Der Nordkorea-Konflikt aus Sicht der Welthungerhilfe: Es geht um die Menschen
Kein Tag vergeht an dem nicht eine Meldung über den aktuellen Nordkorea-Konflikt veröffentlicht wird. Die Bandbreite reicht von Meldungen über die martialische Kriegsrhetorik, Spekulationen hinsichtlich innenpolitischer Machtkonstellationen bis hin zu Berichten einer angeblichen Hungersnot. Zu wenig wissen die Menschen hier in Europa über dieses Land, in das es kaum Einblicke gibt und das sich selbst seit Jahrzehnten abschirmt. Von Dirk Reber [*]
Die Welthungerhilfe arbeitet als eine der wenigen europäischen Hilfsorganisationen seit über 15 Jahren in Nordkorea: Wir leben vor Ort und haben Kontakt zu den Menschen. Seit dem Beginn unserer Arbeit im Jahre 1997 haben wir in Nordkorea sehr viele Einblicke bekommen und zahlreiche Veränderungen wahrgenommen. Wir sind auch gegenwärtig vor Ort, wurden nicht aufgefordert das Land zu verlassen, haben tagtäglich Kontakt zu unseren Mitarbeitern in Pyongyang, haben unsere Projektaktivitäten nicht eingestellt und sehen auch keinerlei Belege oder Anzeichen einer gegenwärtigen oder aufkommenden Hungersnot.
Nahrungsmittel wichtiger als politische Ideologie
Bedingt durch die naturräumlichen Bedingungen können nur ca. 20 Prozent der Fläche Nordkoreas landwirtschaftlich genutzt werden. Die Landwirtschaft wiederum ist konfrontiert mit sehr schwierigen Bedingungen, eiskalten Wintern von Dezember bis Februar und starkem Monsumregen von Juli bis September. Dazu kommt eine mangelnde staatliche Leistungsfähigkeit, es fehlt an Dünger, modernen Maschinen und Ersatzteilen, sowie an Treibstoff und Strom. Dennoch ist die Hungersnot der 90er Jahre schon seit vielen Jahren überwunden und die Nothilfe ist inzwischen von Selbsthilfeprojekten abgelöst worden. In Zusammenarbeit mit den ländlichen Genossenschaften und zuständigen Fachministerien wurden seitens der Welthungerhilfe in den vergangen Jahren zahlreiche Gewächshäuser gebaut, neue Anbaumethoden eingeführt, die Saatgutverarbeitung optimiert, Obstplantagen errichtet, und Trinkwassersysteme modernisiert. Die Ernährungssicherung konnte in den Projektregionen stabilisiert werden, dennoch fehlt es nach wie vor an einer flächendenkenden Versorgung mit hochwertigen Nahrungsmitteln (reichhaltiges Gemüse und Obst, Fisch und Fleisch), so dass vor allem Kleinkinder von einer chronischen Fehlernährung betroffen sind. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Fragilität der Grundversorgung besonders spürbar. Ende April ist der Beginn der Mangelperiode, weil die Vorräte der letzten Ernte aufgebraucht sind und die nächste Ernte erst ab Oktober zur Verfügung steht. Die Menschen in Nordkorea haben daher momentan andere Sorgen als den bestehenden Konflikt oder militärische Mobilmachung: die Beschaffung von Nahrungsmitteln für die Sicherung der Existenz der eigenen Familie.
Veränderungen geschehen langsam und im Kleinen
Das Wirtschaftssystem Nordkoreas, basierend auf der Staatsphilosophie „Juche“, ist planwirtschaftlich ausgerichtet und wird im Allgemeinen verantwortlich gemacht für die chronischen Mängel in allen Lebensbereichen. Grundsätzlich fehlt es zwar an entscheidenden makroökonomischen Reformen zur Modernisierung des Wirtschaftssystems und die damit einhergehende Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung, dennoch haben sich in den vergangenen Jahren zahlreiche kleine Veränderungen ergeben, die in den großen Schlagzeilen untergehen. Im Sommer 2002 wurden erste wirtschaftliche Reformen durchgeführt, die ländlichen Genossenschaften stellen seitdem ihre Betriebspläne mit mehr Eigenverantwortung auf, d.h. sie können freier entscheiden, was sie anbauen, und den Überschuss selbst vermarkten. Verbunden mit dem Engagement der internationalen Gemeinschaft sind die Wirkungen der Reformen seit einigen Jahren deutlich spürbar, die Ernährungssituation der ländlichen Bevölkerung hat sich erheblich verbessert. Aber ohne weitere Reformen im Bereich der Landwirtschaft stößt die Wirkung der Arbeit an ihre Grenzen. Die Verbesserung in den vor- und nachgelagerten Bereichen ist hier dringend notwendig: Zugang zu Land, Verlagerung der Entscheidungskompetenzen auf die Einzelbetriebe, Verbesserung der Bereitstellung von landwirtschaftlichen Inputs und Dienstleistungen, und Schaffung von formellen Handelsstrukturen. Erste zaghafte Ansätze, Senkung der staatlichen Abgabenquote und Einführung von Anreizmechanismen, sind seit 2012 in Planung und werden in ausgewählten Genossenschaften testweise angewendet.
Inzwischen können die Bauernfamilien auf kleinen Parzellen Nutzpflanzen „privat“ anbauen, entweder zum Selbstverzehr oder zum Verkauf auf den immer zahlreicher werdenden und nicht mehr wegzudenkenden Märkten. Die Versorgung der Bevölkerung läuft zunehmend über den „informellen“ und Schwarzmarkt-Handel, das staatliche Versorgungssystem funktioniert nur noch rudimentär. Neben Nahrungsmitteln werden auch Konsumgüter chinesischer Herkunft seitens der stetig anwachsenden Mittelschicht in „harter“ Währung nachgefragt. In den größeren Städten entstehen Supermärkte, Restaurants und Karaoke-Bars. Mobiltelefone, die lange verboten waren, verbreiten sich in Windeseile.
Die zunehmende Privatbewirtschaftung birgt mangels staatlicher Rahmenplanung aber auch Schattenseiten. Immer mehr Bauern und Kleinstädter nutzen Berghänge, um sich zusätzliche Einkommensquellen zu verschaffen. Viele Hügel sind bereits vollkommen kahl und schutzlos der Erosion preisgegeben. Die starken Regenfälle im Sommer lösen regelmäßig große Hangabrutschungen aus und gefährden viele Menschen bzw. ihre Existenzgrundlagen. Deshalb intensiviert die Welthungerhilfe gegenwärtig zunehmend Wiederaufforstungsprojekte, in denen Katastrophenvorsorge mit einer landwirtschaftlichen Nutzung verbunden ist und in denen die Bauern und Kleinstädter auch mitreden und mitentscheiden können.
Der Schlüssel: Annäherung und Vertrauensbildung
Kritiker in Europa werfen uns oft vor, unsere Arbeit diene nicht allein den Menschen, sondern gezwungenermaßen auch dem Systemerhalt. Tatsächlich befinden wir uns in einem ständigen Dilemma zwischen unserem eigenen Anspruch und den fast immer politisch geprägten Realitäten in Nordkorea, wo wir mit einer Regierung konfrontiert sind, für die das Handeln gemäß ihrer eigenen Ideologie an erster Stelle steht. Als nicht-staatliche und politisch neutrale Hilfsorganisation handeln wir jedoch nach strikt humanitären Richtlinien. Das bedeutet: Unabhängig von den politischen Gegebenheiten eines Landes und seines Ansehens in der Welt ist es unsere Aufgabe, die Menschen darin zu unterstützen, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, frei von Hunger und Armut, wahrzunehmen.
Das machen wir in vielen Ländern dieser Welt, und dazu gehört auch Nordkorea. Im Gegensatz zu anderen Länden ist hier dennoch manches anders. Trotz chronischer Notlage in sämtlichen Bereichen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens haben wir es in Nordkorea mit willensstarken und intakten staatliche Strukturen zu tun. Vieles verläuft sehr bürokratisch, nicht zuletzt durch die restriktive Kommunikationspolitik. Wir können unsere koreanischen Mitarbeiter nicht frei aussuchen und müssen unsere Projektbesuche vorher anmelden. Preise für Gehälter, Mieten und Telefonate werden uns vorgegeben und sind sehr teuer. Alle Ausländer wohnen in den diplomatischen Vierteln Pyongyangs. Der freizeitliche Kontakt zu uns Ausländern ist für die Koreaner stark eingeschränkt.
Dennoch ist die Anwesenheit der Hilfsorganisationen nicht ohne Folgen geblieben. Seit über fünfzehn Jahren arbeiten Nordkoreaner und Ausländer zusammen, bauen gegenseitige Vorurteile ab. Nordkoreaner haben erkannt, dass Ausländer nicht amerikanische Spione sind, und Ausländer haben erkannt, dass Nordkoreaner nicht alle im Stechschritt marschierende Roboter sind. Statt Zuteilung und Verordnung erleben wir gemeinsames Planen und Durchführen. Unabhängig von politischen Ideologien begegnen wir uns mit Respekt und Engagement. Die Kommunikation verläuft horizontal und nicht vertikal. In unserem Büro in Pyongyang und in unseren Projektgebieten auf dem Land lösen wir anfallende Probleme gemeinsam.
Organisationen wie die Welthungerhilfe sind eines der wenigen Fenster, das die Nordkoreaner zur Außenwelt haben. Neben Studienreisen und Langzeitpraktika sehen sie durch die Zusammenarbeit wie „Zivilgesellschaft“ funktioniert. Dadurch wurde etwas geschaffen, was in der ganzen Bandbreite des Nordkorea-Konfliktes untergeht: gegenseitiges Vertrauen.
[«*] Dirk Reber, seit 2003 Mitarbeiter der Welthungerhilfe in Bonn, kennt Nordkorea durch einen zweijährigen Aufenthalt und regelmäßige Besuche