Die „demografische Entwicklung“ entpuppt sich als Kaffeesatzleserei
Nach neuesten Schätzungen des Statistischen Bundesamtes hat die Bevölkerungszahl in Deutschland auf 82 Millionen Personen zugenommen. Nach den bisherigen politischen Annahmen über die „demografische Entwicklung“ hätte es einen Bevölkerungsrückgang und eine Verschiebung im Altersaufbau geben müssen. Das „Geburtendefizit“ bleibt zwar bestehen, doch es wird durch die Zuwanderung junger und – gemessen am Bevölkerungsdurchschnitt – deutlich höher qualifizierter Menschen vor allem aus europäischen Ländern mehr als ausgeglichen.
Die von der Politik zum Naturgesetz erhobenen Modellrechnungen über die Bevölkerungsentwicklung stellen sich als „moderne Kaffeesatzleserei“ heraus. Die „Prognosen“ dienten vor allem als ein politischer Hebel für einen radikalen Sozialabbau.
Nehmen wir also jetzt aufgrund der neuen Bevölkerungszahlen, die aufgrund der „demografischen Entwicklung“ politisch als „alternativlos“ betrachteten Einschnitte in die Rente oder das Gesundheitswesen wieder zurück? Oder machen wir so weiter wie bisher und benutzen die beruflich gut qualifizierten Zuwanderer nur als „Reservearmee“, damit die Löhne weiter gedrückt werden können? Von Wolfgang Lieb
„Deutschlands Bevölkerung nimmt seit 2003 ab. Dieser Rückgang wird anhalten und sich verstärken. Ende 2008 lebten circa 82 Millionen Menschen in Deutschland. 2060 werden es zwischen 65 Millionen (bei jährlicher Zuwanderung von 100 000 Personen, Untergrenze der „mittleren“ Bevölkerung) und 70 Millionen (bei jährlicher Zuwanderung von 200 000 Personen, Obergrenze der „mittleren“ Bevölkerung) sein. Auch nach der Variante mit der maximal zu erwartenden Bevölkerungszahl – sie unterstellt eine steigende Geburtenhäufigkeit, einen hohen Anstieg der Lebenserwartung und einen jährlichen Wanderungssaldo von 200 000 Personen – würden 2060 in Deutschland etwa 77 Millionen Menschen leben und damit weniger als heute.“
So hieß es in der jüngsten „Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung“ des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2009 (S. 12) [PDF – 1 MB].
Solche und teilweise noch mehr dramatisierende frühere Vorausberechnungen bestimmten jahrelang die politische Agenda. (Zur Verteidigung des Statistischen Bundesamtes muss man dazu sagen, es sind Modellrechnungen und eben keine Prognosen, sie wurden nur immer von der Politik und von interessierten Kreisen als unveränderbare Naturgesetze dargestellt.)
Diese „Berechnungen“ wurden als Untergangszenarien missbraucht. Sarrazin prognostizierte sogar, Deutschland schaffe sich ab. Für den politischen Mainstream war der Rückgang der Bevölkerung und dabei vor allem das geringe Nachwachsen junger (erwerbsfähigen) Menschen der tragende Grund und der politische Hebel für den „Umbau“ der sozialen Sicherungssysteme. Der Abbau der gesetzlichen Rente wurde damit begründet und die Rente mit 67. Auch die sog. Gesundheitsreformen basierten auf den Kalkulationen, dass der Bevölkerungsrückgang und die „Überalterung“ (!) zwingend zu Einschnitten bei den Versicherungsleistungen und zu mehr „Eigenverantwortung“ (sprich: Eigenbeteiligung) führen müssten.
Die Einwohnerzahl nimmt zu
Und nun wird gemeldet: „Die Einwohnerzahl Deutschlands hat nach einer Schätzung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) im Jahr 2012 erneut zugenommen. Am Jahresanfang lebten 81,8 Millionen Personen und am Jahresende voraussichtlich etwa 82,0 Millionen Personen in Deutschland. Nach acht Jahren Rückgang wird die Bevölkerungszahl damit das zweite Jahr in Folge steigen.“
Dabei hätte doch – wie die nachstehende Kurve zeigt – die Bevölkerungszahl spätestens ab 2005/6 deutlich absinken müssen.
Quelle: destatis.de [PDF – 1 MB]
Was ist passiert?
Nein, die Deutschen sind nicht wesentlich gebärfreudiger geworden. Die für 2012 geschätzten Geburten zwischen 660.000 und 680.000 könnten zwar etwas höher liegen als im Vorjahr mit 663.000 Geburten. Aber nach wie vor sterben mehr Menschen (860.000 bis 880.000) als geboren werden. Es wird 2012 sogar mit mehr Sterbefällen gerechnet als im Jahr zuvor.
Die frühere Modellrechnung liebt jedoch bei der Zuwanderung von Menschen nach Deutschland deutlich neben der Wirklichkeit.
Das wird zwar Eugeniker wie Sarrazin, die nichtdeutschen Volksgruppen genetisch geringere Intelligenzleistungen unterstellen (siehe zur Kritik an diesem Vorurteil „Thilo Sarrazin hat grundlegende genetische Zusammenhänge falsch verstanden“) nicht davon abbringen, weiter zu behaupten, dass Menschen mit deutschem Blut aussterben. Aber den Sozialdarwinisten werden ihre rassistischen Schreckbilder entrissen. Es sind eben nicht „Araber und Türken …, (die) keine produktive Funktion“ haben oder „kleine Kopftuchmädchen“ (Zitate Thilo Sarrazin), die zu uns kommen, es sind vor allem (zu 80 Prozent) Zuwanderer aus EU- und dabei vor allem aus den Euro-Krisenländern. Eine starke Zuwanderung gab es aus osteuropäischen Ländern wie Polen (89.000), Rumänien und Bulgaren. Vor allem nahmen die Zuwanderer aus Griechenland (16.000 = plus 78% gegenüber 2011), Spanien (11.000 = plus 53%) und Portugal (6.000 = plus 53%) nahm im vergangenen Jahr deutlich zu.
Quelle: Institut der Deutschen Wirtschaft IW
Bedeutsam ist dabei, dass der Anteil der Zuwanderung mit hoher Bildungsqualifikation in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Nach einer Veröffentlichung [PDF – 510 KB] des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) hatten 2009 44 Prozent einen akademischen Abschluss und weitere 24 Prozent eine abgeschlossene Berufsausbildung, weitere 5 Prozent befinden sich bei uns in Ausbildung oder Studium.
Laut dem Bildungsbericht der Bundesregierung (S. 44) [PDF – 12 MB] haben in Deutschland gerade mal 30 Prozent der 30 bis unter 35-Jährigen einen tertiären Abschluss, im Durchschnitt sind es gar nur 18 Prozent Die Akademikerquote der Zuwanderer liegt also erheblich über dem Durchschnitt.
Quelle: Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) [PDF – 510 KB]
In der Regel sind es auch jüngere Menschen, die ihre berufliche Zukunft in Deutschland suchen.
Statt eines demografischen „Aderlasses“ müsste man vielmehr umgekehrt sagen, dass Deutschland nicht nur ökonomisch sondern auch demografisch Europa eher ausbeutet. Die Zuwanderer heben somit den Bildungsstand in Deutschland.
Die „Akademikerflucht“ dürfte angesichts der hohen (Jugend-)Arbeitslosigkeit und der schlechten Arbeits- und Einkommensbedingungen in den Südeuropäischen Staaten eher zunehmen, zumal die Einwanderungsbedingungen für Fachkräfte nach Deutschland erleichtert werden. 2011 verließen 300.000 spanische Akademiker ihr Land und im Jahre 2010 sind fast 10 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiter italienischer Universitäten emigriert. In Portugal stehen 110.000 Akademiker auf der Straße.
Fazit:
Die wie ein Naturgesetz eingestuften Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamts dienten der Politik als sichere Prognosen für die „demografische Entwicklung“ und als politischer Hebel für die Zerstörung der gesetzlichen Rente und für die Einschnitte im Gesundheitswesen. Immer weniger (jüngere) Erwerbstätige müssten immer mehr Alte versorgen, an diese unausweichliche Entwicklung müssten die sozialen Sicherungssysteme angepasst werden, so wurde ständig behauptet.
Wir haben auf den NachDenkSeiten oft begründet, dass wenn man den Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung eine prognostische Qualität verleiht, dies zumal über eine längere Zeitspanne gesehen, „moderne Kaffeesatzleserei“ (Gerd Bosbach [PDF – 185 KB]) ist. Strukturbrüche wie jetzt z.B. die Euro-Krise sind eben nicht vorhersehbar und schon immer waren Modellannahmen durch (gesellschafts-)politische Entscheidungen (früher etwa die Antibaby-Pille, jetzt z.B. einer erleichterten Zuwanderung) beeinflussbar.
Die Modellannahmen sämtlicher Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes mussten auch in der Vergangenheit ständig korrigiert werden. Und wenn der derzeitige Trend anhält, müssen sie im Hinblick auf die Bevölkerungszahl und die Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland in nächster Zukunft erheblich korrigiert werden.
Nehmen wir aber jetzt aufgrund der neuen Bevölkerungszahlen, die früher aufgrund der „demografischen Entwicklung“ politisch als „alternativlos“ betrachteten Rentenkürzungen, die Rente mit 67, die staatliche Subventionierung der privaten Altersvorsorge, die Einschnitte bei der Gesundheitsvorsorge und die höhere Selbstbeteiligung der Patienten bei der Krankenversorgung wieder zurück?
Müssen wir angesichts der Alters- und Qualifikationsstruktur der Zuwanderer etwa sogar bald neue Frühverentungsprogramme auflegen, damit die gut qualifizierten jungen Menschen überhaupt einen Arbeitsplatz finden? Oder machen wir so weiter wie bisher und benutzen die beruflich gut qualifizierten Zuwanderer als „Reservearmee“, damit die Löhne weiter gedrückt werden können?