Steinbrücks Nominierungsrede und was dazu zu sagen wäre
In seinem gestrigen Beitrag „Steinbrücks Rede: Ein kräftiges Sowohl-als-auch“ kündigte Albrecht Müller bereits an, dass die NachDenkSeiten sich noch einmal ausführlich mit zur Nominierungsrede von Peer Steinbrück äußern würden. Steinbrück mag die Delegierten in Hannover überzeugt haben, die NachDenkSeiten konnte er nicht überzeugen. Für unsere Leser haben wir einige Kernpassagen aus Steinbrücks Rede herausgesucht und sie für Sie analysiert. Von Jens Berger.
Steinbrück und die Agenda 2010
Wir lassen uns auch nicht, liebe Genossinnen und Genossen, die Rendite der Reformpolitik der Regierung Schröder stehlen, die vielen ausländischen Beobachtern Deutschland wie ein Märchenland vorkommen lässt. Wir sind es gewesen, die damals gegen Widerstände und trotz Schwierigkeiten dieses Land vorangebracht haben! Auch das gehört zur Bilanz sozialdemokratischer Politik.
Nominierungsrede [PDF – 228 KB], Seite 4
Während der gesamten 100-minütigen Rede verlor Peer Steinbrück kein einziges kritisches Wort zur politischen Vergangenheit der SPD zwischen 1998 und 2009. Das Wort „Agenda“ kommt in seiner Rede gar nicht vor – auch der Begriff „Hartz IV“ kommt ein keiner Stelle vor. Von einem Richtungswechsel ist hier überhaupt nichts zu spüren. Im Gegenteil. Steinbrück bleibt sich treu. Der Mann, der vor zwei Jahren überzeugt war, „dass die Agenda einmal als eine der größten politischen Leistungen der Nachkriegszeit in die Geschichtsbücher eingehen wird“ und seiner Partei noch vor drei Monaten beim Stichwort „Umgang mit der Agenda 2010“ geraten hat, „etwas mehr Stolz, etwas mehr Selbstbewusstsein über das, was uns gelungen ist“, zu üben, blieb seiner Linie auch in Hannover treu. Dabei ist es ein echtes Kunststück, 100 Minuten über Politik zu reden und sozialökonomische Missstände anzuprangern, ohne die Ursache für diese Missstände beim Namen zu nennen. Stellenweise geriet Steinbrücks Kritik an der Realität da schon zu unfreiwilliger Komik:
Schauen wir uns die Wirklichkeit noch einmal an: Fast 7 Millionen Menschen arbeiten für einen Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro. 1,3 Millionen arbeiten sogar für weniger als 5 Euro die Stunde. 900.000 Leiharbeiter arbeiten für weniger als 40 Prozent Lohn im Vergleich zu ihren gleich qualifizierten Kolleginnen und Kollegen. Fast jeder zweite neue Arbeitsvertrag ist inzwischen befristet.
Nominierungsrede [PDF – 228 KB], Seite 14
Diese „Wirklichkeit“ ist freilich nicht einfach so vom Himmel gefallen, sondern eine direkte Folge der Agenda-Politik von SPD und Grünen, die sowohl von der CDU als auch von der FDP damals wie heute voll und ganz getragen wurde und wird. Steinbrücks Realitätskritik erinnert dabei an ein älteres Wahlplakat der Linken, auf dem Oskar Lafontaine mit dem Satz „Erst die Menschen in Armut treiben und dann von Mindestlohn schwätzen“ abgebildet ist.
Zwischen den beiden zitierten Passagen vergingen in der Rede rund 30 Minuten. Kritische Beobachter sollten jedoch eins und eins zusammenzählen können. Auch wenn die Delegierten dies verdrängen, die immer noch nicht aufgearbeitete Vergangenheit der SPD könnte spätestens im Wahlkampf ein Bumerang werden. Was soll die wahlkämpfende Parteibasis kritischen Passanten denn antworten? Die Schaffung eines Niedriglohnsektors war nun einmal das erklärte Ziel [PDF – 91.4 KB] der Agenda-Politik der SPD und die Leiharbeit wurde erst durch die Agenda 2010 zu einem flächendeckenden Problem. Wie kann man die Folgen der Agenda 2010 beklagen, die Agenda selbst allerdings als „größte politische Leistung der Nachkriegszeit“ verklären?
Auch seine Amtszeit als Bundesfinanzminister reflektiert Steinbrück nicht kritisch
Es ist jedoch nicht nur die Agenda 2010, die Steinbrück bei seiner Rede ausblendet. Wer die kurzen Passagen anhört, in denen Steinbrück Themen aufgreift, mit denen er als Bundesfinanzminister direkt zu tun hatte, kann nicht wirklich glauben, dass es sich hier um ein- und dieselbe Person handelt:
[…] statt Kapitulation vor dem Erpressungspotential von Finanzmärkten – eine rigidere Regulierung und Aufsicht von Finanzmärkten, und schließlich: Statt Leisetreterei im Umgang mit Steuerbetrug und Steuerhinterziehung – kein Pardon mit Steuersündern!
Nominierungsrede [PDF – 228 KB], Seite 8
Was heute eine „rigide Aufsicht von Finanzmärkten“ sein soll, war im Koalitionsvertrag der großen Koalition [PDF – 619 KB], den Peer Steinbrück maßgeblich mitgeschrieben hat, noch eine Aufsicht „mit Augenmaß“. Von einer „rigiden Regulierung“ wollte er damals überhaupt nichts wissen und Regulierung stattdessen abbauen. Und sein an die Hunnenrede von Kaiser Wilhelm II erinnerndes „kein Pardon mit Steuersündern!“ erinnert geradezu frappierend an seine „Drohung“, gegen Schweizer Banken mit „der Kavallerie“ vorzugehen. Außer großmäuligen Sprüchen geschah in seiner Amtszeit diesbezüglich jedoch gar nichts. Steinbrück wollte die Kavallerie losschicken, was ankam war jedoch ein altersmüdes Zirkuspony mit einem Clown mit Flitzebogen. Wie er „ohne Pardon“ gegen „Steuersünder“ (das korrekte Wort wäre Steuerhinterzieher) vorgehen will, sagt Steinbrück freilich nicht. Doch nicht nur zu diesem Thema gibt sich Steinbrück betont nebulös – wer in seiner Rede konkrete Forderungen sucht, sucht meist vergebens.
Die Bürger registrieren sehr genau, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden und dass sie, die Steuerzahler, die Letzten sind, die für Risikoignoranz und Fehlentscheidungen von Banken haften müssen. Sie registrieren sehr genau, dass ein wichtiges Element dieser Sozialen Marktwirtschaft nicht mehr stimmt, nämlich dass Haftung und Risiko zusammenfallen. Damit muss Schluss sein!
Nominierungsrede [PDF – 228 KB], Seite 5
Wer wollte Peer Steinbrück hier widersprechen? Aber warum hat Steinbrück dann während seiner Amtszeit aktiv dafür gesorgt, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden? Bei der „Rettung“ von IKB, HRE und Commerzbank sozialisierte Steinbrück die Verluste der Banken in einer so noch nie gekannten Dimension. Und warum hat er auch von der Oppositionsbank aus jedem Gesetzentwurf zugestimmt, der dem Steuerzahler die Kosten der Fehlentscheidungen von Bankern aufbürdet? Wenn die Bürger dies wirklich „sehr genau registrieren“, dann dürften sie Peer Steinbrück auch nicht wählen.
Steinbrück entdeckt den Wohlfahrtsstaat
Es geht um eine Renaissance der sozialen Marktwirtschaft. Und es geht darum, die Marktwirtschaft wieder sehr viel stärker auf das Gemeinwohl zu verpflichten.
Nominierungsrede [PDF – 228 KB], Seite 7
Eine Renaissance der sozialen Marktwirtschaft will auch die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Was sich Peer Steinbrück darunter konkret vorstellt, ließ er in Hannover seine Zuhörer nicht wissen. Dafür entdeckte Steinbrück jedoch seine neue Liebe zum Wohlfahrtsstaat, den er vor wenigen Jahren noch als einen „gutgeölten Sumo-Ringer“ bezeichnete, den man „endlich zu packen kriegen müsse“. Heute klingt das komplett anders:
Der soziale Wohlfahrtsstaat ist seit jeher das große Projekt der deutschen Sozialdemokratie. Er ist die Grundlage dafür, Marktwirtschaft und Gemeinwohl miteinander zu versöhnen. Dieser soziale Wohlfahrtsstaat ist keine Zutat, kein Luxus je nach Kassenlage, sondern die materielle Einlösung des Solidaritätsversprechens.
Nominierungsrede [PDF – 228 KB], Seite 4
Wann Peer Steinbrück seine Liebe nicht nur den Wohlfahrtsstaat, sondern auch die Solidarität entdeckt hat, ist leider nicht bekannt. Früher hatte der Kandidat zu diesem Thema eine etwas andere Meinung:
Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um sie – muss sich Politik kümmern.
Heute übt er sich stattdessen lieber in vorgeheuchelter Empathie und gibt vor, Menschen zu verstehen, die beispielsweise wegen ihres fortgeschrittenen Alters keinen Arbeitsplatz mehr bekommen. Doch wie glaubhaft sind solche Lippenbekenntnisse? Wie glaubhaft ist es, wenn der Mann, der den deutschen Immobilienmarkt höchstpersönlich für börsennotierte Immobilienfonds öffnete und offene Immobilienfonds mit Steuernachlässen verwöhnt hat heute vorgibt, die Sorgen vor steigenden Mieten ernstnehmen zu wollen?
Armes reiches Deutschland
Warum Deutschland „ausländischen Beobachtern“ wie ein „Märchenland“ (s.o.) vorkommen soll, wird aus Steinbrücks Rede nicht klar.
Die Menschen müssen immer gebildeter sein, immer mobiler, immer flexibler, sie müssen sich immer mehr anstrengen – und zugleich müssen sie mit immer weniger zufrieden sein und kriegen auch immer weniger Lohn und weniger Rechte. Mit dieser Entwicklung muss Schluss sein!
Nominierungsrede [PDF – 228 KB], Seite 5
Die Arbeitslosenzahlen suggerieren Stabilität, obwohl sie nichts über die Qualität und schon gar nichts über die Bezahlung der Arbeit sagen.
Das derzeit vergleichsweise gute Wirtschaftswachstum suggeriert ein „Weiter so!“, obwohl immer weniger davon profitieren […]
Es gibt eben eine wachsende, eine steigende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern, die sich trotz stabiler Arbeitslosenzahlen und steigendem Wachstum ausgeschlossen und abgehängt fühlen. Das sind inzwischen Millionen in Deutschland. […]
zum Beispiel in Produktionshallen von weltweit erfolgreichen Unternehmen, die Kolleginnen und Kollegen in der Montage beschäftigen, die das Gleiche tun, aber dennoch unterschiedlich – bis zu 30, 40 Prozent weniger – bezahlt werden.
Nominierungsrede [PDF – 228 KB], Seite 9
Diese Passagen sind durchaus zutreffend und so oder so ähnlich auch regelmäßig auf den NachDenkSeiten zu finden. Für wen die triste Realität ein „Märchenland“ sein soll, erschließt sich jedoch nicht. Für Unternehmen und Spekulanten mag Deutschland ja ein „Märchenland“ sein, für die „Millionen“, die Steinbrück als „Ausgeschlossene“ und „Abgehängte“ bezeichnet, trifft dies jedoch ganz sicher nicht zu.
Schwammige Kritik an Privatisierungen vom ehemaligen Privatisierungsfreund
Wir wollen nicht wie andere den Markt an die Stelle des Staates setzen und die Menschen damit allein lassen; denn es gibt Lebensbereiche, deren Qualität nur erhalten und gesichert werden kann, wenn sie eben nicht zu reinen Marktbeziehungen werden. Dazu gehört Bildung. Dazu gehört die richtige Versorgung von Bürgerinnen und Bürger mit Gütern wie Wasser und Strom. Dazu gehört, dass Menschen sicher durch unsere Straßen gehen können. Dazu gehört auch, dass Mieten erschwinglich sind und dass nicht nur Eliten sich Kultur leisten können. All dies gehört dazu.
Nominierungsrede [PDF – 228 KB], Seite 7
Was sind „reine Marktbeziehungen“? Noch nicht einmal die FDP würde so weit gehen, die Daseinsvorsorge komplett den Marktmechanismen zu unterwerfen. Steinbrück wirft zwar Begriffe wie „Wasser“ und „Strom“ in den Raum, präzisiert jedoch nicht, was er überhaupt will. Was ist eine „richtige Versorgung“ mit Wasser und Strom? Und wenn der Kandidat schon das Thema Privatisierung der Daseinsvorsorge erwähnt, warum spricht er dann nicht vom Gesundheitssystem und der Altenpflege? In anderen Passagen streift er diese Themen zwar, bringt sie jedoch an keiner Stelle mit dem Themenkomplex „Privatisierung“ in Verbindung. Er wolle keine Zwei-Klassen-Medizin, so Steinbrück. Das ist freilich wohlfeil. Denn wer sagt schon freimütig, dass er eine Zwei-Klassen-Medizin will? All dies ist vor allem wegen der unterlassenen Konkretisierung ziemlich nichtssagend. Viel interessanter wäre es da schon gewesen, zumindest im Ansatz zu erfahren, wie Peer Steinbrück sich konkrete politische Maßnahmen vorstellt, mit denen seine sicher nicht falschen aber doch stets schwammigen Bilder eines gerechteren Staates umgesetzt werden könnten.
Wenn ausgerechnet Peer Steinbrück sich heute darüber beschwert, dass Bildung und Daseinsvorsorge nicht den Märkten unterworfen werden dürften, hat dies einen tragikomischen Beigeschmack. In seiner Amtszeit als Bundesfinanzminister nahm die (Teil-)Privatisierung kommunaler Einrichtungen erst richtig Fahrt auf. Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.
Was Steinbrück nicht gesagt hat
Während Steinbrück über gefühlte 99 Minuten seiner Rede abstrakt blieb und die Delegierten nicht durch konkrete Aussagen, die er im unwahrscheinlichen Fall eines Wahlsieges widerrufen müsste, behelligte, ist es interessant, auch die Punkte herauszuheben, auf die er in seiner Mammutrede nicht eingegangen ist. So schwieg er beispielsweise komplett zum Thema Sicherheitspolitik und Friedenspolitik. Und auch zur Eurokrise hatte der Kandidat nicht viel zu sagen.
Glaubwürdig ist das alles nicht. Bei Werbekampagnen überlegt man sich sehr genau, welches Gesicht welche Botschaft glaubwürdig transportieren könnte. Peer Steinbrück ist jedoch kein glaubwürdiges Gesicht für einen Richtungswechsel der SPD und seine Nominierungsrede hat diesen Eindruck nur verstärkt. Ein Peer Steinbrück, der plötzlich von einem sozialen Wohlfahrtsstaat schwärmt, erinnert an eine Kampagne von McDonalds für gesündere Kinderernährung. Ob Peer Steinbrück weiß, welche Gedanken er bei kritischen Betrachtern mit ausgerechnet diesem Lincoln-Zitat auslöst?
Man kann nach Abraham Lincoln alle Menschen einige Zeit und einige Menschen alle Zeit, aber nicht alle Menschen alle Zeit zum Narrenhalten.
Nominierungsrede [PDF – 228 KB], Seite 9
Über dieses Zitat sollte sich die SPD einmal ganz genau Gedanken machen.