Wie der Sozialstaat reformiert bzw. demontiert wird. Wandlungen des Gerechtigkeitsbegriffs.
Christoph Butterwegge hat uns ein weiteres Kurzreferat für den vom 24. -26. November in Frankfurt stattfindenen BdWi-Kongress „Ungleichheit als Projekt“ zur Verfügung gestellt.
Wandlungen des Gerechtigkeitsbegriffs auf dem Weg zum Almosen- und Suppenküchenstaat
Von Christoph Butterwegge
Bei der gegenwärtigen „Umbau“-Diskussion handelt es sich um den umfassendsten Angriff auf den Sozialstaat in seiner jahrzehntelang gewohnten Gestalt. Auf der politischen Agenda steht nicht etwa nur weniger, sondern ein anderer Staat. Es geht also keineswegs um die Liquidation des Sozialstaates, vielmehr um seine Reorganisation nach einem neoliberalen Konzept, das Leistungsreduktionen (z.B. „Nullrunden“ für Rentner/innen), eine Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen (z.B. Erhöhung des Renteneintrittsalters) bzw. eine Verkürzung der Bezugszeiten (z.B. von Arbeitslosengeld) und die Reindividualisierung sozialer Risiken beinhaltet.
Wie der Sozialstaat reformiert bzw. demontiert wird
Durch die verharmlosend oder beschönigend „Reformen“ genannten Maßnahmen verändert sich der Sozialstaat grundlegend, und zwar in mehrfacher Hinsicht:
Aus dem Wohlfahrtsstaat wird ein „nationaler Wettbewerbsstaat“ (Joachim Hirsch), der die Aufgabe hat, durch seine Politik die Konkurrenzfähigkeit des „eigenen“ Wirtschaftsstandortes auf dem Weltmarkt, Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Sozialstaatlichkeit, die eigentlich Verfassungsrang hat, besitzt für Neoliberale keinen Eigenwert mehr, sondern muss sich nach der Standortlogik wirtschaftlichen und Machtinteressen unterwerfen. Dies zeigt sich etwa bei Debatten über die Lockerung des Kündigungsschutzes oder die Aufweichung des Flächentarifvertrages. Da fast alle Gesellschaftsbereiche im Zuge einer Ökonomisierung, Privatisierung und Liberalisierung nach dem Vorbild des Marktes umstrukturiert werden, hält die Konkurrenz auch Einzug im Sozialstaat (Beispiel: Wettbewerb zwischen frei-gemeinnützigen und privat-gewerblichen Trägern im Bereich der ambulanten Pflegedienste).
Aus dem Sozialstaat wird ein Minimalstaat. Der „schlanke Staat“, wie er dem Neoliberalismus vorschwebt, ist im Hinblick auf die Sozialpolitik eher magersüchtig, aber keineswegs frei von bürokratischen Auswüchsen – ganz im Gegenteil! Leistungskürzungen und die Verschärfung von Anspruchvoraussetzungen gehen mit Strukturveränderungen einher, die nicht nur mehr Markt, sondern teilweise auch mehr staatliche Administration bedeuten. Beispielsweise werden für Zertifizierungsagenturen, Evaluationsbürokratien und Leistungskontrollen aller Art womöglich mehr Sach- und Personalmittel benötigt als vorher.
Der neoliberale Residualstaat ist eher Kriminal- als Sozialstaat, weil ihn die drastische Reduktion der Wohlfahrt zur Repression gegenüber jenen Personengruppen zwingt, die als Modernisierungs- bzw. Globalisierungsverlierer/innen zu Opfern seiner rückwärts gerichteten „Reformpolitik“ werden. Je weniger großzügig die Sozialleistungen einer reichen Gesellschaft ausfallen, umso schlagkräftiger muss ihr Sicherheits- bzw. Gewaltapparat sein. Was sie an der Wohlfahrt spart, geht für Maßnahmen gegen den Drogenmissbrauch, Kriminalität und Gewalt drauf.
An die Stelle des aktiven Sozialstaates, wie man ihn bei uns bisher kannte, tritt – sehr stark vom Kommunitarismus, einer US-amerikanischen Denkrichtung, beeinflusst – ein „aktivierender“, Hilfebedürftige nicht mehr ohne entsprechende Gegenleistung alimentierender Sozialstaat. Der „welfare state“ wandelt sich zum „workfare state“, wenn man den Arbeitszwang ins Zentrum der Beschäftigungs- und Sozialpolitik rückt. Ausgerechnet in einer Beschäftigungskrise, wo Millionen Arbeitsplätze – nicht: Arbeitswillige – fehlen, wird so getan, als seien die von Erwerbslosigkeit unmittelbar Betroffenen an ihrem Schicksal selbst schuld. Trotz des wohlklingenden Mottos „Fördern und fordern!“, das Leistungsgesetze von Gegenleistungen der Begünstigten abhängig macht, bemüht man sich gar nicht darum, die Chancen von sozial Benachteiligten zu verbessern, wie man im Weiterbildungsbereich sieht, wo sich die Bundesagentur (früher: -anstalt) für Arbeit immer stärker auf Hochqualifizierte und relativ leicht Vermittelbare konzentriert. Durch den Verzicht auf eine Zielgruppenförderung und sozialpädagogische Zusatzbetreuung sowie die unsoziale, aber auch kurzsichtige Fixierung auf den zu erwartenden Vermittlungserfolg („Output-Orientierung“ mit der Festlegung einer „Verbleibsquote“ von mindestens 70 Prozent als Voraussetzung für die Finanzierung von wie auch die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen) bleiben die sog. Hauptproblemgruppen des Arbeitsmarktes (Langzeitarbeitslose, Ältere und Berufsrückkehrerinnen) von Qualifizierungs- bzw. Fördermaßnahmen praktisch ausgeschlossen.
Der deutsche Sozial(versicherungs)staat, seit seiner Begründung durch Otto von Bismarck im Kern darauf gerichtet, die männlichen Industriearbeiter mit ihren Familien vor Standardrisiken wie dem Tod des Ernährers, der Invalidität und der Armut im Alter zu schützen, wird zu einem reinen Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat gemacht, der nicht mehr den Lebensstandard seiner Klientel erhält, sondern ihr nur noch eine Basisversorgung angedeihen lässt. Hartz IV war u.a. mit seiner Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, als „Zusammenlegung mit der Sozialhilfe“ sehr unzureichend charakterisiert, ein wichtiger Zwischenschritt auf diesem Weg und eine historische Zäsur in der Entwicklung des Arbeits- und Sozialrechts. Man spricht von „Eigenverantwortung“, „Selbstvorsorge“ und „Privatinitiative“, meint aber die öffentliche Verantwortungslosigkeit sowie eine Mehrbelastung von Arbeitnehmer(inne)n und Rentner(inne)n.
Auch im folgenden Punkt trägt die sozialpolitische Postmoderne mittelalterliche Züge einer partiellen Refeudalisierung: Durch die schrittweise Reindividualisierung, Reprivatisierung und Rückverlagerung sozialer Risiken auf die Familien, wie sie CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla mit seinem Vorschlag antizipierte, nicht nur Eltern sollten für ihre (erwachsenen) Kinder aufkommen, wenn diese arbeitslos seien, sondern auch (erwachsene) Kinder für ihre arbeitslosen Eltern, fällt die Gesellschaft hinter politische Errungenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts zurück.
Gleichzeitig wird das Gemeinwesen in einen Wohlfahrtsmarkt und einen Wohltätigkeitsstaat gespalten. Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich jene Bürger/innen, die es sich finanziell leisten können, das für sie erschwingliche Maß an sozialer Sicherheit (z.B. Altersvorsorge durch Versicherungspolicen der Assekuranz). Ergänzend stellt der postmoderne Fürsorgestaat als „Grundsicherung“ bezeichnete Minimalleistungen bereit, die Menschen vor dem Verhungern und Erfrieren bewahren, sie ansonsten jedoch der Privatwohltätigkeit überantworten. Folgerichtig haben karitatives Engagement, ehrenamtliche Tätigkeit im Sozialbereich, Spendenbereitschaft und die Gründung gemeinnütziger Stiftungen derzeit (wieder) Hochkonjunktur.
Wie der Gerechtigkeitsbegriff zwecks Legitimation des Sozialabbaus deformiert wird
Gerechtigkeit bildet den Maßstab für die in einer Gesellschaft akzeptierte (Un-)Gleichheit. Mit den neoliberalen Plänen zum Um- bzw. Abbau des Sozialstaates, also Konzepten wie der sog. Hartz- oder der sog. Rürup-Kommission und Gerhard Schröders „Agenda 2010“, häuften sich Bemühungen, die in der Gesellschaft bis dahin gültigen Gerechtigkeitsvorstellungen grundlegend zu verändern. Reformen der o.g. Art hätten sonst kaum Chancen, auf Massenakzeptanz zu treffen. Der dominierende Gerechtigkeitsbegriff wurde in mehrfacher Hinsicht modifiziert; sein Inhalt verschob sich von der Bedarfs- zur „Leistungsgerechtigkeit“, von der Verteilungs- zur „Beteiligungsgerechtigkeit“ und von der sozialen zur „Generationengerechtigkeit“.
Statt der Bedarfs- wird die Leistungsgerechtigkeit zum Kriterium für sozialstaatliches Handeln gemacht. Damit stellt die neoliberale Hegemonie in der Gesellschaft bisher allgemein verbindliche Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen auf den Kopf. Galt früher der soziale Ausgleich zwischen gesellschaftlichen Klassen und Schichten als Ziel staatlicher Politik, so steht heute den Siegertypen alles, den „Leistungsunfähigen“ bzw. „-unwilligen“ nach offizieller Lesart hingegen immer weniger zu. Für neoliberale Ökonomen, aber auch für etablierte Parteien und Politiker bildet die soziale Gerechtigkeit im Grunde ein Standortrisiko, weshalb sie die Freiheit vorziehen und als Möglichkeit der Kapitaleigentümer interpretieren, zu investieren, wie und wo sie wollen. Das ganze Steuersystem soll darauf ausgerichtet werden, sog. Leistungsträger zu belohnen und noch mehr als bisher zu entlasten, um den „Standort D“ zu stärken. Mit dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes ist ein solches Steuersystem schwerlich zu vereinbaren.
Gleichzeitig wird Verteilungsgerechtigkeit als traditionelles Ziel sozialstaatlicher Politik durch Teilhabe- oder Beteiligungsgerechtigkeit ersetzt. Entscheidend sei heute, dass Menschen einen gleichberechtigten Zugang zu Bildungsinstitutionen und zum Arbeitsmarkt erhielten. So sinnvoll die Erweiterung des Gerechtigkeitsbegriffs in Richtung von „Beteiligungsgerechtigkeit“ sein mag, so wenig kann Letztere als Ersatz dafür dienen, weil ihr durch soziale Ungleichheit der Boden entzogen wird. Ohne soziale Emanzipation gibt es keine umfassende politische Partizipation und ohne ein größeres Maß an Verteilungs- keine Beteiligungsgerechtigkeit. Zu fragen wäre, weshalb ausgerechnet zu einer Zeit, wo das Geld in fast allen Lebensbereichen wichtiger als früher, aber auch ungleicher denn je verteilt ist, seine Bedeutung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gesunken sein soll. Damit sie in Freiheit (von Not) leben, ihre Bedürfnisse befriedigen und ihre Pläne verwirklichen können, brauchen Menschen nach wie vor Geld, das sie bei Erwerbslosigkeit, Krankheit und im Alter als soziale bzw. Entgeltersatzleistung vom Sozialstaat erhalten müssen.
Zu den Schlagworten, die suggerieren (sollen), dass sich die Fronten der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung abgeschliffen hätten und neue Konstellationen entstanden seien, denen sich die Analyse zuwenden müsse, gehört der Vorwurf mangelnder Generationengerechtigkeit. Häufig tut man so, als ob der „klassische“ Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit durch einen neuen Grundwiderspruch, nämlich denjenigen zwischen Jung und Alt, abgelöst und Klassenkampf durch einen „Krieg der Generationen“ ersetzt worden sei. Hierbei handelt es sich um eine Dramatisierung des gesellschaftlichen Verteilungskampfes, die – auf dem Rücken von Rentner(inne)n ausgetragen – von den eigentlichen Problemen, etwa der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung, ablenkt. Kinderarmut wird missbraucht, um die nachwachsende gegen die Rentnergeneration auszuspielen und der Letzteren einen Verzicht auf Einkommenszuwächse oder Leistungskürzungen abzuverlangen. Die soziale Polarisierung, Folge einer Umstrukturierung fast aller Lebensbereiche nach dem Vorbild des Marktes, wirkt sich auf sämtliche Altersgruppen gleich aus: Armut geht mit wachsendem Wohlstand und vermehrtem Reichtum einher; wenn man so will, bildet sie dessen Kehrseite. Die soziale Scheidewand trennt nicht Jung und Alt, sondern verläuft immer noch, ja mehr denn je zwischen Arm und Reich – unabhängig vom Lebensalter!
Literatur
- Butterwegge, Christoph: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 3., erweiterte Aufl. Wiesbaden (VS – Verlag für Sozialwissenschaften) 2006
- Prof. Dr. Christoph Butterwegge leitet die Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln.