Das Freihandelsabkommen TTIP – eine Neuauflage des „vergoldeten Zeitalters“
1873 schrieben Mark Twain und Dudley Warner die gesellschaftskritische Satire „Das vergoldete Zeitalter – Eine Geschichte von heute“. Über 140 Jahre später ist die Geschichte so aktuell wie damals im sog. „Gilded Age“. Der amerikanische Soziologe Charles Derber stellt in seinem Buch „One World“ Verbindungslinien zwischen dem Kolonialismus und der Globalisierung her und er sieht das “Gilded Age“ als das Fenster zur Seele der Globalisierung. Für Gerber ist mit der Globalisierung die Leiche des „Vergoldeten Zeitalters“ wieder ausgegraben worden, einer Wirtschaftsepoche während der auf der einen Seite sich der Reichtum einiger „Räuberbarone“ auf unglaubliche Weise vermehrt und sich auf der anderen Seite Massenarmut und Korruption verbreitet hat. Mit dem Freihandelsabkommen TTIP könnte sich die Geschichte des „vergoldeten Zeitalters“ wiederholen und tatsächlich eine „Geschichte von heute“ werden. Von Christine Wicht.
Die Geschichte von heute
Transnational agierende Konzerne, deren Lobbyverbände und Denkfabriken träumen seit geraumer Zeit von einem globalen Markt ohne Schranken. Lobbyorganisationen und Politik verbünden sich im Freihandelsfieber, um die Führungsrolle in der Weltwirtschaft zu halten und auszubauen. Mit lockenden Parolen, wie mehr Wirtschaftswachstum oder der Schaffung neuer Arbeitsplätze, soll Akzeptanz in der Bevölkerung für das Handels- und Investitionsabkommens (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) geschaffen werden.
Eine transatlantische Freihandelszone, frei von sozialen und moralischen Verpflichtungen, ohne Kontrolle, ohne Rechenschaftspflicht und ohne politische Gegenmacht, fördert eine anarchische Weltwirtschaft, der eine nie dagewesene Macht zuteil wird. Ein Vergleich mit der Macht der „Räuberbarone“ in den Vereinigten Staaten von Amerika im Ende des 19. Jahrhunderts zum Anfang des 20. Jahrhunderts, wie sie Mark Twain und Dudley Warner im „vergoldeten Zeitalter“ satirisch aufgespießt haben, drängt sich auf.
Die Buchstabenkürzel „ T“ und „I“ im Abkommen stehen für „Trade and Investment“, also für Handels- und Investitionsfreiheit. Die Verhandlungen über das Abkommen werden geheim geführt. Es ist allerdings durchgedrungen, dass Lobbyverbände Vorschläge für das Verhandlungsmandat der europäischen Seite einbringen konnten. Gegenstand der Verhandlungen ist nicht nur die Beseitigung von (ohnehin nicht sehr hohen) Zöllen, sondern vor allem das Schleifen sogenannter „nicht-tarifärer Handelshemmnisse“ [PDF – 8.4 MB], hierunter fallen solche Hemmnisse, die mit Hilfe von Vorschriften außerhalb des Außenhandelsrechts bestehen und ausländischen Anbietern den Marktzugang zu erschweren. Beispielsweise
- technische Normen, Standards, Umweltklauseln, Verbraucherschutzbestimmungen
- Kennzeichnungspflichten
- Einfuhrmindestpreise, Ein- und Ausfuhrsteuern
- Kontrollen über ausländische Investoren
- gezielte Geldmarktkontrolle
- nicht öffentliche Vergaberechte
- Antidumpingregelungen.
Die Profiteure des Abbaus solcher Hemmnisse verschweigen natürlich, dass dieses Abkommen, um ein paar konkrete Beispiele zu nennen, etwa den Einfuhrzwang von Hormonfleisch, Genmais oder Chlorhühnern in die Europäische Union usw. zur Folge haben würde und somit dem Prinzip der politischen Selbstbestimmung in der Europäischen Union zuwider läuft.
Handels- und Investitionsabkommen schaffen ein Eldorado für Investoren
Der „Mechanismus zur Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten“ verlagert die Gerichtsbarkeit auf die Wirtschaftsebene und schafft eine dem Gewaltenteilungsprinzip widersprechende Sondergerichtsbarkeit.
Bezüglich des Freihandelsabkommens ist von wesentlicher Bedeutung, dass die Kompetenz der Europäischen Union in Bezug auf die Aushandlung und die Annahme von Handelsverträgen durch den Vertrag von Lissabon unter anderem auf den Bereich ausländischer Direktinvestitionen ausgeweitet wurde. Das bedeutet, dass der Ministerrat überwiegend mit qualifizierter Mehrheit (und ohne Vetorecht eines einzelnen Mitgliedstaates) über die Annahme von Handelsverträgen entscheidet. EU-Handelskommissar Karel De Gucht sagte dazu in einer Pressemitteilung der EU-Kommission, Brüssel am 12. Dezember 2012:
„Dies ist ein entscheidender Fortschritt für die Investitionspolitik der EU und eine der grundlegendsten Aktualisierungen der Handelspolitik seit dem Vertrag von Lissabon. Damit erhalten geltende bilaterale Investitionsabkommen, die zwischen den EU-Mitgliedstaaten und Drittstaaten abgeschlossen wurden, und die nach und nach durch EU-weite Investitionsabkommen ersetzt werden, eine sichere Rechtsgrundlage. Dadurch werden die Auslandsinvestitionen der EU geschützt und die Investoren erhalten rechtliche Möglichkeiten, ihre Interessen bei Bedarf zu verteidigen. Als anschauliches Beispiel kann hier die aktuelle Auseinandersetzung zwischen dem spanischen Unternehmen Repsol und Argentinien dienen. Gleichzeitig wird die Kommission geltende bilaterale Abkommen überprüfen und bewerten, um die Grundlage für künftige EU-weite Investitionsabkommen vorzubereiten, die die bilateralen Abkommen nach und nach ersetzen sollen. Ich möchte erreichen, dass die Auslandsinteressen aller europäischer Investoren mit der Zeit denselben Schutz genießen, was heute nur in manchen Fällen für Investoren aus einer begrenzten Zahl von Mitgliedstaaten der Fall ist“.
Das heißt praktisch: Es soll ein Eldorado für Investoren geschaffen werden, die in der Ausübung ihrer Geschäfte nicht mehr durch nationale Umweltauflagen, Arbeitnehmerrechte oder Verbraucherschutz gehemmt werden wollen. Dieser Traum könnte allerdings zu einem Albtraum für EU-Bürger werden, weil politische erkämpfte Standards und Schutzrechte mit dem Investor-Staat-Klageverfahren sturmreif geschossen werden. Momentan sind die Verhandlungen zum Investor-Staat-Klageverfahren zwar ausgesetzt, doch ist zu erwarten, dass die Forderung, unter einer anderen Überschrift zu schon bald wieder auf den Tisch kommt.
(Die Attac-Jugendgruppe hat einen freihandelskritischen Adventskalender zusammengestellt, in welchem die Auswüchse von Investitionsschutzklauseln aufgeführt sind. Siehe auch den fundierten Beitrag von Lori Wallach „TAFTA – die große Unterwerfung“ in Le Monde diplomatique)
Déjà-vu oder alles schon einmal dagewesen
Mark Twain und Charles Dudley Warner haben im Jahr 1873 in einem gesellschaftskritischen Roman mit dem Titel „Das vergoldete Zeitalter“ die Korruption und den brutalen Materialismus der frühen amerikanischen Kapitalisten angeprangert. Das vergoldete Zeitalter beschreibt die Zeit des „Gilded Age“, als ausgangs des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts die sog. „Räuberbarone“, allen voran J.D. Rockefeller, J.P. Morgan, Cornelius Vanderbildt und Andrew Carnegie, gegenseitig im Aufsichtsrat des jeweils anderen saßen, um wie der amerikanische Soziologieprofessor Charles Derber in seiner Untersuchung schrieb, am Ende aus Stahl, Banking, Eisenbahn und Öl das Süppchen eines gemeinsamen, amerikaweiten Marktes zu kochen.
Derber stellt in seinem Buch „One World“ Verbindungslinien zwischen dem Kolonialismus und der Globalisierung her und er sieht das “Gilded Age“ als das Fenster zur Seele der Globalisierung. Für Gerber ist mit der Globalisierung die Leiche des „Gilded Age“ wieder ausgegraben worden, eines „vergoldeten Zeitalters“ das auf der einen Seite
Reichtum auf unglaubliche Weise vermehrt und auf der anderen Seite Massenarmut und Korruption verbreitet hat (ebd. S. 55). Die „Räuberbarone“ betrieben Sweatshops, die eine traurige Vorwegnahme der heutigen Fabriken in Entwicklungsländern darstellten (ebd. S. 34). Von den Arbeitern des „Gilded Age“, die sich 12-16 Stunden täglich abplagten, blieben 80 Prozent ihr Leben lang arm. Der Grund hierfür war das niedrige Lohnniveau, das die „Räuberbarone“ durch Ausbeutung des riesigen Arbeitskräfte-Pools unter den damaligen Einwanderern aufrechterhielten und vor allem durch die Verhinderung der Gewerkschaften.
Die „Räuberbarone“ waren „Globalisierer einer Nation“; der neue riesige US-Markt, den sie schufen, war größer als manches europäische Kolonialreich. Ihre Gallionsfigur war John D. Rockefeller und sie wurden berühmt durch die Gründungen von Standard Oil, U.S. Steel und der Morgan-Banken und wegen der gigantischen Profite, die sie im gewissenlosen Kampf gegen Gewerkschaften und mit der Ausbeutung der Einwanderer erzielten (ebd. S. 57).
Bei ihrer „Integration“ der Wirtschaft von New York bis Kalifornien demolierten die „Räuberbarone“ die Demokratie und hoben die die bestehende soziale Ordnung aus den Angeln. Derber arbeitet heraus, dass die „Räuberbarone“ nicht nur einen Wirtschaftskreuzzug betrieben, sondern auch den Ausverkauf von Gesellschaft und Politik. Sie übernahmen geradezu die Stützpfeiler der Gesellschaft, also die Regierung, die Schulen, die Presse, die Kirche. „Mit einem Wort: Die Wirtschaft begann die gesamte Gesellschaft zu verschlingen“ (ebd. S. 58).
Für Derber ist der Schutzwall zwischen Großunternehmen und Regierungen gefallen. Wirtschaft und Regierung bilden eine intime Partnerschaft, innerhalb der Nationalstaaten und in der Weltordnung. Im neuen System besitze die Regierung zwar formal immer noch die Macht die Kontrolle auszuüben, aber sie wurde an eine Partnerschaft übertragen, die in Friedenszeiten zunehmend die Welt dominiere (ebd. S. 68). In der inzestuösen Verschmelzung von Wirtschaft und verfassungsmäßiger Regierung scheinen Regierungen wie Wirtschaftsunternehmen zu agieren und Unternehmen mehr und mehr wie Regierungsmächte (ebd. S. 69). Derber geht auf die so genannte Marktdemokratie ein, die suggerieren soll, dass wer am Markt teilnimmt, also Konsumenten und Investoren, über ihre Vorlieben abstimmen und dass diese Stimme wichtiger sei als der Wahlzettel. Die Marktdemokratie liefere die Illusion eines Machtanspruchs, sie basiere auf dem Prinzip „Ein Dollar, eine Stimme“, doch das sei zutiefst undemokratisch und vergrößere die Kluft zwischen Arm und Reich, weil es den Reichen eine viel größere politische Interessenvertretung ermögliche (ebd. S. 85).
Der „freie Handel“, so Derber, das Mantra heutiger Tage, war fast immer bestimmt von Regeln und Bedingungen, die der mächtigere Partner bestimmte (ebd. S. 49). Die harsche Ablehnung von Gewerkschaften sind für Derber bezeichnend für globale Freihandelszonen (ebd. S.52).
Durch den Widerstand der Gewerkschaften und von demokratischen Gegenbewegungen gelang es, die „Räuberbarone“ zu zähmen. Die Regierungen der „Progressive Era“ und des „New Deal“ sorgten für mehr sozialen Ausgleich und allgemeinen Wohlstand (ebd. S. 85).
Dirk Jürgensen hat das Buches „Das vergoldete Zeitalter – eine Geschichte von heute“, neu herausgegeben. Er schreibt im Vorwort, dass der Roman von Charles Dudley Warner und Mark Twain auch heute noch aktuell sei:
„Der technologische Fortschritt allgemein und die die absolute Freiheit des ungebremsten Marktes, die Entwicklung hin zu einem ökonomischen Imperialismus, brachten den im Grunde demokratisch organisierten Vereinigten Staaten eine neue Adelsschicht, die des Geldadels oder „high society“, Rockefeller, Vanderbildt und Carnegie sind nur einige Namen der gern als „robber barons“ bezeichneten Spitzenkapitalisten… Zunehmende Korruption, das rücksichtslose Aushebeln demokratischer Grundrechte, Lobbyismus, Vetternwirtschaft, die Arroganz der abgekoppelten Welt der Oberschicht und die Spekulationen mit fiktiven Werten ohne ein real nachweisbares Vermögensfundament sollten dem nicht enden wollenden Aufschwung, sollten der Epoche unendliche Chancen aufzeigen. Zugleich wuchsen Armut und Unzufriedenheit jener zahlenmäßig überwiegenden Gesellschaftskreise, die von all dem Aufschwung nicht profitierten oder gar unter den Begleiterscheinungen des allzu freien Marktes litten…1893 platzte eine Finanzblase. Man hatte den Eisenbahnbau über den eigentlichen Bedarf hinaus betrieben, ihn zum größten Industriezweig werden lassen, Bauprojekte wurden über zukünftig zu erwartende Erträge finanziert, Unternehmen begannen andere zur Beseitigung eines Konkurrenten, ohne wirkliche finanzielle Grundlagen aufzukaufen…“
Wirtschaftsmacht, Medien und Politik bilden damals wie heute eine Allianz gegen die Interessen einer großen Mehrheit der Bevölkerung, mit dem Ziel die soziale Marktwirtschaft einem modernen Feudalismus zu unterwerfen. Das Interesse global agierender Konzerne ist die Öffnung weiterer Märkte, die Schaffung eines günstigen Investitionsklimas und der Abbau von Arbeitnehmerrechten, sozialer Rechte und ökologischer Standards. Diese Entwicklung führt zunehmend zu einer Unterordnung des Verhaltens des Einzelnen unter den Willen der Wirtschaft. Das sind im Kern Wesenszüge eines totalitären Regimes. Der Staat als Hüter der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung verliert seine Bedeutung und seine Macht, weil global agierende Konzerne ihre Regeln für allgemeingültig erklären. Dabei wird ignoriert, dass der Wettbewerb Augenmaß und soziale Verantwortung braucht. Sollte die geplante Freihandelszone TTIP geschaffen werden, ist dies ein neuerlicher Versuch, wie Derber schreibt, die Demokratie und die soziale Ordnung aus den Angeln gehoben.
Umweltorganisationen, globalisierungskritische Bewegungen, Gewerkschaften und lobbykritische Netzwerke müssen sich auf europäischer Ebene verbünden und gemeinsam, als Allianz gegen ein neues „vergoldetes Zeitalter“ ankämpfen. Ein Netzwerk allein wird es nicht schaffen gegen die Übermacht der Konzerne anzukommen. Nur wenn die Bürger für die politischen Errungenschaften eintreten und gegen eine konzerngesteuerte Wirtschaftsordnung aufstehen und mit ihren sozialen, umwelt- und verbraucherschutzpolitischen Forderungen einen wirksamen Gegenpol bilden, besteht die Möglichkeit auf eine nachhaltige, soziale und demokratische Globalisierung von unten.
Quellennachweis:
Charles Derber, „One World“ V on globaler Gewalt zur sozialen Globalisierung, Europa Verlag, Hamburg 2003, 256 Seiten, 19.90 Euro
Charles Dudley Warner, Mark Twain, Das vergoldete Zeitalter: Eine Geschichte von heute.
Books on Demand, 2010 – 348 pages; ISBN: 3839182557, 9783839182550