Sprache im neoliberalen Deutschland

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Am 2. Februar haben wir auf eine Sendung von arte unter dem Titel „Sprache lügt nicht“ hingewiesen, in der über Victor Klemperers “Lingua Tertii Imperii”, ein Tagebuch über die Sprache des Dritten Reiches berichtet wurde. Unseren Leser Roberto J. De Lapuente hat das veranlasst über Parallelen in der Sprache des neoliberalen Deutschlands nachzudenken: Für einen Philologen, der sich an Klemperer orientieren will, böte die heutige Alltagssprache ein unglaubliches Jagdgebiet.

Mit Freude habe ich Ihre Empfehlung zur LTI – Lingua Tertii Imperii – von Klemperer wahrgenommen. Es ist nicht irgendein Buch zum Nationalsozialismus, sondern besitzt mehr Tiefgrund als die übliche Literatur zu diesem Themenbereich.
Zunächst verunstalteten die nationalsozialistischen Sektierer die deutsche Sprache, danach fingen die Zeitungen an, sich dieser Art von Sprache zu bedienen. Kino und Rundfunk schlossen sich an. Kein Wunder also, wenn zuletzt der gemeine Bürger so sprach, wie die Dauerberieselung seitens des Staates und seiner Büttel es vorexerzierte. Klemperer schaute dem „Volk aufs Maul“ und erkannte die Denkart der „Sprachschöpfer“ dahinter. Verschweigen treffender Termini und zynische Euphemismen prägten deren Gestaltung. Aber: Dennoch verriet deren Sprachschöpfung mehr als man glauben möchte. Die Verschleierungstaktik, wenn man das so nennen möchte, offenbarte eben erst recht, was sich dahinter versteckte. Klemperer dazu:

Man zitiert immer wieder Talleyrands Satz, die Sprache sei dazu da, die Gedanken des Diplomaten (oder eines schlauen und fragwürdigen Menschen überhaupt) zu verbergen. Aber genau das Gegenteil hiervon ist richtig. Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag. Das ist wohl auch der Sinn der Sentenz: Le style c’est l’homme; die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein – im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen.


LTI, Seite 20

Um einen kleinen Eindruck dessen zu bekommen, was sich Gleichschaltung nannte, lohnt es sich Klemperers erste Tagebuchnotizen zu lesen. Beinahe täglich mussten sich die Menschen mit neuen Worten und Redensarten abplagen, die aber immer einen gemeinsamen Kern hatten, sozusagen einer Gedankenfamilie entsprangen. Einige Auszüge aus dem Tagebuch:

27. März 1933: Neue Worte tauchen auf, oder alte Worte gewinnen neuen Spezialsinn, oder es bilden sich neue Zusammenstellungen, die rasch stereotyp erstarren. Die SA heißt jetzt in gehobener Sprache – und gehobene Sprache ist ständig de rigueur, denn es schickt sich, begeistert zu sein – „das braune Heer“. Die Auslandsjuden, besonders die französischen, englischen und amerikanischen, heißen heute immer wieder die „Weltjuden….


Aus dem Tagebuch des ersten Tages, Seite 43

20. April 1933: Wieder eine neue Festgelegenheit, ein neuer Volksfeiertag: Hitlers Geburtstag. „Volk“ wird jetzt beim Reden und Schreiben so oft verwandt wie Salz beim Essen, an alles gibt man eine Prise Volk: Volksfest, Volksgenosse, Volksgemeinschaft, volksnah, volksfremd, volksentstammt…


Aus dem Tagebuch des ersten Tages, Seite 45

9. Juli 1933: Vor ein paar Wochen ist Hugenberg zurückgetreten, und seine deutschnationale Partei hat „sich selbst aufgelöst“. Seitdem beobachte ich, daß an die Stelle der „nationalen Erhebung“ die „nationalsozialistische Revolution“ gerückt ist und daß man Hitler häufiger als zuvor den „Volkskanzler“ nennt und daß man vom „totalen Staat“ spricht.


Aus dem Tagebuch des ersten Tages, Seite 45

23. Oktober 1933: Mir ist vom Gehalt eine „Freiwillige Winterhilfe“ abgezogen worden; niemand hat mich deswegen vorher gefragt. Es soll sich um eine neue Steuer handeln, von der man sich ebensowenig ausschließen darf wie von irgendeiner anderen Steuer; die Freiwilligkeit bestehe nur darin, daß man über des festgesetzten Betrag hinaus zahlen dürfe, und auch hinter diesem Dürfen stelle sich für viele schon ein kaum verhüllter Zwang. […] Hilfe statt Steuer: das gehört zur Volksgemeinschaft. Der Jargon des Dritten Reiches sentimentalisiert; das ist immer verdächtig.


Aus dem Tagebuch des ersten Tages, Seite 50

Mit diesen Zeilen liegt es mir fern, die heutigen Auswüchse sprachlicher Gleichschaltung, die anderer Art sind als die Beschriebenen, mit denen der Nationalsozialisten auf eine Ebene zu stellen; oder anders, treffender formuliert: Die Verstümmelung und Schönrederei gleicht sich, die Motive dahinter sind freilich andere. Wo einst Gleichschaltung herrschte, betreibt heute die Ökonomisierung des Alltags Sprachverstümmelung.

Als ich zum ersten Mal Klemperer las, erkannte ich sofort die Parallelen zur Gegenwart. Es erinnert in fataler Weise an die LTI, wenn man heute davon spricht, die Lohnnebenkosten senken zu müssen, um Arbeitsplätze zu schaffen, aber eigentlich Lohnkürzungen damit meint. Und in dieser Art bedeutet Umbau nicht selten Abbau, anpassen ist gleich senken, Sozialabbau wird mit dem Terminus Reform verdeckt. Bedenkt man dann, dass man heute ungeniert wieder den unheilvollen Begriff Arbeitsscheue in den Mund nimmt (man denke an das „Reichsprogramm Arbeitsscheu“, welches „asoziale“ Subjekte zur Zwangsarbeit heranführen sollte), dass im Sozialministerium unter Minister Clement eine Broschüre das der Natur entlehnte Wort „Schmarotzer“ aufführte, dann ist gewiss, dass es in sprachlicher Hinsicht hierzulande einen Rückschritt gibt. Wollen wir hoffen, dass dieser Rückschritt, wenn er schon stattfindet, nur sprachlich vollzogen wird – mögen also Worten keine (Un-)Taten folgen!

Für einen Philologen, der sich an Klemperer orientieren will, böte die heutige Alltagssprache ein unglaubliches Jagdgebiet. Ein Tagebuch, welches sich mit der SND – der Sprache des neoliberalen Deutschland – befassen würde, könnte viele Seiten füllen…

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