Italien – keine Mehrheit für die Koalition der Marktkonformen

Jens Berger
Ein Artikel von:

Wenn es gestern bei den italienischen Parlamentswahlen einen großen Verlierer gab, dann war dies die Austeritätspolitik. Angela Merkels Lieblingskandidat Mario Monti konnte nur jede zehnte Stimme für sich gewinnen – eine schallende Ohrfeige für Berlin und Brüssel. Auch das breit aufgestellte Mitte-Links-Bündnis rund um Pierluigi Bersani, das sich in den letzten 15 Monaten als treuer Partner Montis präsentiert hat, schnitt vergleichsweise schlecht ab. Die satte Mehrheit in der ersten Kammer, dem Abgeordnetenhaus, ergibt sich nur dadurch, dass das italienische Wahlrecht der stärksten Partei automatisch 54 Prozent der Sitze zuspricht – an den Urnen bekam Bersani jedoch lediglich ein bzw. drei Prozentpunkte mehr als seine Konkurrenten Berlusconi und Grillo. Eine Koalition der Marktkonformen verfügt im Senat somit über keine Mehrheit. Neuwahlen sind angesichts des Umstands, dass es drei ungefähr gleichstarke Lager gibt, die allesamt nicht miteinander kompatibel sind, auch keine echte Option. Von Jens Berger.

Die ersten Reaktionen auf die Parlamentswahlen in Italien kennzeichnen sich vor allem durch ein arrogantes Unverständnis. Stellvertretend dafür sei hier ein Kommentar in der Süddeutschen Zeitung von Stefan Kornelius genannt, in dem der Autor Marktkonformität zur Staatsräson erhebt und die Wähler in einem typisch-deutsch arroganten Unterton zu Opfern von Populisten erklärt. Doch so einfach ist es nicht. Es zeigt sich vielmehr, dass den deutschen Leitartiklen offenbar jegliche Form der Empathie abhanden gekommen ist und sie nicht mehr fähig sind, über ihre ideologischen Scheuklappen hinaus zu denken.

Bemerkenswert ist auch der unverhohlen marktkonforme Ton der deutschen Berichterstattung zu den Wahlen in Italien. Wen interessieren schon die Italiener und ihre Probleme? Quer durch die deutschen Medien zieht sich stattdessen die Sorge, wie „die Märkte“ auf das Votum der Italiener reagieren könnten. Den unrühmlichen Höhepunkt stellt hierbei ein Artikel in der BILD-Zeitung dar, bei dem als Experten ganze fünf Vertreter von Banken und ein Sprecher des wirtschaftsnahen IW aufgeführt werden. Im Artikel geht es wohlgemerkt um eine politische Einordnung und nicht um eine Börsenberichterstattung.

Italienisch-Deutsche-Verhältnisse

Stellen Sie sich doch einmal folgende Situation vor: Der demokratisch gewählte deutsche Bundeskanzler weigert sich, die haushaltpolitischen Forderungen der mächtigen italienischen Premierministerin und des Finanzsystems eins zu eins umzusetzen und wird daraufhin mehr oder weniger sanft durch den Druck der italienisch dominierten EU-Kommission zum Rücktritt getrieben. Daraufhin ernennt der deutsche Bundespräsident – ebenfalls auf Wunsch Roms und Brüssels – einen marktliberalen Ökonomen und Goldman-Sachs-Berater, nennen wir ihn Ottmar Issing, zum neuen deutschen Bundeskanzler, Finanz- und Wirtschaftsminister in Personalunion.

Stellen Sie sich nun vor, dass der „Technokraten-Bundeskanzler“ Issing die Vorgaben aus Rom, die identisch mit den Wünschen der Banken sind, bereitwillig umsetzt, die Volkswirtschaft damit in eine tiefe Wirtschaftskrise treibt und dann rund zwei Jahre später bei den Bundestagswahlen zusammen mit einigen obskuren Kleinparteien, unterstützt von der Industrie- und Bankenlobby, als Spitzenkandidat einer Wahlliste auftritt.

Stellen Sie sich dann noch vor, dass italienische Politiker massiv Einfluss auf die Wahlen nehmen und in deutschen Zeitungen tagaus, tagein italienische Politiker dem deutschen Wähler nahelegen, doch bitte bloß keine Partei zu wählen, die sich gegen die italienischen Interessen stellt und ihren Wunsch nach einer Regierungsbeteiligung Issings äußern. So etwas kann in einem demokratischen Europa nicht vorkommen? Dann tauschen Sie einmal Deutschland und Italien aus und ersetzen Ottmar Issing durch Mario Monti. Wer will es den Italienern da verdenken, dass sie dieser undemokratischen Politik eine schallende Ohrfeige verpassten und Mario Montis Wahlbündnis an den Urnen abstraften?

Bersani und Monti – das marktkonforme Duo

Vergleicht man die italienische und die deutsche Parteienlandschaft, so würde das Mittel-Links-Bündnis rund um Pierluigi Bersani ein gewaltiges Spektrum angefangen bei den Grünen über die gesamte SPD bis hin zu großen Teilen der CDU abdecken. Bersanis Bündnis ist zwar nach deutschen Vorstellungen sehr seriös und staatstragend, politische Begeisterung konnte es jedoch nie hervorrufen. Bersani positionierte sich in der Vergangenheit eher als Kürzungspolitiker mit menschlichem Antlitz. Seine Partito Democratico, ein Sammelbecken aus den Überresten der alten Sozialisten und Teilen der alten Christdemokraten, vermochte es nie, dem Wähler eine Alternative zum Berliner und Brüsseler Austeritätskurs aufzuzeigen. Auch Bersani steht hinter dem Dogma der Kürzungspolitik und will neoliberale Strukturreformen umsetzen. In den vergangenen 15 Monaten stand Bersanis Bündnis stets treu hinter Monti und stimmte jeder seiner Reformen zu – angefangen bei der harten Rentenreform, über Steuererhöhungen bis hin zu den Massenentlassungen im öffentlichen Dienst.

Der Unterschied zwischen Monti und Bersani ist lediglich der, dass Bersani vorgibt, diese Politik stärker sozial abfedern zu wollen. Abgesehen davon, dass dieses Versprechen nicht sonderlich glaubwürdig ist, muss man auch feststellen, dass Bersani es nicht geschafft hat, die Menschen für diese Art von Politik zu begeistern. Traditionell halten die italienischen Sozialisten ihre Abschlusskundgebung vor Tausenden von Anhängern vor der römischen Lateranbasilika ab. In diesem Jahr zog man stattdessen in ein Theater in einem Hinterhof und feierte sich selbst vor 200 ausgewählten Gästen. Den Platz vor der Lateranbasilika füllten stattdessen mehr als 100.000 Anhänger Beppe Grillos.

Beppe Grillo – nur ein Komiker?

Grillo ist zweifelsohne der große Gewinner der Wahlen. Sein Bündnis „MoVimento 5 Stelle“ ist keine Partei im klassischen Sinne, sondern vielmehr eine Bürgerbewegung. Das Gesicht dieser Bewegung ist der ehemalige Komiker und heutige Politaktivist Peppe Grillo. In eine Schublade passt diese Bewegung nicht. Grillo und seine Mitstreiter sind vielmehr ein Sammelbecken für die außerparlamentarische Opposition. Das Programm besteht sowohl aus vernünftigen Punkten, wie beispielsweise die Bekämpfung politischer Korruption und den Stopp der Privatisierung öffentlicher Güter, als auch aus utopischen Träumereien wie der Einführung eines Grundeinkommens und der 20-Stunden-Woche. Am Ehesten ist das MoVimento wohl mit der Piratenpartei vergleichbar. Koalitions- und mehrheitsfähig ist man damit freilich nicht, aber das ist auch nicht das Ziel des MoVimento.

Um sich den Erfolg de MoVimento zu erklären, lohnt sich ein Blick in die Tiefen der italienischen Politik. In Italien gibt es keine traditionsreichen Volksparteien mehr. In den 1990ern wurden beide Volksparteien von gigantischen Korruptionsskandalen hinfort gefegt und den politischen Erben gelang es nie, sich glaubwürdig vom alten System des Klientelismus und der politischen Korruption zu lösen.

Beppe Grillo hat dieses System bereits als bekannter TV-Komiker in den 1990ern attackiert und wurde daraufhin von den italienischen TV-Stationen, die ebenso wie die meisten Zeitungen fest mit dem System verfilzt sind, zur persona non grata erklärt. Grillo machte die Not zur Tugend und wurde zu einem der weltweit meistgelesenen politischen Blogger, der es über die Jahre hinweg schaffte, um sich herum eine bedeutende außerparlamentarische Oppositionsbewegung aufzubauen.

Grillo ist zweifelsohne ein Populist, doch es wäre dann auch wieder zu einfach, ihn zusammen mit Berlusconi eine Schublade zu packen. Grillo ist vielmehr der Anti-Berlusconi. Grillo steht für Transparenz, Berlusconi für Korruption. Berlusconi ist eine schon beinahe satirische Überspitzung des italienischen Klientelismus und des – vor allem in ländlichen Gegenden immer noch vorherrschenden – Machismo, Grillo nutzt die Satire, um gegen Klientelismus und Machismo anzukämpfen. Der große Erfolg von Grillo und seinem MoVimento ist jedoch nur dadurch erklärbar, dass es die „seriösen“ demokratischen Parteien nie geschafft haben, sich glaubwürdig von ihrer Vergangenheit zu lösen und das verfilzte System zu säubern.

Ein weiterer Grund, warum das MoVimento jede vierte Stimme für sich gewinnen konnte, ist die zur Schau gestellte „Alternativlosigkeit“ der anderen Parteien. Wer beispielsweise gegen eine Austeritätspolitik, gegen Privatisierungen und gegen neoliberale Strukturreformen stimmen wollte, stand vor einer schweren Wahl. Die beiden „seriösen“ Kandidaten Bersani und Monti stehen für eine diametral andere Politik und Berlusconi ist eigentlich auf keinem politischen Themenfeld eine glaubwürdige Alternative, konnte jedoch vor allem in den letzten Wochen durch seine gespielte Gegnerschaft zur deutschen Kanzlerin gerade auf diesem Feld punkten.

Auch das Themenfeld Transparenz und politische Korruption war ein klarer Erfolgsfaktor für Grillos MoVimento. Bersani ist eher ein Vertreter des alten Systems und Berlusconi dessen ins Groteske neigende Überspitzung. Monti wiederum ist der Mann des großen Geldes, ein Handlanger der Finanzlobby rund um Goldman Sachs. Wen also wählen?

Bei aller gespielten Aufregung, sollte es selbst den arglosesten unter den deutschen Leitartiklern nicht wirklich wundern, dass jeder vierte Italiener zum Protestwähler wurde und sein Kreuzchen bei Beppe Grillo machte. Es ist auch wenig hilfreich, seine Wähler zu Opfern des Populismus zu machen. Populismus kann immer nur dann grassieren, wenn die vermeintlich seriöse Politik keine glaubwürdigen Antworten auf die Probleme der Zeit geben kann. Die beste Medizin gegen Populismus ist eine gute Politik und es ist nicht erkennbar, dass Bersani und Monti sich ernsthaft Mühe gegeben haben, eine wirklich gute Politik zu propagieren, mit der man die Wähler begeistern kann.

Berlusconi – Das größte Comeback seit Lazarus?

Neben Grillo gehört auch der Cavaliere, Silvio Berlusconi, zu den Wahlgewinnern. Eigentlich gehörte Berlusconi bereits zur politischen Vergangenheit und hätte seinen Lebensabend mit „Bunga Bunga“ und Gerichtsverhandlungen verbringen können. Dank der unfreiwilligen Unterstützung aus Berlin und Brüssel konnte sich Berlusconi jedoch in seiner unnachahmlich unseriösen Art als Gegenspieler zu Angela Merkel darstellen. Während Bersani und Monti darum wetteiferten, wer das „bessere“ Kürzungspaket zusammenstellt, verweigerte sich Berlusconi den vermeintlichen realpolitischen Zwängen und versprach den Wählern eine Rückerstattung der Steuern und das Blaue vom Himmel. Für viele Italiener, für die Berlusconis TV-Sender, in denen er nach wie vor als großer Staatsmann gilt, der vom kleinlichen politischen Feind verfolgt wird, das einzige Informationsmedium sind, war dies Grund genug, den Cavaliere ein weiteres Mal zu wählen. Aber auch hier gilt – hätte das Mitte-Links-Bündnis um Bersani sich nicht so sehr als williger Vollstrecker fremder Interessen dargestellt, wäre Berlusconi mit dieser Taktik auch nicht durchgekommen. Nicht der „dumme Wähler“, sondern die „alternativlose“ Politik des Mitte-Links-Bündnisses trägt die Verantwortung dafür, dass Berlusconi von den Scheintoten erwacht ist.

Wie geht es nun weiter?

Der italienische Senat besteht nun aus drei Blöcken, die eigentlich komplett inkompatibel sind. Dem Block Bersani-Monti fehlen 27 Stimmen zur absoluten Mehrheit und auch Berlusconi ist mit seinem Mitte-Rechts-Block weit von einer absoluten Mehrheit entfernt. Es ist auszuschließen, dass Grillos „MoVimento 5 Stelle“ mit seinen 54 Sitzen für eines der Lager den Mehrheitsbeschaffer spielt. Der gordische Knoten ließe sich nur dann auflösen, wenn das Mitte-Links-Bündnis und das Mitte-Rechts-Bündnis eine große Koalition bilden. Dies wird jedoch nicht möglich sein, solange Silvio Berlusconi dem Mitte-Rechts-Bündnis vorsteht. Neuwahlen sind auch keine wirklich „erfolgversprechende“ Option, da das gestrige Ergebnis keinesfalls knapp ist und es nicht ersichtlich ist, warum es bei Neuwahlen derart große Verschiebungen geben sollte, dass eines der klassischen Lager die absolute Mehrheit im Senat holen könnte.

Hinter den Kulissen wird nun wohl der Druck auf das Mitte-Rechts-Bündnis zunehmen, sich von seinem Spitzenkandidaten Silvio Berlusconi zu trennen. Berlin und Brüssel werden sicher bereits Kontakt mit Berlusconis designierten Nachfolger Angelino Alfano aufgenommen haben und dabei sanften Druck ausüben.

Es ist jedoch auch keinesfalls auszuschließen, dass die Herren Bersani und Monti eine Minderheitsregierung ohne eigene Senatsmehrheit aufstellen. Dann müssten sie sich für jedes einzelne Gesetz eine Mehrheit im Senat verschaffen und dabei – nach jetzigem Stand – mindestens 27 Senatoren des Berlusconi- oder Grillo-Lagers für sich gewinnen. Minderheitsregierungen sind in der italienischen Nachkriegsgeschichte keine Seltenheit, mitten in der Eurokrise wäre dies jedoch alles andere als marktkonform.

Eine breite Mehrheit, die die Vorgaben Brüssels in die Tat umsetzt, ist unter den gegebenen Konstellationen im italienischen Senat nicht denkbar. Selbst eine große Koalition zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts wäre eine Koalition zwischen zwei Lagern, die sich in vielen Punkten alles andere als einig ist. Und der Gewinner einer solchen Koalition der „alten Kräfte“, die nur gebildet wird, um die Vorgaben aus Berlin und Brüssel umzusetzen, wäre ohnehin niemand anderes als Beppe Grillos MoVimento, das damit zur einzigen parlamentarischen Opposition würde. Und diese Vorstellung dürfte in Berlin und Brüssel ebenfalls Sorgenfalten hervorrufen.

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