Der Psychopath als Vorbild?
Am 3. Juni 2013 gab der Sender 3SAT in seiner Sendung Kulturzeit dem englischen Psychologieprofessor Kevin Dutton Raum und Zeit, sein Loblied auf den „Psychopathen“ zu singen. Die Sendung hat Götz Eisenberg zu ein paar kritischen Anmerkungen provoziert.
Nachdem vor einigen Wochen bereits das Nachrichtenmagazin Der Spiegel unter dem Titel Raubtiere ohne Ketten reißerisch über das Psychopathen-Buch des englischen Psychologen Kevin Dutton berichtet hat, hat nun auch 3SAT am 3. Juni 2013 in seiner Sendung Kulturzeit ein Interview mit Kevin Dutton gezeigt, in dem er ausführlich auf die „Vorbildfunktion der Psychopathen“ einging. Diese seien durchsetzungsfähig, könnten sich auf das Wesentliche konzentrierten und handelten sehr überlegt. Von diesen Charaktereigenschaften könnten wir alle im Alltag profitieren. Für Psychopathen sei wegen ihrer weitgehenden Angstfreiheit „alles möglich“ und sie besäßen eine „unbekümmerte Rücksichtslosigkeit“. Eine „bisschen Psychopathie“ käme uns allen zu Gute, Psychopathie wirke als „Karriere-Turbo“.
Das gelte allerdings nur für eine gewisse Kategorie unter den Psychopathen, nämlich die „funktionierenden Psychopathen“. Wenn man unintelligent, aggressiv und psychopathisch sei und dazu noch in der Unterschicht aufwachse, werde man Schutzgeldeintreiber oder Schläger und lande über kurz oder lang im Gefängnis. „Wenn Sie psychopathisch, intelligent und brutal sind und in guten Verhältnissen aufgewachsen sind, dann stehen Ihnen alle noch so exotischen Berufe offen.“ Noch einmal wies Dutton darauf hin, dass man bei einer groß angelegten Untersuchung in Großbritannien herausgefunden habe, dass die meisten Psychopathen unter den Firmenbossen zu finden seien, gefolgt von Anwälten, Journalisten und Chirurgen. Die Gesellschaft profitiere von erfolgreichen Psychopathen. Er, Dutton, habe den Eindruck, „dass unsere heutige Gesellschaft zunehmend psychopathisch wird.“ Eine groß angelegte Untersuchung unter amerikanischen Studenten habe ergeben, dass Empathie und Mitgefühl sich in den letzten Jahrzehnten – forciert in den letzten zehn Jahren – dramatisch zurückgebildet hätten, während die Werte für Narzissmus „durch die Decke“ gingen.
All das trägt dieser Kevin Dutton so nüchtern vor, als ginge es um eine Studie über die Freizeit- und Essgewohnheiten englischer Mittelschichtsfrauen. Die akademische Psychologie verschwendet keinen Gedanken an die Strukturvorgaben und Funktionsimperative der kapitalistischen Wirtschaft. Sie ist auf dem gesellschaftlichen Auge blind und versucht deshalb, wie Peter Brückner bemerkte, „den Stand der Gestirne bei bereichsweise bedecktem Himmel zu bestimmen“. Sie kann und will nicht erkennen, dass die beschriebenen Phänomene eine Begleiterscheinung des neuen kapitalistischen Zeitalters darstellen. Der Psychopath ist der vollends kapitalistische Mensch, ein reines Waren- und Geldsubjekt, dem die äußere soziale Kälte zur zweiten inneren Natur geworden ist. Dutton interpretiert und hinterfragt die angesprochenen Entwicklungen nicht, sondern schildert sie wie Naturprozesse, die er beobachtet und gemessen hat.
Unsereiner nimmt schaudernd zur Kenntnis, dass die vom Kapitalismus auf seiner gegenwärtigen Entwicklungsstufe vorangetriebenen Flexibilisierungs- und Mobilisierungsprozesse auf der Innenseite der Subjekte einen Schwund all der Eigenschaften mit sich bringen, die wir bis dato für die eigentlich menschlichen angesehen haben. Alles, was diesen Psychopathen das Fortkommen unter den Bedingungen des flexiblen Kapitalismus erschwert, wird wie Ballast abgeworfen. Zurück bleibt jene „unbekümmerte Rücksichtslosigkeit“, von der Kevin Dutton bewundernd spricht, als handele es sich geradezu um eine neue Kardinaltugend. Was Adorno bereits in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts über die „Radiogeneration“ sagte, gilt umso mehr für die Ego-Generation von heute: Sie wollen „sich einpassen, das können, was alle können, das noch einmal tun, was alle tun. Sie sind illusionslos. Sie sehen die Welt endlich, wie sie ist, aber um den Preis, dass sie nicht mehr sehen, wie sie sein könnte. Darum fehlt es ihnen auch an Leid. Sie sind ‚abgehärtet‘ im physischen und im psychologischen Sinn. Ihre Kälte ist eines ihrer hervortretendsten Merkmale, kalt fremdem Leiden gegenüber, aber auch sich selbst gegenüber. Ihr eigenes Leiden hat so wenig Macht über sie, weil sie sich kaum daran zu erinnern vermögen: es vergeht so, wie der nach der Narkose erwachte Patient von den Schmerzen der Operation nichts mehr weiß … . Dieser Kälte entspricht eine geheime Komplizität mit den Dingen, denen man selber ähnlich zu sein strebt.“
Auch der 3SAT-Kommentar enthielt sich jeder Kritik, sondern stellte lediglich fest, die Thesen von Kevin Dutton seien zwar gewagt, aber nicht von der Hand zu weisen. Vielleicht seien die Psychopathen die „geistig Gesunden von morgen“. Sie seien „besser gerüstet für den ganz alltäglichen Wahnsinn“.