FAZ-Themenwoche „Vollbeschäftigung“ – Spiegelfechten im Niedriglohnparadies

Jens Berger
Ein Artikel von:

Arbeit für Alle“ – unter diesem Motto hat die FAZ die Woche rund um den Tag der Arbeit am 1. Mai zur Themenwoche zum Schwerpunktthema „Vollbeschäftigung“ erklärt. Begleitend dazu hat das FAZ-Wirtschaftsblog „Fazit“ zu einer Blogparade aufgerufen. Auch wenn wir[*] mit den aufgestellten Prämissen der FAZ ganz und gar nicht übereinstimmen, werden wir uns freilich dennoch an der Debatte beteiligen. Zunächst soll es hierbei um den von der FAZ bagatellisierten Zusammenhang zwischen den Arbeitseinkommen und den Beschäftigungszahlen gehen, der für die Beschäftigung mit dem Thema elementar ist. Von Jens Berger.

Wie die FAZ überhaupt zur steilen These kommt, es gäbe in Deutschland demnächst so etwas wie Vollbeschäftigung erklärt Patrick Bernau in einer Art Thesenpapier zum Schwerpunktthema. Auf viele Schwächen dieses Papiers ist bereits der Kollege André Tautenhahn eingegangen. Bernau argumentiert in seinem Thesenpapier streng angebotstheoretisch. Sinken die Löhne, sinkt auch die Arbeitslosigkeit, da es sich für die Arbeitgeber (wieder) lohnt, Menschen einzustellen. Und da die Löhne in Deutschland bekanntlich in den letzten beiden Jahrzehnten gesunken sind und der demographische Wandel zudem dafür sorgt, dass die Zahl der potentiellen Arbeitnehmer zurückgeht, wird sich – so Bernau – schon bald ein Überangebot von Arbeitsplätzen einstellen. Vordergründig leuchtet diese angebotstheoretische Herleitung durchaus ein. Wie man sich dies – ein wenig zugespitzt – vorstellen kann, habe ich bereits unter der ironischen Kapitelüberschrift „Willkommen im Putzfrauenparadies“ in meinem Buch „Stresstest Deutschland“ geschildert:

Um dies zu verdeutlichen, reicht ein kleines Gedankenspiel. Was wäre, wenn der Staat es zulassen würde, dass auch Privathaushalte Raumpflegerinnen in flexibler Teilzeit und zu einem Stundenlohn von einem Euro einstellen dürften – selbstverständlich ohne dafür mit Sozialabgaben, Kündigungsschutz oder Ähnlichem belästigt zu werden. Verrückt, nicht wahr? Wer würde einen solchen Job annehmen?
Was wäre nun, wenn die Privathaushalte ihre Stellengesuche bei den Arbeitsagenturen platzieren dürften und jede Leistungsbezieherin, die ein solches Angebot ablehnt, sanktioniert wird? Da die Erwerbslosen bei der momentanen Gesetzeslage gar keine Möglichkeit hätten, diese Angebote auszuschlagen, könnte die Kanzlerin schon wenige Tage später einen wundersamen Rückgang der Arbeitslosenzahlen vermelden – die Nachfrage nach Eineuroputzfrauen dürfte nicht eben gering sein. Wie würden Sie ein solches – noch hypothetisches – Arbeitsbeschaffungsprogramm nennen? Staatlich geförderte Zwangsarbeit? Sie liegen da gar nicht mal so falsch. Denn genau dieses Arbeitsbeschaffungsprogramm gibt es bereits in abgeschwächter Form.
Im April 2011 zählte die Arbeitsagentur fast 1,4 Millionen erwerbstätige Arbeitslosengeld-II-Empfänger – 326.000 davon in einem sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjob.

aus: Jens Berger, „Stresstest Deutschland“, 2012, Frankfurt

Kartoffelmarkt und Arbeitsmarkt

Vertreter der angebotstheoretischen Lehre gehen stets davon aus, dass der Arbeitsmarkt sich nicht sonderlich von anderen Märkten, wie beispielsweise dem Kartoffelmarkt, unterscheidet und die beiden Seiten (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) frei den Preis (Lohn) untereinander ausmachen. So einfach stellt sich der Arbeitsmarkt aber nicht dar. Ist die Kartoffel zu teuer, kann der potentielle Nachfrager auf den Kauf verzichten und stattdessen Nudeln, Brot oder Reis kaufen. Ein Erwerbsloser kann jedoch nicht so einfach ein „Jobangebot“ ausschlagen, egal wie schlecht es bezahlt ist – droht ihm doch Hartz IV und dann im schlimmsten Fall sogar die Sanktionierung und damit ein zeitweiliges Leben unterhalb dem Existenzminimum. Würde der Arbeitsmarkt funktionieren, gäbe es überhaupt keine Löhne, von denen man nicht leben kann und damit auch keine Hartz-IV-Aufstocker. Patrick Bernau findet es da „bemerkenswert“, dass „Deutschland seit einigen Jahren“ angeblich „nicht mehr über Arbeitslosigkeit diskutiert, sondern fast nur noch darüber, ob die Stellen angenehm sind und genug Geld bringen“. Da kann man nur sagen: Willkommen im Niedriglohnparadies Deutschland.

Vollbeschäftigung ist kein Selbstzweck, sondern kann und darf nur unter der Vorgabe ein arbeitsmarktpolitisches Ziel sein, dass die gezahlten Löhne ausreichen, um davon leben zu können. Leider geht dieser wichtige Punkt im ganzen Rausch der vergleichsweise niedrigen Arbeitslosenzahlen vollkommen unter. Es ist freilich nicht so, dass Patrick Bernau dieses Problem nicht sehen würde. Doch auch seine diesbezügliche Lösung ist wieder streng angebotsorientiert und geht komplett an der Realität vorbei. Laut Bernau stellen hohe Löhne ein „Risiko für die Arbeitsplätze dar“, ließen sich jedoch ohnehin nur dann durchsetzten, wenn die Arbeitnehmer „sowieso schon in der besseren Verhandlungsposition, sprich vollbeschäftigt [seien]“. Um dies zu untermauern, verweist Bernau auf die angebliche Verhandlungsmacht von Arbeitnehmern in Jobs, in denen es einen Bewerbermangel gibt. Mit einem konkreten Beispiel belegt Bernau diese Thesen jedoch nicht und er weiß sicher auch warum.

Fachkräftemangel und Vollbeschäftigung – Theorie und Praxis

Dabei lohnt ein Blick auf den Berufssektor, auf dem es momentan wohl den größten flächendeckenden Bewerbermangel gibt: den Pflegesektor. Wäre an Bernaus Thesen etwas dran, müssten die Kranken- und Altenpfleger ja ihre Macht im Arbeitsmarkt bereits nutzen und dem Arbeitgeber „die Bedingungen diktieren“, „höhere Gehälter, Sabbaticals und längere Urlaube aushandeln“. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Aber was kann die Theorie dafür, wenn die Praxis ihr einfach nicht folgen will? Mir ist kein Beispiel bekannt, bei dem die Arbeitgeber auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Fachkräftemangel gemäß der „Marktlogik“ reagiert und die Löhne erhöht hätten. Stattdessen bemüht man sich beispielsweise im Pflegesektor redlich, Ärzte und Pflegepersonal aus Entwicklungs- und Schwellenländern zu akquirieren, um hierzulande das Lohnniveau noch weiter zu drücken.

Es ist daher müßig, sich utopische Gedanken darüber zu machen, wie schön sich die Welt im vollbeschäftigen Deutschland zukünftig gestalten ließe. Solange es sich bei dem vollbeschäftigten Deutschland um ein Putzfrauenparadies“ mit flächendeckenden Niedriglöhnen handelt, wird aus der Utopie eine Dystopie.

Mit der Angebotstheorie in die Sackgasse

Bernaus Thesen haben jedoch aus volkswirtschaftlicher Sicht noch einen weiteren Kardinalfehler, der sich auf die eingeengte angebotstheoretische Sichtweise zurückführen lässt: Die Zukunft einer Volkswirtschaft, die aufgrund niedriger Löhne keine ausreichende und selbstragende Binnenkonjunktur entwickeln kann, hängt auf Wohl und Wehe vom Export ab. Man kann jedoch nur dann exportieren, wenn man Kunden für seine Exportgüter findet. Momentan tut Deutschland jedoch alles, um seine Kunden finanziell auszutrocknen und es ist zudem mehr als ungewiss, ob der „Exportweltmeister“ es schafft, seine gigantischen Auslandsforderungen überhaupt noch einzutreiben. Wenn die Krise mittel- bis langfristig anhält, wovon momentan auszugehen ist, wird jedoch auch der Export unausweichlich einbrechen. Die simple angebotstheoretische These, nach der man „nur“ wettbewerbsfähig produzieren muss und es dann schon irgendjemanden auf der Welt gibt, der die Produkte kauft und zahlt, gilt nun einmal nicht, wenn weltweit die Nachfrage einbricht.

Solange die Weltwirtschaft sich im „Krisenmodus“ befindet ist es daher auch vollkommen illusorisch, dass das Land, das als Exportweltmeister weltweit am stärksten vom Welthandel abhängig ist, ungeschoren bleibt und zur Vollbeschäftigung gelangt.

Agenda Setting für den Wahlkampf

Die FAZ-Themenwoche „Vollbeschäftigung“ wirkt vor diesem Hintergrund eher wie ein Versuch, den Lesern Sand in die Augen zu streuen und die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte als Erfolgsmodell umzudeuten – die in schwarz-gelb gehaltene Illustration von emsigen Arbeitnehmern zu Bernaus Artikel ist dabei auch farblich Programm. Man merkt es: Der Wahlkampf kommt langsam auf Touren und die FAZ versucht in einer ersten Agenda die gewünschten Themen zu setzen. Während der Rest der Republik darüber debattiert, wie man die immer größer klaffende Schere bei der Einkommens- und Vermögensverteilung schließen könnte und die meisten Experten darin einig sind, dass das Debattenthema „Gerechtigkeit“ den Wahlkampf beherrschen wird, versucht die FAZ die Debatte unter fadenscheinigen Prämisse in eine andere Richtung zu lenken. Für ein solches Manöver gab es früher mal einen passenden Ausdruck: Spiegelfecherei.

So sagt man, wenn man Jemand mit irgend etwas dem Scheine nach Glaubliches täuscht, es sey eine Spiegelfechterei.

Johann Georg Krünitz, “Oeconomischen Encyclopädie”, 1773


[«*] Albrecht Müller wird im Laufe der Woche ebenfalls noch einen Artikel zum Thema veröffentlichen

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