es dagegen vollkommen anders aus. Die Großbürgerkinder halten die soziale Ungleichheit sogar mit einer Mehrheit von mehr als zwei zu eins für gerecht.” In der Gesamtheit halten knapp drei Viertel der Bevölkerung die sozialen Unterschiede hierzulande für ungerecht. Insofern ist es ein Unglück, dass ausgerecht eine besonders angepasste Personenkonstellation nach der Kohl-Ära die Geschicke der SPD und Deutschlands bestimmte. – (Die Arbeit von Aladin El-Mafaalani ist hier [PDF – 1.5 MB] herunterzuladen)

  16. DGB-Bundeskongress 2014 beschließt: Gute Bildung für gute Arbeit und gesellschaftliche Teilhabe
    Der DGB hat am heutigen Mittwoch auf seinem 20. Bundeskongress einstimmig die Leitlinien der gewerkschaftlichen Bildungspolitik für die kommenden vier Jahre beschlossen. „Für uns ist Bildung ein Menschenrecht und Grundpfeiler der Demokratie. Sie muss kulturelle, demokratische und soziale Teilhabe für alle sichern”, betonte die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack. Stattdessen zementiere das deutsche Bildungswesen die soziale Auslese. „Deutschland ist weit davon entfernt, gleiche Bildungschancen unabhängig von der sozialen Herkunft zu garantieren”, so Hannack weiter.
    Genau das wollen der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften ändern. In seinem Leitantrag spricht sich der DGB unter anderem für einen Rechtsanspruch auf Ganztagskrippenplatz und Ganztagsschulplatz, für eine Ausbildungsgarantie sowie eine bessere Ausstattung von Hochschulen und die Einführung eines Weiterbildungsgesetzes aus. Auch will der DGB die Trennung zwischen beruflicher und akademischer Bildung überwinden und ein gemeinsames Leitbild moderner Beruflichkeit entwickeln.
    Zum DGB-Beschluss 2014: Gute Bildung für gute Arbeit und gesellschaftliche Teilhabe [PDF – 297 KB]
  17. Zur Gleichschaltung: googlet mal…
    … “neben regierungschef arseni jazenjuk und dem deutschen diplomaten wolfgang ischinger versammelten sich”.
    Die haben alle denselben Text. Das sind unsere “Qualitätsmedien”. Ich denke, Albrecht Müller hat völlig recht. Man darf nicht nur, man muss, ja man kann gar nicht mehr anders als von Gleichschaltung der Medien sprechen. Der Text ist von der dpa-infocom, einer Tochter der Deutschen Presseagentur (dpa). Diese Firma stellt sich wie folgt auf ihrer Homepage vor:
    Die dpa-infocom GmbH ist eine Tochter der dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH und spezialisiert auf multimediale Informations-Dienstleistungen. dpa-infocom entwickelt und produziert maßgeschneiderte Inhalte und Lösungen für das Internet, den Mobilfunk und Printangebote. Dabei verbindet die dpa-infocom die Basisformate der dpa-Gruppe zu multimedialen “ready-to-publish”-Produkten. Sport-Daten und Info-Grafiken bieten “standalone” oder integriert nachrichtliche Mehrwertangebote.
    Sprich: diese Firma schreibt den Artikel, liefert Grafiken, Fotos, Filme. Und alle “Qualitätsmedien” bringen exakt dasselbe. Was hier steht, wird zur Wahrheit, weil es aus allen Kanälen gleichzeitig schallt. Fast niemand erfährt mehr von einer anderen Darstellung.
    Geschäftstüchtig sind sie ja, die Neoliberalen. Denn statt diese Propagandakanäle finanzieren zu müssen, lassen sie sich auch noch von den “Qualitätsmedien” dafür bezahlen.
    Quelle: >b`s weblog
  18. Sahra Wagenknecht – Ludwig Erhard: Der Kompromisslose
    Ludwig Erhard wollte Wohlstand für alle. Zu viel wirtschaftliche Macht hielt er für gefährlich. Banken hätte er nicht mit Milliarden gerettet. Aus unserer Serie „Die Weltverbesserer“.
    Marktgläubige nehmen ihn gern für sich in Haftung, als einen, der dem Staat wenig und dem Markt nahezu alles zugetraut habe. Spiegelbildlich dazu galt er in der politischen Linken lange als bärbeißiger Gewerkschaftsfeind. Tatsächlich ist Ludwig Erhard weit vielschichtiger als das teils verklärende, teils entstellende Bild, das gewöhnlich von ihm gezeichnet wird. Ja, Erhard war entschiedener Anhänger eines marktbasierten Leistungswettbewerbs, der die Unternehmen durch harte Konkurrenz zu Innovation, steigender Produktivität und verbesserter Qualität zwingt. Mit dieser Perspektive betrieb er 1947 die Aufhebung der Preisbindung und das Ende der Zwangsbewirtschaftung. (…)
    Aber anders als die Marktgläubigen unserer Tage hatte Ludwig Erhard begriffen, dass Märkte nur unter ganz bestimmten Bedingungen im gewünschten Sinne funktionieren und es originäre Aufgabe des Staates ist, diese Bedingungen – auch im Konflikt mit dem Unternehmerlager – abzusichern. Denn Erhard wusste, „den Gegenpol der wirtschaftlichen Freiheit stellt die Ausprägung wirtschaftlicher Macht dar“. Deshalb sei „gesetzlich sicherzustellen, dass die Vorzüge der Wettbewerbswirtschaft nicht durch historisch erwiesene Nachteile einer bedenklichen Machtkonzentration aufgewogen werden“. (…)
    Eine Politik, die marode Banken und ihre abstrusen Geschäftsmodelle unverdrossen mit Milliarden subventioniert oder Familien und Mittelstand zwingt, die Energierechnung profitabler Konzerne mitzubezahlen, sollte sich jedenfalls nicht auf Ludwig Erhard berufen, dem ein von Lobbyisten gekaperter Nachtwächterstaat ein Graus war. 1951 legte Ludwig Erhard dem Bundeskabinett ein Kartellgesetz vor, das solche Fehlentwicklungen verhindern sollte. 1957, am Ende eines „Siebenjährigen Krieges“ wie der „Spiegel“ damals titelte, verabschiedete der Bundestag ein „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen“, das nur noch ein Schatten des Erhardschen Entwurfes war. (…)
    Obwohl Ludwig Erhard berechtigte Forderungen der Gewerkschaften oft ziemlich brüsk zurückwies, hatte er eine klare Meinung vom Sinn der sozialen Marktwirtschaft: „Der Tatbestand der sozialen Marktwirtschaft ist vielmehr nur dann als voll erfüllt anzusehen, wenn entsprechend der wachsenden Produktivität echte Reallohnsteigerungen möglich werden.“
    Nach Agenda 2010 klingt das nicht, und ein Land, in dem die Reallöhne heute unterhalb des Niveaus des Jahres 2000 liegen und ein Viertel aller Beschäftigten in unsicheren Jobs für Niedriglöhne schuftet, wandelt ganz sicher nicht auf den Spuren eines Ordnungspolitikers, der angetreten war, „über eine breitgeschichtete Massenkaufkraft die alte konservative soziale Struktur“ – nämlich eine dünne Oberschicht und eine breite Unterschicht – „endgültig zu überwinden“.
    Quelle: FAZ

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