Rezension: Chrystia Freeland, „Die Superreichen. Aufstieg und Herrschaft einer neuen globalen Geldelite“
Chrystia Freeland ist ehrgeizig. Sie will etwas verstehen, was kaum noch einer verstehen kann. Sie möchte begreifen, wie sich der amerikanische Kapitalismus und der Kapitalismus auf der ganzen Welt verändert haben. Ihr Ausgangspunkt ist gut gewählt. Sie will sich anschauen, was ganz oben an der Spitze passiert. Eine Buchbesprechung des gerade im Westend Verlag erschienenen Titels „Die Superreichen“. Von Wolfgang Hetzer[*].
Dabei stellt die Autorin von Anfang an klar, dass es ihr nicht um Klassenkampf geht. Ihr geht es um „Arithmetik“. Im Unterschied zu den politischen Eliten beherrscht sie immerhin die Grundrechenarten. Viel mehr braucht es übrigens auch nicht, um zu erkennen, dass sich das Wirtschaftssystem nicht nur in den USA ad absurdum geführt hat. Spätestens Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts waren die Mittelklassen in einer Vielzahl von Staaten mit der Stagnation ihrer Einkommen konfrontiert, während Spitzeneinkommen in geradezu obszöne Höhen schossen. Zum Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnete sich sowohl in den westlichen Industrieländern als auch in den Schwellenländern eine Ungleichheit in der Entwicklung der Einkommen ab, die seitdem ständig gewachsen ist und inzwischen den sozialen Frieden bedroht. Freeland will wissen, wer jeweils zur obersten Spitze gehört, woher das Geld stammt, wie die Geldbesitzer denken und welche Beziehungen sie zu den „übrigen“ Menschen, wenn nicht zum „Rest der Welt“ haben. Sie bietet keine (Boulevard-) Reportage über die „Reichen und Schönen“ an und legt auch keine Anklageschrift vor, mit der sie die „Schuldfrage“ klären will. Freeland betreibt in ihrem Buch auch keine kapitalistische Bilderstürmerei. Im Gegenteil: Die Autorin ist der Überzeugung, dass wir den Kapitalismus brauchen und dass er – wie die Demokratie – das beste System sei, auf das man bisher gekommen ist. Sie erkennt allerdings, dass es auch auf die Ergebnisse ankommt und dass die Abkoppelung der „Plutokraten“ von allen anderen eine Folge der heutigen Funktionsweise des Kapitalismus und eine neue Realität ist, die der Zukunft ihren Stempel aufdrücken wird.
Freeland nimmt Politik und Wirtschaft gleichermaßen ins Visier. Das hat gute, d. h. manchmal auch schlechte Gründe. Es ist nicht zu bestreiten, dass politische Entscheidungen die Entstehung der Klasse der Superreichen überhaupt erst ermöglicht haben und dass deren politischer Einfluss enorm gewachsen ist, eine Situation, die in ihrer Absurdität und Gefährlichkeit immer noch nicht hinreichend analysiert und gewürdigt wurde. Freeland widmet sich dieser „Rückopplungsschleife“ mit einer höchst differenzierten Aufarbeitung riesiger Datenmengen, ohne die Übersicht über die wirtschaftlichen Grundlagen und die politischen, aber auch gesellschaftlichen Folgen zu verlieren. Sie untersucht mit großer Souveränität und exzellentem Sachverstand die ökonomischen Kräfte und legt mit außergewöhnlicher Überzeugungskraft dar, dass das durch die Globalisierung und die technologische Revolution angestachelte Wirtschaftswachstum die fundamentalen Triebkräfte für den Aufstieg der vielgerühmten Plutokraten lieferte. Freeland zeigt auch, dass sich die Angehörigen dieser Klasse der Superreichen nach wie vor auf Kosten der Allgemeinheit durch die aktuelle Entwicklung der Wirtschaft sogar noch weiter bereichern. Die Autorin hat sich vorgenommen, den geheimnisvollen Zusammenhang zwischen Fortschritt und Armut zu entschlüsseln. Dabei ist ihre Hypothese höchst zutreffend. Fortschritt kann weder wahrhaftig noch nachhaltig sein, wenn all der aufgespeicherte Reichtum nur dazu dient, das Vermögen einzelner maßlos zu vergrößern, den Luxus zu steigern und den Gegensatz zwischen Besitz und Mangel zu verschärfen.
Freeland wird ihrem eigenen Anspruch in engagierter und gleichzeitig objektiver Weise gerecht. Sie demaskiert die „Schicksalssphinx“, die in Gestalt der Superreichen dieser Welt das Lebensglück von unübersehbar vielen Menschen auf der Welt bedroht, die unter erbärmlichen Bedingungen buchstäblich ihre Haut zu Markte tragen müssen und dabei jenseits aller denkbaren Formen sozialer Gerechtigkeit entlohnt werden und so die ohnehin Reichen noch reicher machen. Es gelingt der Autorin auch, die Tür zum Haus der Superreichen aufzustoßen und seine Bewohner unter die Lupe zu nehmen. Der Anblick, den sie so eröffnet, ist atemberaubend, gelegentlich sogar ekelerregend. Kaum zuvor ist es mit einer derartigen Fülle von Details gelungen, Verhältnisse und Personen mit analytischer Präzision zu verknüpfen und ökonomischen Sachverstand, historische Kenntnisse sowie gesellschaftliche Sensibilität so einzusetzen, dass ein unverstellter und fast schon gnadenloser Blick in die Abgründe sozialer Ungerechtigkeit und ökonomischen Irrsinns eröffnet wird. Wer wissen will, wie schlimm es in Wahrheit bestellt ist, wird mit diesem Buch aus dem Westend Verlag in jeder Hinsicht gut bedient sein.
Chrystia Freeland: „Die Superreichen. Aufstieg und Herrschaft einer neuen globalen Geldelite“, 358 Seiten, 22,99 €, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2013
Siehe dazu auch den ttt-Beitrag „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“.
[«*] Dr. Wolfgang Hetzer ist Autor des Buches „Finanzkrieg – Angriff auf den sozialen Frieden in Europa“, Westend Verlag, Frankfurt/Main 2013; 320 Seiten; 21,99 Euro. Hetzer war langjähriger Leiter der Abteilung „Intelligence: Strategic Assessment & Analysis“ im Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) in Brüssel.