Neujahrsansprache: Eigenlob statt Problemlösungen oder wie politisches Versagen an die Bürgerinnen und Bürger weitergereicht wird
Aufrufe zu Mut und Zuversicht gehören zum Ritual von Neujahrsansprachen. Die Frage ist allerdings immer, woraus sich solche Hoffnungsappelle speisen sollen. Angela Merkels Ausblick auf 2013 war eine Flucht in die anbiedernde Beliebigkeit und in die verklärende Idylle. Dieser Neujahrsansprache fehlte jeder Mut zur Wahrheit und zur Wahrnehmung der Wirklichkeit und schon gar fehlte jeder Anhaltspunkt, dass durch politisches Handeln dieser Regierung das Jahr 2013 zu einem glücklicheren Ende führen könnte. Von Wolfgang Lieb.
Beliebig war schon der Einstieg: „2013 wird ein Jahr vieler 50. Jahrestage“. Es gibt wohl kein Jahr, zu dem man nicht fünfzigste Jahrestage aufzählen könnte. Vor allem, wenn es sich um so beliebige Ereignisse handelt, wie die von Merkel für erwähnenswert gehaltenen, nämlich dass 1963 „Dinner for One“ aufgezeichnet wurde oder dass vor fünfzig Jahren der erste Spieltag der Fußball-Bundesliga stattfand. Solche Beispiele sind nichts anderes als eine durchschaubare Anbiederei an ein unpolitisches Publikumsinteresse. Darüber helfen auch die anderen historischen Reminiszenzen, wie der Besuch John F. Kennedys an der Berliner Mauer oder die Unterzeichnung des Elysee-Vertrages durch Charles de Gaulle und Konrad Adenauer nicht hinweg. Zumal im Hinblick auf die deutsch-französische Freundschaft – gerade angesichts des derzeit gespannten Verhältnisses zwischen Hollande und Merkel – keinerlei zukunftsgerichtete Aussage oder gar ein politisches Bekenntnis folgte.
Womit will die Bundeskanzlerin nun selbst Mut zeigen und womit will sie Mut machen?
Der Verweis auf ein Zitat des seligen Gründers der „Gesellenvereine“, Adolph Kolping, der die wirtschaftliche und seelische Not geknechteter Menschen seiner Zeit zu lindern versuchte, bleibt ohne wenigstens einen Satz, wo und wie Merkel die Armut und Demütigung vieler Menschen unserer Zeit angehen will, reine Zitathuberei.
Statt selbst auch nur ein Stückchen Mut zu zeigen, flüchtet Merkel in die von der eigenen Verantwortung ablenkende, beliebte Politikerrhetorik des Lobs auf die freundschaftliche, nachbarliche oder familiären Selbsthilfe. Ohne auch nur ein einziges Wort über die politische verursachte zunehmende Spaltung und die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft zu verlieren, erzählt Merkel lieber anrührende „Geschichten“ zivilgesellschaftlichen Engagements, die jenseits der ökonomischen und sozialen Wirklichkeit „Zusammenhalt“ belegen sollen.
Wie sehr das Lob an die „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger“ nur einnehmende Rhetorik ist, zeigt sich darin, dass der verklärenden Beschreibung der Idylle bürgerschaftlichen Gemeinsinns unvermittelt das Eigenlob folgt: „So wurde es möglich, dass wir in diesem Jahr die niedrigste Arbeitslosigkeit und die höchste Beschäftigung seit der Wiedervereinigung hatten“, sagt Merkel in Abwandlung ihrer Wahlkampfpropagandaparole in der Haushaltsdebatte vor einigen Woche, wonach „diese Bundesregierung… die erfolgreichste seit der Wiedervereinigung“ sei.
Es folgt dann die üblich gewordene statistische Schönfärberei: Viele hunderttausend Familien hätten (durch die „höchste Beschäftigung“ (!)) eine sichere Zukunft und Anerkennung erfahren und unsere jungen Menschen hätten die Sicherheit, eine Ausbildung, einen Arbeitsplatz und damit einen guten Start ins Leben gewonnen.
Die Realität hinter der beschönigenden Arbeitsmarktstatistik wird schlicht geleugnet.
Dass jeder fünfte Beschäftigte (20,6 %) für einen Niedriglohn arbeiten muss und damit alles andere als berufliche Anerkennung erfährt, dass über vier Millionen prekäre Beschäftigungsverhältnisse in Form von Teilzeitarbeit und geringfügiger Beschäftigung in Gestalt von Mini-Jobs und Leiharbeit entstanden sind, die alles andere als eine sichere Zukunft garantieren, schiebt die Kanzlerin ohne jeglichen Skrupel beiseite.
Dass prekäre Arbeitsverhältnisse wie Praktika und befristete Jobs gerade junge Leute besonders betreffen und mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen bis 24 Jahren befristet oder in Leiharbeit beschäftigt sind, ist doch wohl alles andere als „Sicherheit“. Dass nahezu jeder dritte Bewerber um einen Ausbildungsplatz (28,4 %) in einer Warteschleife landet und rund 2,2 Millionen Jüngerer im Alter zwischen 20 bis 34 Jahren (15 % dieser Altersgruppe) keinen Berufsabschluss hat, ist doch alles andere als ein “guter Start ins Leben“.
Die Kanzlerin hat für diese Millionen von Abgeschobenen und Abgehängten nichts anderes anzubieten, als dass sie diese Menschen ihren persönlichen „Sorgen“ überlässt. Ja noch mehr, sie kündigt an, dass ihre Aussichten im neuen Jahr noch düsterer werden könnten:
„Und tatsächlich wird das wirtschaftliche Umfeld nächstes Jahr nicht einfacher, sondern schwieriger.“
Aufgabe einer Regierungschefin in Anbetracht einer sich eintrübenden Konjunktur und einer schwächelnden Weltwirtschaft wäre es, statt Eigenwerbung zu betreiben, politische Lösungswege aufzuzeigen und dadurch Mut zu machen. Aber mangels eigener vorzeigbarer Leistungen verweist Merkel lieber auf „die Bereitschaft zur Leistung“ jedes einzelnen. Das schwieriger werdende wirtschaftliche Umfeld wird nicht etwa als politische Herausforderung angenommen, sondern es soll umgekehrt für die Bürgerinnen und Bürger „Ansporn“ sein, mehr zu leisten. Politisches Versagen wird so auch im kommenden Jahr zum persönlichen Problem umdefiniert, es wird an die Bürgerinnen und Bürger weitergereicht.
Weil die Kanzlerin außer Selbstbeweihräucherung nichts an Ideen oder gar konkreten Vorschlägen anzubieten hat, erzählt sie anrührende Geschichten von „medizinischen Wundern“. Sie will damit ihrem geneigten Publikum die Bedeutung der Forschung für die Schaffung von Arbeitsplätzen belegen. „Wenn wir etwas können, was andere nicht können, dann erhalten und schaffen wir Wohlstand.“
Nichts gegen exzellente Forschungsleistungen und schon gar nichts dagegen, dass Forschung die Lebensqualität erhöht, aber das ist für Merkel nur ein Begleiteffekt des für sie viel wichtigeren Ziels, nämlich „andere“ mit unserem „Können“ niederzukonkurrieren. Wissenschaftliche Leistungen werden der Wettbewerbsideologie untergeordnet oder sollen auf diese Ideologie ausgerichtet werden. Wohlstand ist für Merkel nicht, dass es allen ein Stück besser geht, sondern Wohlstand kann in ihrem Weltbild nur dadurch erhalten und geschaffen werden, indem die deutsche Volkswirtschaft ihren relativen Anteil am globalen Bruttosozialprodukt hält oder vergrößert. Es ist der alte Denkfehler, dass die zu verteilende Torte immer gleich groß bleibt und dass es lediglich darum geht, die Größe des eigenen (deutschen) Tortenstücks zu erhalten oder womöglich ein größeres Stück abzuschneiden. (Siehe zum Denkfehler der „Tortenanalogie“, Jens Berger „Angela Merkel ungeschminkt“)
In der Euro-Krise hat also Merkel nichts anderes anzubieten, als dass wir unsere Export- und Leistungsbilanzüberschüsse verteidigen. Sie verweigert weiter konsequent die Einsicht, dass die Überschüsse Deutschlands immer auch die Defizite anderer sind.
Die „europäische Staatschuldenkrise“ entspringt für Merkel nicht der zwingenden Logik, dass andere Länder sich gegenüber Deutschland verschulden mussten und weiter müssen, wenn wir unseren Wohlstand vor allem über den Export sichern wollen. Für die Kanzlerin resultiert die Euro-Krise vielmehr daraus, dass die Schuldnerländer eben nicht „die richtige Balance“ zwischen der „Bereitschaft zur Leistung und sozialer Sicherheit“ gefunden haben. Mit anderen Worten die übrigen Europäer müssen hier zu einer neuen Balance finden. Und das kann in dieser Logik nur heißen: Da sie nicht so viel leisten wie die Deutschen, müssen sie sich eben auf Kosten ihrer sozialen Sicherheit entlasten, um die richtige Balance wieder zu finden. Diese Art von „Reformen, die wir beschlossen haben, beginnen zu wirken“. Die katastrophalen Konsequenzen für die Wirtschaft und die Menschen kann man konkret in Griechenland, Portugal, Spanien oder Italien besichtigen.
Merkel betreibt in ihrer Neujahrsansprache unverfroren (Vorwahl-)Propaganda. Das heißt, sie versucht bewusst und systematisch öffentlich Stimmung für sich und ihre Politik zu machen.
Und zwar durch einseitige Sichtweisen: „Deshalb investieren wir so viel wie nie zuvor in Bildung und Forschung“, sagt Merkel.
Nach dem im Dezember erschienen „Bildungsfinanzbericht 2012“ des Statistischen Bundesamtes [PDF – 2.8 MB] haben Bund, Länder und Gemeinden für das Jahr 2012 Bildungsausgaben in Höhe von 110,3 Milliarden Euro und damit in der Tat 4,7 Milliarden Euro mehr veranschlagt als im Vorjahr. (Ob sie eingesetzt werden ist noch eine offene Frage.) Die Bildungsausgaben sind jedoch nicht mehr gewachsen als das Bruttoinlandsprodukt (Siehe Grafik Bildungsbericht S. 25). Gemessen an der Wirtschaftskraft waren die Ausgaben mit 5,3% in Deutschland nach wie vor deutlich niedriger als im OECD-Durchschnitt (6,2 %).
Merkel versucht sogar das Chaos und das Missmanagement bei der Energiewende als Erfolg darzustellen: „Deshalb bauen wir Deutschland zu einem der modernsten Energiestandorte der Welt um.“ Wie die Energiewende sozial gestaltet werden könnte, darüber verliert die Kanzlerin kein Wort.
Besonders dreist ist Merkels Selbstlob über die Haushaltskonsolidierung: „Deshalb bringen wir die Staatsfinanzen in Ordnung.“ Das kann man nur noch als Verdrehung der Tatsachen bezeichnen. Da hat die schwarz-gelbe Regierung den öffentlichen Schuldenstand (gemessen am BIP) von rund 60 Prozent auf über 80 Prozent hochgetrieben und durch die Rettungsschirme zusätzliche riesige Haushaltsrisiken aufgebaut und Merkel rühmt sich, die Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen.
Die Kanzlerin geht in populistischer Manier auf die Finanzkrise ein: „Nie wieder darf sich eine solche Verantwortungslosigkeit wie damals durchsetzen“ und „auch international muss noch mehr getan werden, um die Finanzmärkte besser zu überwachen.“ Statt nur einen einzigen Punkt zu nennen, was ihre Bundesregierung bisher zur besseren Überwachung der Finanzmärkte getan hat, flüchtet sie sich in marktwirtschaftliche Phrasendrescherei: „In der sozialen Marktwirtschaft ist der Staat der Hüter der Ordnung, darauf müssen die Menschen vertrauen können.“ Eine leere Worthülse für jemand, der bislang die „marktkonforme Demokratie“ zum Ziel erklärt hat.
Weil Merkel (bzw. ihre Redenschreiber) wohl selbst bemerkten, dass aus dem was die Neujahrsansprache an konkreten Anhaltspunkten für mehr Zuversicht der Bürgerinnen und Bürger zu bieten hatte, doch äußerst dürftig ist, musste zum Schluss als Lückenfüller mal wieder ein klassisches Zitat her: „Zuversicht für das kommende Jahr kann sich auch aus einem Satz des griechischen Philosophen Demokrit speisen. Er hat gesagt: “Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende”.
Wenn an diesem Sinnspruch etwas Wahres dran wäre, dann dürfte nach diesem Ausblick Merkels in das neue Jahr – jedenfalls für sie selbst – kein Glück am Ende stehen. Dann wäre sie persönlich nämlich nicht mehr Kanzlerin. Dieser Neujahrsansprache fehlte jeder Mut zur Wahrheit und zur Wahrnehmung der Wirklichkeit und schon gar fehlte ein Anfang durch politisches Handeln das Jahr 2013 zu einem glücklicheren Ende zu führen.