Die Klötze am Bein einer von der herrschenden Lehre geprägten Volkswirtschaft.
Viele Beobachter merken inzwischen, dass die herrschende Lehre – man kann sie Neoliberalismus nennen, ich nenne Sie einfach die herrschende Lehre – von der notwendigen makroökonomischen Steuerung einer Volkswirtschaft nicht viel versteht. Mein Eindruck ist immer mehr, dass diesen Ideologen auch das ziemlich fremd ist, was sie meinen gepachtet zu haben: die Sorge für die Wettbewerbsfähigkeit, die optimale und effiziente Allokation der Ressourcen. Sie hängen unserer Volkswirtschaft jedenfalls einen Klotz nach dem andern ans Bein. Sie versagen genau da, wo sie sich besonders stark fühlen: bei der volkswirtschaftlichen Effizienz und damit bei der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit. Albrecht Müller.
Vorweg: Dieser Tagebucheintrag soll ein Denkanstoß sein. Meine Beobachtung und die folgende Analyse sind noch nicht nach allen Facetten hin ausgearbeitet. Es sind Hypothesen und Anregungen zur Diskussion.
Grundlage dieser Nachfragen und Anmerkungen ist das in den so genannten WelfareEconomics übliche Denken in real terms, in güterwirtschaftlichen Größen, und die Frage nach der optimalen Allokation der Ressourcen in unserer Volkswirtschaft. Also: hier steht nicht die Frage im Mittelpunkt, wie unsere Volkswirtschaft makroökonomisch am besten zu steuern wäre und was man tun muss, um möglichst viele Menschen in Arbeit zu bringen und die Kapazitäten unserer Volkswirtschaft auszunutzen. Wir wissen, dass diese Unfähigkeit uns mittlerweile fast 1/3 unseres möglichen Sozialprodukts kostet: rund 700 Milliarden pro Jahr, genauer: was wir gemeinsam leisten, könnte um rund 700 Mrd. mehr sein, wenn nicht spätestens seit 1992 eine stümperhafte Makropolitik betrieben worden wäre.
Diese Schwächen sollen hier nicht zur Debatte stehen. Hier ist der Ansatz anders. Hier wird gefragt, wie eine Volkswirtschaft organisiert sein muss, um die notwendigen Leistungen möglichst effizient zu erbringen, also Arbeitskräfte und Ressourcen zu schonen und zu sparen. Das Gegenteil ist heute unter Führung der herrschenden Ideologie, die man zu Unrecht Angebotsökonomie nennt, eingetreten. Unserer Volkswirtschaft werden „immer neue Klötze ans Bein gebunden“, Ressourcen werden verschwendet und falsch zugewiesen. Dazu einige Beispiele:
- Die gesamte Reformpolitik der letzten Jahre ist eine verschwenderische, Ressourcen vergeudende Aktion. Hartz I bis III ist mit großem Kostenaufwand installiert worden. Die meisten dieser Maßnahmen haben sich als teuer und zugleich erfolglos erwiesen und sind in vielen „Modulen“ schon wieder eingestellt worden. Hartz IV hat viel Personal gebunden und Sachinvestitionen für Umbauten etc. verlangt. Weite Teile der Politik und unserer Gesellschaft wurden damit beschäftigt. Und dies alles zur Verwaltung der Arbeitslosigkeit. Allein das, was bei der Bundesregierung an Kräften für diese Reform gebunden worden ist, ist beachtenswert. Protoypisch dafür war Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement. Er hat vermutlich seine gesamte Kraft für die Verwaltung der Arbeitslosigkeit eingesetzt und für ihre Beseitigung fast nichts getan.
Auch andere Reformen haben politische Kapazitäten gebunden und nichts gebracht. Ein Musterbeispiel dafür ist die Greencard-Initiative.
Auch die mehrmalige Reform – die Erweiterung – der Ladenöffnungszeiten hat sich als kostenaufwändige Reform erwiesen. Man verkauft nahezu das gleiche in längeren Öffnungszeiten. Dafür braucht man mehr Personal. Das ist auf jeden Fall aufwändiger. Gegenrechnen müsste man die Ersparnis des Aufwands bei den einkaufenden Kunden.
Diese Berechnung aber stellt man nie an. Hinweise auf den Unsinn bestätigen sich dann, wenn man liest, dass die Öffnung der Ladenschlusszeiten sich allenthalben nicht richtig lohnt. Und obendrein negative Wirkungen für den innerstädtischen Einzelhandel hat.
Das Konzept der permanenten Reform, wie es in maßgeblichen politischen Köpfen herum schwirrt und bei uns praktiziert wird, ist aus der Sicht marktwirtschaftlicher WelfareEconomics der helle Wahnsinn. Die permanente Umstellung tangiert nahezu alle von uns. Nicht einmal sondern unentwegt müssen wir uns auf Neues einstellen, müssen Verfahren umgestellt und Organisationseinheiten mit hohem internen Aufwand neu geordnet werden. Die Reformpolitik richtet sozusagen fortwährend volkswirtschaftliche Schäden an. Ein Klotz am Bein unserer Ökonomie. - Der moderne Kapitalmarkt mit all den krampfhaften Börsengängen, den feindlichen und freundlichen Übernahmen, den Hedgefonds und Private Equities bindet viel Personal, noch dazu teuer ausgebildetes. Dass dieser komplizierte Kapitalmarkt die Anbieter von Sparkapital und die Nachfrager von Kapital für Investitionen besser und effizienter zusammenbringt als der traditionelle Kapitalmarkt mit seiner Kredittransformation, möchte ich bezweifeln. Die neuen Formen erscheinen rentabel, weil einige sehr viel daran verdienen. Tatsächlich werden heute vermutlich sehr viel mehr Ressourcen für den Zweck des Transfers der gesparten Mittel in sinnvolle Investitionen gebraucht und verbraucht als notwendig. Die Organisation des Kapitalmarkts ist höchst ineffizient und nicht geprägt von einer effizienten Wertschöpfung oder in Investitionen in die Realökonomie, sondern von spekulativen Vermögenstransfers. So meine Hypothese.
- Die von der herrschenden Lehre propagierten Privatisierungen erweisen sich zum großen Teil als höchst kostenaufwändige Unternehmen. Ihre ökonomische Ineffizienz fällt nur deshalb nicht auf, weil andere die Kosten zu tragen haben: die Arbeitnehmer der beteiligten Unternehmen zum Beispiel, indem ihre Löhne gedrückt werden, die Kunden und Nutzer der privatisierten Unternehmen, indem sie höhere Gebühren für die Leistungen wie Wasser, Abfallentsorgung, Energie u.a.m. bezahlen müssen oder die Steuerzahler.
Privatisierungen haben in der Vergangenheit schon auch deshalb Ressourcen verschwendet, weil sie teilweise konzeptionell miserabel gemacht worden sind und deshalb nicht zu halten waren, oder die Organisation musste aufwändig korrigiert werden. Typisches Beispiel ist die bei der Bahnreform Anfang der neunziger Jahre vorgenommene Aufteilung der Bahn in mehrere Aktiengesellschaften – für Netz, für Bahnhöfe, für Nahverkehr, für Fernverkehr und den Güterverkehr. Damals wurden lauter einzelne Aktiengesellschaften mit eigenen Vorständen und Apparaten gegründet. Die Folge war neben großem Kostenaufwand der Umstand, dass die aufgespaltenen Teile gegeneinander gearbeitet haben. Die Reform wurde korrigiert.
Ähnlich absurd waren die Folgen von Fehlern bei der Privatisierung und Neuorganisation der Deutschen Post AG. Aufgrund einer Beratung von McKinsey wurde der Paketdienst und der Briefdienst aufgespalten, auch da wo die beiden Dienstleistungen sinnvoll zusammengeblieben wären. Heute kommt nun vom selben Berater die neue Empfehlung, die Dienste wieder zusammenfügen. Dieses Hin und her spricht für sich und McKinsey hat viel Geld verdient. - Die Umstellung vom Umlageverfahren zum Kapitaldeckungsverfahren bei der Altersvorsorge bindet auf Dauer große Ressourcen. Auch das kann man sich erklären, wenn man in güter-wirtschaftlichen Kategorien denkt. Der Vertrieb der Privatvorsorge, die Werbung dafür und die Anlagepolitik bindet Menschen – Versicherungsverwaltungen, Agenturen, Anlageprofis. Das ist eine Ressourcenverschwendung im Vergleich zum Umlageverfahren, wo ohne Vertriebs- und Anlagekosten Beiträge eingebucht und Rentenzahlungen berechnet und geleistet werden müssen. Wenn man das System neu zu planen hätte und in real terms denkt, dann käme man unweigerlich auf das Umlageverfahren. Im Vergleich zu ihm verschwendet jedes andere System Ressourcen.
- Ist Leiharbeit eine ökonomisch sinnvolle Art der Organisation eines Teilarbeitsmarktes? Aus meiner Sicht jedenfalls in der Dimension, die dieses Gewerbe heute annimmt, nicht. Hier werden Personen, Büros und die nötige Ausstattung installiert, um andere Menschen in Arbeit zu vermitteln. Diese abwegige Art, dieser aufwändige Umweg bei der Kombination von Arbeit und Kapital, scheint mir wie andere Missstände auch die Folge des konjunkturbedingt unausgeglichenen Arbeitsmarktes zu sein. Nur so ist die damit verbundene Lohndrückerei zu erklären.
- Die herrschenden Ideologen haben sich offenbar nicht ausreichend mit dem Umstand beschäftigt, dass der Markt versagt, wenn staatlicherseits keine steuernden und korrigierenden Regeln gesetzt werden. Ohne eine gewisse und gezielte Regulierung funktionieren Markt und Wettbewerb nicht optimal. Das ist eine ganz alte Erkenntnis, die durch den Ökonomen und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz in den letzten Jahren wieder ins Bewusstsein gehoben wurde. Bei den herrschenden Meinungsführern allerdings ist diese Erkenntnis immer noch nicht angekommen.
Das Versagen beginnt schon damit, dass Marktpartner immer die Tendenz haben, den Wettbewerb untereinander zu beschränken, Absprachen zu treffen, Oligopole und Monopole zu bilden. Unter früheren Verfechtern der Marktwirtschaft war es deshalb unumstritten, dass der Staat mit seiner Kartellgesetzgebung den Wettbewerb schützen muss. Heute sind unsere politischen und wirtschaftlichen Eliten meilenweit von diesen Erkenntnissen entfernt. Die von der herrschenden Lehre bestimmte Politik fördert Zusammenschlüsse geradezu; sie ermöglicht Fusionen und Übernahmen mit Ministererlaubnissen, statt die Kartellgesetzgebung möglichst strikt zum Schutz des Wettbewerbs anzuwenden. Und sie erfährt dabei von den maßgeblichen Medien keinerlei ernsthafte Kritik.
Der Markt versagt auch dann, wenn im Zuge der Produktion eines Wirtschaftsgutes oder einer Dienstleistung so genannte externe Effekte, external diseconomies, anfallen. Ein typisches Beispiel dafür ist der Automobil-Verkehr. Er verursacht Klimaschäden und Gesundheitsschäden über Lärm und Dreck. Diese Schäden fallen bei der Allgemeinheit oder bei einzelnen Bürgern an. In jedem Fall ist zur Korrektur des Marktversagens der Eingriff über Gebote und Verbote oder über Steuern und andere Belastungen sinnvoll. Solche Korrekturen wären heute in vielen Bereichen angebracht. Die herrschenden Kreise aber denken gar nicht daran, die externen Effekte entsprechend ihren eigenen Marktgesetzen den Verursachern anzulasten und so zu internalisieren. Weder ausreichend beim Autoverkehr noch überhaupt im Ansatz beim Flugverkehr.
Auch die negativen externen Effekte bei der Liberalisierung und Privatisierung ehedem staatlicher Unternehmen und ihrer so profitabel erscheinenden Rationalisierung werden von den herrschenden Kreisen nicht beachtet. Nehmen wir das praktische Beispiel der Privatisierung der Post und der von ihr getroffenen Entscheidungen zur Konzentration von Postämtern und Briefkästen: Der Rückzug aus der Fläche und aus einzelnen Stadtteilen hat dazu geführt, dass Bürger inzwischen weite Wege zurücklegen müssen, um eine Stelle der Post zu erreichen.
Der Aufwand an Zeit und Sprit für die Fahrt zur Post wird selbstverständlich in den Kalkulationen der Unternehmensberater und sonstigen Betriebswirte, die diese Art von Rationalisierung planen, nicht miteingerechnet. Schon gar nicht wird berücksichtigt, dass ältere Menschen häufig keine Chance haben, eine Post zu erreichen, ohne jemanden mit einem fahrbaren Untersatz bemühen zu müssen. In die engen betriebswirtschaftlichen Überlegungen der damit befassten Rationalisierer gehen solche Kosten nicht ein. Volkswirtschaftlich betrachtet führt das zu einer unteroptimalen Allokation und damit zu einer unteroptimalen Organisation der Marktwirtschaft.