Angela Merkel – „Mutter Blamage“ – Eine Rezension
Endlich durchbricht ein Journalist, der nicht unter der Berliner Käseglocke arbeitet und nicht in das dortige selbstbezügliche Zuruf-Netzwerk seiner Berufskollegen eingebunden ist, den schönen Schein, den die Kanzlerin ausstrahlt. Stephan Hebel, (noch) politischer Autor der Frankfurter Rundschau beschreibt die Wirklichkeit im Lande und die tatsächlichen Auswirkungen von Merkels Politik auf die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung.
„In mehr als zwei Jahrzehnten Politikbeobachtung habe ich niemals einen derart eklatanten Widerspruch erlebt zwischen dem Image einer politischen Persönlichkeit und ihrer tatsächlichen Politik. Nie ist es einem Politiker in Deutschland gelungen, derart konsequent auf Kosten der Mehrheit zu handeln und zugleich die Sympathie dieser Mehrheit zu gewinnen“, schreibt Hebel im Vorwort zu seinem gerade im Westend Verlag erschienenen Buch „Mutter Blamage“. Merkel sei geradezu das Gegenstück zur „Mutter Courage“ in Bertolt Brechts gleichnamigem Theaterstück. Während Brechts Titelfigur Anna Fierling mit dem Satz „Komm, geh mit angeln, sagt der Fischer zum Wurm“ vor falschen Versprechungen warne, gelinge es Merkel gerade umgekehrt mit uns angeln zu gehen und uns vor aller Welt zu blamieren. Von Wolfgang Lieb
Das Bild, das Merkel von sich verbreite und verbreiten lasse, habe mit ihrem Handeln wenig zu tun. Dennoch werde in den meisten Medienberichten nahezu täglich das Bild „einer umsichtig und pragmatisch handelnden Mutter der Nation“, einer „nervenstarken Krisenmanagerin“ oder einer „Garantin einer maßvollen Reformpolitik für alle“ gezeichnet.
Die zentrale These das Buches ist: „Angela Merkel verdankt ihren Erfolg einem permanenten Betrugsmanöver. Sie hat, auch wenn es nicht so scheint, sehr wohl eine politische Agenda. Und die ist blamabel für Deutschland.“ Diese Agenda sei – allen Schönfärbereien und Lobhudeleien zum Trotz – die eiskalte Durchsetzung der neoliberalen Ideologie in Form eines „Wirtschaftsliberalismus light“. „Mit der angeblich »mächtigsten Frau der Welt« ist Deutschland aggressiver geworden, nach außen für Freund und Feind unberechenbarer denn je seit dem Zweiten Weltkrieg, nach innen ungerechter und reformunfähiger als sogar unter der bleischweren Regentschaft des Helmut Kohl.“ Deutschland sei ein Land geworden, „in dem die Politik sich selbst zur Erfüllungsgehilfin ökonomischer Interessen degradiert.“
Auf dem Leipziger Parteitag der CDU im Jahre 2003 habe Merkel das neoliberale Programm noch in Reinkultur gepredigt. Nach dem für sie enttäuschenden Wahlergebnis 2005 habe in der Großen Koalition ihre „Chamäleonisierung“ begonnen. Nach der Wahl 2009 habe sie dann mit der FDP ihren Wunschpartner bekommen, der ihr die Selbstinszenierung als „Kanzlerin für alle“ erlaubte. Ohne den neoliberalen Kompass einer „marktkonformen Demokratie“ aufzugeben, habe Merkel flexibel dort reagiert, wo die öffentliche Meinung, die Interessen der Wirtschaft, die Mehrheit der EU-Partner oder das Bundesverfassungsgericht nichts anderes mehr zuließen, aber an ihrer Zielsetzung habe sich nichts geändert. Die „Blamage“ ihres Versagens – gemessen an dem Ziel einer möglichst gerechten und lebenswerten Gesellschaft und gegenüber einem Kapitalismus der wenige bereichert und viele immer ärmer macht – sei mit Fassadenmalerei übertüncht worden. Übertüncht mit schönen Worten, „die allerdings nur zynisch genannt werden können angesichts der praktischen Politik“. Es erstaune immer wieder „mit welcher Chuzpe es dieser Frau gelingt, sich das breite Publikum durch ein paar folgenlose Sätze über die »Soziale Marktwirtschaft« gewogen zu machen und zugleich mit eindeutigen ideologischen Ansagen ihre neoliberalen Freunde zu bedienen.“
Den Weg zur Macht und ihrem Erhalt ging und gehe die Kanzlerin mit einer Zielstrebigkeit und Rücksichtslosigkeit, die ihresgleichen suche. Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Friedrich Merz, Roland Koch, Norbert Röttgen, Christian Wulff und andere seien „entsorgt“ worden, weil sie ihre Inszenierung oder den Betriebsfrieden gefährdeten. Ihre stärkste Waffe bestehe darin, ihre tatsächlichen Ziele zu verbergen, sich für die negativen Auswirkungen ihrer Politik nicht haftbar machen zu lassen – weder von Freund noch Feind.
In der Eurokrise habe die Regierung immer wieder versucht, den Einfluss des Bundestages so weit wie möglich zu minimieren, z.B. indem komplexe Vorlagen erst Stunden vor der Beschlussfassung vorgelegt oder mit demokratisch fragwürdigen Methoden die Zustimmungsrechte des Parlaments selbst über Milliardenausgaben massiv beschränkt wurden. Immer wieder hätte das Verfassungsgericht die Rechte des Haushaltsgesetzgebers verteidigen müssen. Merkel habe die nachträglichen Korrekturen so dargestellt, als sei es eine Selbstverständlichkeit, dass viele wichtige Entscheidungsprozesse zum Euro nachträglich korrigiert worden sind.
„Der von der Kanzlerin sorgfältig vermittelte Eindruck, sie tue als Krisenmanagerin entschlossen und nervenstark das jeweils Notwendige, (be)trügt. In Wahrheit ist hier nicht die angeblich pragmatische Krisenmanagerin am Werk, sondern die begnadete Machttechnikerin. Das ganze Gerede von »Hilfe« und »Rettung«, verbunden mit arroganten Zurechtweisungen, adressiert an die Länder des europäischen Südens – das alles hat mit dem realen Handeln der Kanzlerin sehr wenig zu tun.“ In Wirklichkeit denke sie national, statt europäisch und marktfundamentalistisch statt solidarisch. Sie habe ganz Europa dem Modell Deutschland unterworfen, obwohl dieses Modell auch hierzulande nicht trage. An den beiden Beispielen der „Eurokrise“ und der „Schuldenkrise“ beschreibt Hebel die „deutsche Blamage“ ausführlicher. Die mit ökonomischen Knebelungsprogrammen verbundenen Kredite an Griechenland und andere südeuropäischen Staaten, seien „eine blamable Missachtung der Lehren“, die Deutschland aus der Geschichte der Nachkriegszeit hätte ziehen müssen. Der »Merkelantismus« „Eure Schulden gleich unsere Exporterlöse“ gehe logisch nicht auf. Das sei nichts anderes als „exportgetriebener Machtpolitik nach der Methode Merkel“.
Während Merkel die Drohung, die Staatsausgaben um jeden Preis zu drosseln auf verheerende Weise wahr gemacht habe, habe sich die Ankündigung die Finanzmärkte konsequent einzugrenzen als folgenlose Rhetorik erwiesen. Dort wo Merkel um eine Regulierung nicht herumkam, also etwa beim Verbot von „Leerverkäufen“ bei einer gewissen Kontrolle des „Hochfrequenzhandels, habe sie die Kontrolle im Wesentlichen denjenigen überlassen, die gerade zu kontrollieren wären, nämlich der örtlichen Börsenaufsicht.
Auf vielen anderen Feldern, die Hebel anspricht, präsentiere sich Merkel „dem Publikum als Krisenmanagerin und Wahrerin deutscher Interessen, während sie sich angesichts der eigentlich anstehenden Aufgaben bis auf die Knochen blamiert.“
Auch bei innenpolitischen Vorhaben folge Merkel dem Prinzip „wer hat, dem wird gegeben“. Der Kanzlerin sei es bei der „Energiewende“ gelungen, als ihren Erfolg zu feiern, dass sie über Nacht genau das Gegenteil von dem vertreten hat, was sie als „Atomkanzlerin“ ein halbes Jahr zuvor noch als „unverzichtbar“ erklärt hatte, nämlich die „technisch sichere“ Atomkraft. Der Regierung sei es gelungen die hohen Stromkosten als eine Folge der Energiewende darzustellen, um dabei über die unsoziale Verteilung der Lasten hinwegzutäuschen, bei der große Teile der Wirtschaft auf Kosten der Normalverbraucher geschont würden. 18 Prozent des Gesamtstromverbrauches verursachten 2023 Unternehmen, die lediglich für einen Anteil von 0,3 Prozent der EEG-Umlage aufkämen.
Die Entlastung „der Wirtschaft“ bilde den Kern Merkl`schen Denkens und Handelns. Sie verfolge konsequent die neoklassische Lehre der Angebotsorientierung und entlaste die Unternehmen, wo es nur gehe zu Lasten der Arbeitnehmer. Das „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ sei das Kernstück der letzten Legislaturperiode gewesen. Im Windschatten des Protests gegen die Klientelpartei FDP wegen der „Hoteliersteuer“ seien etwa die einkommensstärksten Erben entlastet worden, mit Kinderfreibeträgen seien die Spitzenverdiener fast doppelt so hoch entlastet worden, wie die Kindergeldbezieher. Kurz: Merkel hinterlasse nach ihrer zweiten Amtszeit ein sozial gespaltenes Land, mit einer Umverteilung des Vermögens von unten nach oben und eine Wirtschaft, die sich vom Wachstum der Exportmärkte abhängig gemacht habe.
„Wer werktags arbeiten geht und sonntags Merkel wählt, hat sich entschieden: Er wird auch in Zukunft einen Teil seines Wohlstands den Vermögenden und Spitzenverdienern »spenden«, und zwar in Form von Lohnverzicht.“ Merkel tische eine „Jobwunder-Lüge“ auf. Zwar habe die Zahl der abhängig arbeitenden Menschen zugenommen, nicht aber ihr Anteil am gesellschaftlichen Reichtum. Nicht nur die Stagnation der Reallöhne sei eine Blamage für ein reiches Land, sondern auch die dramatische Zunahme „atypischer Beschäftigung“.
Wenn Merkel von der deutschen „Wettbewerbsfähigkeit“ rede, dann verberge sich dahinter erzwungener Lohnverzicht. Wenn sie von „Lohnuntergrenze“ spreche, dann seien das mühsam erzwungene Tarifverträge an oder unter der Armutsgrenze.
Hebels Fazit: „Die schwarz-gelbe Regierung hat nicht nur mit dafür gesorgt, dass Millionen Menschen in Deutschland zu unwürdigen Löhnen arbeiten müssen und andere sogar in der Hartz-IVFalle gefangen bleiben, während Kapitalbesitzer ihre Gewinne kräftig steigern. Auch bei der Langzeitarbeitslosigkeit nimmt Merkels Musterland sogar eine blamable Spitzenstellung in Europa ein.“
Hebel schlägt mit weiteren Kapiteln etwa über die Privatisierung der Rente, über den Überwachungsstaat, über die diskriminierende Ausländer- und Asylbewerberpolitik, über die von knallharten Interessen geleitete Außen- und Militäreinsatzpolitik und vielen weiteren Einzelthemen – wie etwa Stuttgart 21 – einen großen Bogen der Kritik an der Regierung Merkel. Kritik, die Sie als Leser oder Leserin der NachDenkSeiten in hunderten Artikel im Detail nachlesen konnten. Dennoch ist es spannend, diese Kritik nochmals in Buchform zusammengefasst zu bekommen. Es ist ein Buch, das den politischen und ökonomischen Laien ansprechen soll, dennoch hätte man sich an manchen Stellen eine noch fundiertere Untermauerung der (richtigen) Kritik gewünscht.
Manchmal hätte man sich erhofft, dass die Perspektive seiner Kritik an Merkels Politik politisch und ökonomisch noch etwas weiter geöffnet worden wäre. So wirkt es etwas unglaubwürdig, wenn er sich zur Bestätigung seiner Kritik häufig auf Zitate von Politikern der Oppositionsparteien von SPD und Grünen stützt. Da wäre es ehrlicher gewesen, wenn er deutlicher darauf hingewiesen hätte, dass diese Parteien im Bundestag sich selbst noch unter der Regentschaft Merkel gleichfalls nur allzu oft „blamiert“ haben, etwa weil sie den „Sparkurs“, den Fiskalpakt, die Austeritätspoliltik und die Durchsetzung des deutschen Agenda-Modells in ganz Europa bis heute mehrheitlich unterstützt haben. Hebel beklagt zwar die Deregulierungspolitik des Finanzministers während der Großen Koalition, Peer Steinbrück, um aber die gesamte „Blamage“ deutscher Regierungspolitik vor und nach der Finanzkrise darzustellen und zur Erklärung, warum Merkel das Betrugsmanöver gelingen konnte, hätte es des Hinweises darauf bedurft, dass sich die Kanzlerin hinter der politischen Schockwelle verbergen konnte, die Gerhard Schröder und Rot-Grün mit ihrer Agenda-Politik ausgelöst hatten. Auf dieser Welle konnte Merkel bis heute surfen und sich über Wasser halten. Mit einer Politik nach dem Motto: „Hauptsache, die Leute merken es (noch) nicht.“
Stephan Hebels Buch „Mutter Blamage“ ist eine auf die heutige Zeit übertragene Version von Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Er belegt darin, dass die Kanzlerin nicht die wunderbaren Gewänder trägt, wie sie selbst meint und die ihr die veröffentlichte Meinung zuschreibt. Indem Hebel den Schwindel aufdeckt, blamiert er die Politik Angela Merkels auf der ganzen Linie. Er hofft natürlich wie im Märchen darauf, dass das Volk endlich den Mut aufbringt, und es wagt, diese Blamage auch als eine Blamage zu erkennen.
Deshalb hat er die Hoffnung (noch) nicht aufgegeben, dass Angela Merkel abgewählt werden könnte und damit „die Blamage erfährt, die sie verdient.“ Die Wut über die Verhältnisse und der Wunsch etwas dagegen zu tun, seien nicht verschwunden. „Es wäre dumm, die bestehenden Freiheitsräume nicht zu nutzen, um Breschen zu schlagen in die ungebrochene Herrschaft der ökonomisch Mächtigen und ihrer politischen Fahnenträger.“
Es sei politisch kurzsichtig und dumm den Protest auf der Straße gegen Wahlen auszuspielen.
„Es gibt – ungeachtet der Beliebtheit Merkels und der günstigen Prognosen für ihre Partei – realistische Chancen für eine »Mehrheit links der Mitte«. Das gilt aber – wenn die FDP wieder in den Bundestag einzieht – wohl nur für SPD, Grüne und Linkspartei gemeinsam.
Und es gibt schlechte Chancen, diese Mehrheit wirksam werden zu lassen, weil die SPD und vielleicht sogar die Grünen sich lieber der CDU/CSU anbieten würden, als endlich das Tabu
gegenüber der Linkspartei zu brechen.“
Einen neuen Weg zu einer neuen Regierung sieht er in einer Minderheitenregierung von Rot-Grün. „Wenn es also für eine rot-grüne Mehrheit nicht reicht, sollte ein Kandidat der SPD – ob er nun Steinbrück heißt oder nicht – im Parlament gegen Angela Merkel zur Kanzlerwahl antreten. Diese Wahl sollte vielleicht nach Gesprächen unter den Parteien
stattfinden, aber ohne vorherige Vereinbarung einer Koalition…Wagte die bisherige Opposition, wagte vor allem die SPD das Experiment der Kanzlerwahl ohne feste Koalition, dann könnte sich zeigen, für welchen Politikentwurf die demokratisch gewählte Mehrheit der Volksvertretung im Grundsatz steht.“
Das wäre das gute Ende eines schönen Märchens. Doch leider erzählen Märchen nur von wundersamen Begebenheiten und von Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat.
Stephan Hebel, Mutter Blamage. Warum die Nation Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht
Erschienen am 26. Februar 2013 im Westend Verlag, 160 Seiten
ISBN 978-3-86489-021-5
EUR 13.99 [D]