„Herrschaft durch Meinungsmache? – Einfluss und Interesse des Bertelsmann-Konzerns an der Ökonomisierung des Bildungssystems.“
Vortrag von Wolfgang Lieb am 20. November 2012 im Rahmen der „Global Education Week“, einer Veranstaltung des AStA der Uni Kassel.
Die heutige Veranstaltung findet im Rahmen der „Global Education Week“ statt. Seit 1999 sollen auf Initiative des „North-South-Centers“ in einer Novemberwoche Themen zum Globalen Lernen in die öffentliche Debatte getragen werden.
Was hat das mir gestellte Thema „Herrschaft durch Meinungsmache?“ mit globalem Lernen zu tun?
Ich meine sehr viel, denn die Ökonomisierung der Bildung ist ein weltweiter Trend, der gerade auch von Bertelsmann vor allem in Deutschland, aber auch weltweit vorangetrieben wird.
Ich hoffe, dass ich das in meinem Referat herausarbeiten kann.
Wenn man über die Bertelsmann Stiftung redet, muss man wissen, dass hinter der der Stiftung der Bertelsmann Konzern steht.
Die Bertelsmann AG ist der größte Oligopolist der veröffentlichten Meinung in Deutschland. Die Zeitungen, Zeitschriften, Fernseh- und Radiosender und nicht zuletzt die zahlreichen Verlage des Konzerns beeinflussen nicht nur die Meinungsbildung sondern auch die gesamte Stimmungslage und die Befindlichkeiten in Deutschland. Schon diese oligopolistische Medienmacht alleine stellt eine Bedrohung für die Meinungsvielfalt in Deutschland dar.
Die Bertelsmann AG mit Hauptsitz in Gütersloh ist der größte europäische Medienkonzern. Mit einem Umsatz von 15,2 Milliarden Euro und über 100.000 Beschäftigten in mehr als 60 Ländern ist Bertelsmann das fünftgrößte Medienunternehmen weltweit. Bertelsmann ist zwar nicht das nach Umsatz größte Unternehmen in Deutschland, aber durch seine Medienmacht gepaart mit der Mission der Bertelsmann Stiftung – auf die ich gleich zu sprechen komme – das gesellschaftlich und politisch wirkungsmächtigste.
Zunächst ein kurzer Überblick über den Konzern:
Da ist zunächst Random House. Laut Geschäftsbericht der Bertelsmann AG die weltweit führende Publikumsverlagsgruppe der Welt. Das Portfolio umfasst mehr als 120 Einzelverlage, die jährlich rund 11.000 Neuerscheinungen veröffentlichen. Random House verkauft jährlich mehr als 500 Millionen Bücher. Die Gruppe gehört zu 100 Prozent zu Bertelsmann.
Zu Random House gehören in Deutschland neben den unter dem Namen Bertelsmann erscheinenden Verlagen, etwa die Deutsche Verlags-Anstalt, der Heyne Verlag, Kösel, der Luchterhand Literaturverlag, Goldmann, Kösel, Siedler und viele andere mehr. Weitere Verlage wie die Verlagsgruppe Ullstein Heyne List wurden von der Springer AG abgekauft.
Sie haben dieser Tage sicherlich gelesen, dass Bertelsmann sein Buchgeschäft mit der weltweit umsatzstärksten britischen Verlagsgruppe Pearson fusionieren will und mit ihren Buchverlagsgeschäften Random House und Penguin ein Gemeinschaftsunternehmen gründen wollen. Auf Basis der Geschäftszahlen des vergangenen Jahres kommen Random House (Bertelsmann) und Penguin (Pearson) zusammen auf einen Umsatz von rund 3 Milliarden Euro.
Mit einer Beteiligung von 92 Prozent ist Bertelsmann der Hauptaktionär der RTL Group. Das ist Europas führender Unterhaltungskonzern mit Beteiligungen an 45 Fernsehsendern und 29 Radiostationen in neun Ländern sowie an Produktionsgesellschaften weltweit. Die RTL Group ist das führende europäische Entertainment-Netzwerk. Das TV-Portfolio des größten europäischen TV-Senders umfasst Fernsehkanäle in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Kroatien, Ungarn, Griechenland Russland und Spanien. Der Produktionsarm der RTL Group, Fremantle Media, ist einer der größten internationalen Produzenten außerhalb der Vereinigten Staaten.
Nach firmeneigenem Bekunden schalten mehr als 200 Millionen Zuschauer in ganz Europa täglich die Fernsehsender der RTL Group ein.
Der Bertelsmann AG gehören 74,9 Prozent des größten europäischen Magazinhauses Gruner + Jahr. Rund 11.800 Mitarbeiter erreichen mit mehr als 500 Magazinen und digitalen Angeboten Leser und User in 30 Ländern.
Gruner + Jahr hat wiederum mit 25,25 Prozent eine Sperrminorität im Spiegel Verlag.
Das Bertelsmann Zeitschriften-Imperium beherrscht die Kioske: Stern, GEO, Capital, Brigitte, Gala, das manager-magazin, die Financial Times Deutschland, Essen-und-trinken sind nur einige wenige der Titel, die unter der Regie des Mutterkonzerns stehen.
Zudem hält G+J zusammen mit der Bertelsmann-Tochter Arvato je eine 37,45-Prozent-Beteiligung an Europas größtem Tiefdruck-Konzern Prinovis und besitzt mit Brown Printing eines der größten Offsetdruck-Unternehmen in den USA.
Die Direct Group Bertelsmann ist mit ihren Medienclubs, Buchhandlungen, Internetaktivitäten, Verlagen und Distributionsfirmen in 15 Ländern tätig und verfügt über mehr als 700 Club-Shops und Buchhandlungen. 15 Millionen Menschen in 21 Ländern sind Mitglieder in den Clubs der Direct Group.
Eine 100-prozentige Tochter der Bertelsmann AG ist die Arvato AG, die mit mehr als 68.000 Mitarbeitern weltweit zu den größten Medien- und Kommunikationsdienstleistern gehört. Das Geschäft umfasst Druckereien, Call- und Service-Centers sowie Logistikdienstleistungen und die Herstellung optischer Speichermedien. Arvato bietet Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen integrierte und maßgeschneiderte Lösungen rund um die Kernkompetenzen, Datenmanagement und darüber hinaus den Direktvertrieb von Wissensmedien. Arvato betreut in aller Welt mehr als 150 Millionen Endkunden in über 20 Sprachen.
Arvato ist die größte Druckereigruppe Europas und der zweitgrößte Speichermedienhersteller der Welt.
Unter dem Stichwort „Moderner Staat“ bietet Arvato sämtliche Servicemodule für das Management von Kunden- bzw. von Bürgerbeziehungen der öffentlichen Verwaltung aus einer Hand an. Arvato managt z.B. in Großbritannien schon ganze Kommunen, erhebt Gebühren und zieht Steuern ein. Mit dem Projekt „Würzburg integriert!“ fiel 2007 der Startschuss für die Zusammenarbeit von Arvato und öffentlicher Verwaltung in Deutschland. Das Service-Konzept ist inzwischen kläglich gescheitert und die Stadt hat das Vorhaben wieder beendet. Nach wie vor wirbt arvato jedoch damit, dass die AG das ServiceCenter für die Landesregierung NRW in den Räumen der Düsseldorfer Staatskanzlei betreibe.
Bertelsmann investierte vor kurzem über einen Fonds einen zweistelligen Millionenbetrag in eine us-amerikanische virtuelle Universität. Thomas Hesse, im Bertelsmann-Vorstand zuständig für neue Geschäftsfelder, sagte: „Der Markt für Education-Angebote ist international stark in Bewegung, getrieben durch Megatrends wie Digitalisierung, Globalisierung und die weltweit wachsende Nachfrage nach Bildung.“
Ein zweistelliger Millionenbetrag ist für ein Unternehmen wie Bertelsmann, das über 15 Milliarden umsetzt, sozusagen „Spielgeld“, das man locker einsetzen kann, um Gewinnchancen auf dem „Bildungsmarkt“ auszuloten. Die Bertelsmann AG wettet sozusagen wie ein Investmentbanker darauf, dass der gerade auch von der „gemeinnützigen“ Bertelsmann Stiftung vorangetriebene Trend zur Privatisierung der Bildung sich verstärken wird.
Bertelsmann Stiftung
Über die Meinungsmacht des Konzerns hinaus übt Bertelsmann hinaus eine politische Gestaltungsmacht aus, die weit über den Einfluss von Verbänden, Kirchen, Gewerkschaften, ja sogar von Parteien hinausgeht
– und das geschieht durch die Bertelsmann Stiftung.
Der Firmenpatriarch Reinhard Mohn hat die Stiftung 1977 gegründet und ihr 76,9% der Anteile an der Bertelsmann AG übertragen.
Die Bertelsmann Stiftung ist eine der reichsten Stiftungen in Deutschland. Im Geschäftsjahr 2010 betrug ihr Gesamtaufwand über 60 Millionen Euro. Seit ihrer Gründung hat sie nahezu eine Milliarde Euro in weit über 700 Projekte investiert. Allein für die Bildungsaktivitäten standen im Geschäftsjahr 2006 (neuere gesicherte Daten auf dem Geschäftsfeld Bildung habe ich nicht) knapp elfeinhalb Millionen Euro zur Verfügung.
Mit über 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bis zu 100 Projekte betreuen, hat sich die Stiftung seit den 90er Jahren zu einem führenden deutschen Think-tanks entwickelt.
Um Synergieeffekte zu erzielen, arbeitet die Bertelsmann Stiftung mit anderen Stiftungen zusammen, unter anderem mit der Heinz Nixdorf Stiftung, Körber-Stiftung, der VolkswagenStiftung, der Gemeinnützige Hertie-Stiftung, der Ludwig-Erhard-Stiftung oder der Robert Bosch Stiftung.
Die Mission
„Eigentum verpflichtet“ nennt Reinhard Mohn als Motiv für die Gründung seiner Stiftung. Doch so ganz altruistisch motiviert dürfte die Übertragung von über dreiviertel der Kapitalanteile an der Bertelsmann AG an eine Stiftung nicht gewesen sein. Man liegt gewiss nicht falsch mit der Vermutung, dass Reinhard Mohn dadurch, dass er dieses Kapital „gestiftet“ hat, hohe Summen an Erbschafts- und/oder Schenkungssteuer „gespart“ hat. Zudem sind die jährlichen Dividendenzahlungen des Konzerns an die „gemeinnützige“ Bertelsmann Stiftung steuerbegünstigt und die Vermutung dürfte nicht unbegründet sein, dass ein Gutteil des Etats der Stiftung über Steuerminderungen finanziert wird. Der Fiskus fördert also die Aktivitäten der Stiftung mit.
Der Göttinger Soziologe und Kenner der internationalen Stiftungslandschaft, Frank Adloff, kritisiert wohl nicht zu Unrecht, dass für solche Zwecke, für die die Stiftung steht, (Zitat) „die Steuerbefreiung für gemeinnützige Stiftungen nicht gedacht“ sei. Denn die Bertelsmann Stiftung ist – entgegen dem Anschein, den sie zu erwecken versucht – eben keine neutrale Einrichtung zu uneigennützigen Zwecken.
Es ist keineswegs so, dass die Ziele des Konzerns von den Zielen der gemeinnützigen Stiftung unabhängig sind.
Der vor drei Jahren verstorbene Firmenpatriarch Reinhard Mohn sah seine Stiftung als „Garant der Unternehmenskontinuität des Hauses Bertelsmann“. Die Mohns beherrschen sowohl den Konzern wie dessen Stiftung und haben nicht ohne Grund bislang einen Börsengang vermieden. Die jetzige Konzernmatriarchin, Liz Mohn, ihre Familie und ihre Berater haben nach dem Tot von Reinhard Mohn in der Stiftung wie im Konzern das Sagen.
Man konnte Reinhard Mohn nicht einmal vorwerfen, dass er mit seiner „Mission“ hinter dem Berg hielt. Jeder kann die Botschaften im Internet etwa auf der Website der Bertelsmann Stiftung oder in Mohns Buch „Die gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmers“ nachlesen.
Mohn und mit ihm die Bertelsmann Stiftung vertreten eine Art deutschen Sonderweg in die wirtschaftsliberal globalisierte Welt, ein Sonderweg
- der auf eine korporatistische Unternehmenskultur setzt, in der keine widersprüchlichen Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern existieren,
Die Stiftung betrachtet
- den Sozialstaat als überdehnt oder gar überholt
- und vor allem strebt sie eine über den Wettbewerb hergestellte Effizienz als Steuerungsinstrument in allen gesellschaftlichen Bereichen an.
Und immer geht es Bertelsmann deshalb auch um ein Zurückdrängen des Staates, eine Verringerung der Staatsquote und – als Mittel dazu – um die Senkung der Steuerlast.
„Es ist ein Segen, dass uns das Geld ausgeht. Anders kriegen wir das notwendige Umdenken nicht in Gang“, sagte Reinhard Mohn schon 1996 in einem Stern-Interview
Im Hinblick auf diese Mission ist die Stiftung – wie Harald Schumann im Tagesspiegel schrieb – eine „Macht ohne Mandat“.
Mit dem Pathos der „Gemeinwohlverpflichtung“ oder der Losung (Zitat R. Mohn) „Wir helfen der Politik, dem Staat und der Gesellschaft, Lösungen für die Zukunft zu finden“ gibt es kaum ein politisches Feld von Bedeutung, wo die Stiftung mit ihren Handreichungen nicht ihre Lösungsangebote macht.
„Wir wollen als Stiftung einen Beitrag leisten, um die Soziale Marktwirtschaft auf die Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte einzustellen“, heißt es im jüngsten Geschäftsbericht.
Dies alles gemäß der Bertelsmannschen Überzeugung, dass – so wörtlich – „Wettbewerb“ und „die Prinzipien unternehmerischen Handelns zum Aufbau einer zukunftsfähigen Gesellschaft“ die wichtigsten Merkmale sind. Indem (Zitat) „die Grundsätze unternehmerischer, leistungsgerechter Gestaltung in allen Lebensbereichen zur Anwendung gebracht werden“, soll das Regieren besser werden, und das wiederum alles stets nach dem Prinzip „so wenig Staat wie möglich“.
Das Spektrum der Projekte der Bertelsmann Stiftung reicht vom Kindergarten über die Schule bis zur Hochschule und erstreckt sich bis ins Arbeitsrecht. Bertelsmann macht Vorschläge zur Bewältigung des demografischen Wandels, zur Integration von Migranten, zur Altersvorsorge, zur Reform des Föderalismus, zur Familienpolitik, zur Gesundheitspolitik, zur Politik in Europa, zur transatlantischen Kooperation und zur globalen Durchsetzung der von Mohn für richtig befundenen Prinzipien. Bertelsmann bietet seine Dienstleistungen zum (Zitat) „modernen Regieren“ an und sieht in der öffentlichen Verwaltung gleichzeitig ein gewinnträchtiges Geschäftsfeld für die Konzerntochter Arvato.
Die Bertelsmann Stiftung will „Motor“ für Reformen auf allen diesen Feldern sein.
Von der Bundesregierung über zahlreiche Landesministerien, bis hin zur Kommunal- oder Finanzverwaltung überall dient Bertelsmann seine Vorschläge an. Bertelsmann hat Politiker wie den Europaparlamentarier Elmar Brok auf der pay-roll. (Brok ist Europabeaufragter des Vorstandes der Bertelsmann AG und Senior Vice President Media Development.)
Die Bertelsmann Stiftung hat es vermocht, ein enges personelles und organisatorisches Netzwerk zu einflussreichen Personen aus Kultur, Wissenschaft und Politik bis zu den Bundespräsidenten, vor allem zu Roman Herzog und Horst Köhler, zu flechten. Bei Bertelsmann absolvierten Schröder, Fischer, Merkel pünktlich ihre Antrittsbesuche.
Und es ist ja nicht unter der Decke geblieben, dass die beiden „Grande Dames“ des deutschen Medienwesens Liz Mohn und Friede Springer in freundschaftlicher Verbundenheit zu Angela Merkel stehen.
Von der Stiftung stammt die Idee eines europäischen Außenministers und sie nimmt sich auch der europäischen Militärpolitik im Sinne der Verteidigung europäischer „Interessen“ an.
Bertelsmann lädt zusammen mit dem österreichischen Bundeskanzler zum Salzburger Dialog.
Bertelsmann organisierte die 30 Millionen-Kampagne „Du bist Deutschland“ mit.
Sicher, Bertelsmann steht nicht allein, da sind die Arbeitgeberverbände, da ist die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), da ist der BürgerKonvent und wie die zahllos gewordenen, vom großen Geld finanzierten PR-Agenturen auch alle heißen mögen.
Aber keine dieser Institutionen war und ist so wirkmächtig wie die Bertelsmann Stiftung.
Was noch entscheidender ist, die Lösungskonzepte werden auf allen Ebenen, von zahllosen öffentlichen oder halböffentlichen Institutionen, von Regierungen und Parlamenten und von fast allen Parteien von der FDP, über die CDU oder die SPD bis zu den Grünen im Sinne des herrschenden Modernisierungsdenkens begierig aufgegriffen. So z.B. jüngst auch das Kooperationsprojekt „Kinder und Jugendliche in ihrer Vielfalt fördern“ sogar durch eine Grüne Schulministerin in NRW.
Bertelsmann legt Studien zum demografischen Wandel vor. Das Ergebnis ist immer das Gleiche, die sozialen Sicherungssysteme bluten angesichts der Überalterung aus, private Vorsorge ist die Rettung.
Die Stiftung führte etwa zusammen mit dem Internationalen Währungsfond IWF hochrangig besetzte Symposien über die Situation der öffentlichen Finanzen durch. Ergebnis: Wir brauchen eine Neuverschuldung von Null, etwas anderes könne sich niemand mehr leisten.
Die Bertelsmann Stiftung verfolgt die Idee eines Niedriglohnsektors, sie war an der Ausgestaltung des früheren Bündnisses für Arbeit, der Agenda 2010 und von Hartz IV – wenn auch nur indirekt, aber doch – prägend beteiligt [8]). Die Bertelsmann Stiftung war sozusagen die „unsichtbare Vierte“ im Bündnis für Arbeit, wie es das Handelsblatt einmal formuliert hat.
Nahezu alle Aktivitäten stehen im Dienste des Bertelsmannschen Verständnisses von der Förderung des „Gemeinwohls“ und das heißt konkret zur Förderung des „gesellschaftlichen Wandels“ und von „Reformen“ in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Bertelsmann liefert zahllose Angebote vor allem auch für die Schulen:
Angefangen vom Projekt „Bildungswege in der Informationsgesellschaft (BIG 2006)“, über Gesundheitserziehung, die Initiative „Notebooks im Schulranzen“, der Förderung der Musikkultur bei Kindern, dem Projekt „Wirtschaft in der Schule“, der „Toolbox Bildung“ bis zu den Projekten „Eigenverantwortliche Schule und Qualitätsvergleich in Bildungsregionen“. Unter dem Titel „SEIS macht Schule“ entwickelte die Bertelsmann Stiftung den Schulen ein Selbstevaluations- und Steuerungsinstrument, das den (Zitat) „Entwicklungsprozess einer Schule zielgerichtet, effizient, systemisch und nachhaltig“ voranbringen soll. Ein Netzwerk von weit über 1000 sog. innovativen Schulen in 16 Bundesländern ist schon aufgebaut. Das Projekt soll künftig ohne Unterstützung der Stiftung fortgeführt werden.
Im Herbst letzten Jahres veröffentlichte die Stiftung unter der Überschrift „Wo die klugen Deutschen leben“ den „Deutschen Lernatlas“, der ein deutliches Süd-Nord-Bildungsgefälle ausmachte. Im Lernatlas werden nicht nur die Pisa-Ergebnisse oder andere Schulleistungsvergleiche „gerankt“, sondern es wird auch auf das „soziale“ und „persönliche Lernen“ vor Ort abgestellt. Die Botschaft ist: „Nicht in der Schule lernen wir, sondern im Leben“. Viel wichtiger als Klassengrößen, Schulform, Schulstruktur, gemeinsames oder getrenntes Lernen seien – nach der Meinung von Bertelsmann – soziale Aktivitäten, also wie oft Museen oder Theater besucht würden oder die Mitgliedschaft in einem Sportverein oder einem Kirchenchor.
Neuerdings hat die Stiftung die „Chancengerechtigkeit für alle Schüler“ zu ihrem bildungspolitischen Leitthema gemacht. Sie setzt sich für den Ausbau und die Qualität von Kindertagesstätten ein, weil besonders für Kinder mit Migrationshintergrund der frühe Besuch einer Kindertagesstätte eine entscheidende Weichstellung für deren weiteren Bildungserfolg sei. Sie sieht in der inklusiven Ganztagsschule, die Schüler mit und ohne Förderbedarf mehr als heute gemeinsam unterrichtet als Schule der Zukunft. Und sie plädiert für eine Reform des Übergangssystems zwischen Schule und Berufsbildung. Das hört sich alles sehr fortschrittlich an.
Doch: Die Motivation für das Engagement der Stiftung im Bildungsbereich wird ganz offen ökonomisch begründet. So werden etwa die Folgekosten unzureichender Bildung durch entgangenes Wirtschaftswachstum bis auf das Jahr 2090 (!) durch- und hochgerechnet.
Typisch für Bertelsmann verfolgt die Stiftung für Lernen und Bildung den sog. „Humankapital“-Ansatz, also ein wirtschaftswissenschaftliches Konzept, in dem das Bildungsniveau auf das künftig mögliche Erwerbseinkommen bezogen wird. Es geht also um den Ertrag, den private und/oder öffentliche „Investitionen“ in Bildung oder Lernen für den einzelnen oder für die Gesellschaft erbringen. Bildungsstand und Wohlstand korrelieren also miteinander.
Es wird Lernen „als Mittel zum Zweck“ betrachtet, als die Möglichkeit, „das soziale und wirtschaftliche Wohlergehen“ zu steigern.
Wie im amerikanischen Mythos der Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen kann, so steigt in der bertelsmannschen Ideologie jeder einzelne Mensch, ja ein ganzes Land durch besseres Lernen zu Reichtum auf.
Es wäre sicherlich falsch, jedes der Bildungsprojekte in Bausch und Bogen zu verurteilen.
Es gehört durchaus auch zur Strategie der Stiftung sich auch ein soziales Image zu geben und den Anschein zu erwecken, sich für bildungspolitisch Benachteiligte einzusetzen. Von daher muss man sich die einzelnen Projekte mit ihrer Stoßrichtung jeweils gesondert und im Detail ansehen.
Für mich ist das schulpolitische Engagement der Stiftung aber schon deshalb unglaubwürdig, weil ihr Finanzier, nämlich der Bertelsmann Konzern allein im letzten Jahr drei Viertel seiner Mehreinnahmen – nämlich rund 300 Millionen Euro – der TV-Tochter RTL verdankt.
Da plädiert einerseits die Stiftung für „soziales und persönliches Lernen“, für Inklusion oder für mehr Bildungsgerechtigkeit und andererseits erzielt ihr Geldgeber den Löwenanteil seines Gewinns mit einem Schmuddel-Sender, dessen Einschaltquoten sich überwiegend aus seichter Unterhaltung, vor allem aber aus täglichen sog. Doku-Soaps besteht in denen Kindern und Jugendlichen eher asoziales Verhalten täglich vor Augen geführt wird. Durch verdummenden Fernsehkonsum der RTL-Programme werden junge Menschen vom von der Bertelsmann Stiftung angeblich angestrebten „persönlichen und sozialen Lernen“ gezielt abgehalten. Die RTL-Sender bestreiten ihr Programm mit etwa neun Stunden am Tag mit sog. Reality-Formaten, also mit Doku-Soaps, gescripteten Gerichts- oder Personal-Help-Shows oder sog. „Realityshows“, also Castingshows wie etwa Deutschland sucht den Superstar.
Besonders engagiert ist die Bertelsmann Stiftung auf dem Feld der Hochschulpolitik. Hochschulen werden von Reinhard Mohn – richtigerweise – als „Schlüssel zur Gesellschaftsreform“ angesehen wird. Das bertelsmannsche Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) hat den Leitbildwechsel zur „unternehmerischen Hochschule“ durchgesetzt und war Vorkämpfer für die Einführung von Studiengebühren.
Bertelsmann ist geradezu zu einem „informellen Bundesbildungsministerium“ geworden.
Welchen Einfluss hat Bertelsmann auf den Prozess der Ökonomisierung der Hochschulen?
Um diesem Einfluss Bertelsmanns auf die Ökonomisierung der Hochschulen auf die Spur zu kommen, muss man ein wenig zurückblicken:
Reinhard Mohn war einer der Gründungsväter und bis vor einigen Jahren der Hauptsponsor der 1983 gegründeten ersten deutschen Privaten Universität Witten-Herdecke. Diese private Hochschule sollte „Stachel im Fleisch“ der staatlichen Hochschulen sein.
Witten-Herdecke schaffte es allerdings nie so richtig, finanziell auf die Beine zu kommen und wäre der Privaten Uni der Staat nicht zur Seite gesprungen wäre sie wohl schon in den 90er Jahren Pleite gegangen.
Reinhard Mohn hat offenbar im Laufe der Zeit erkannt, dass der Weg über die Gründung privater Hochschulen nicht zum Durchbruch für seine Mission führt; schlicht: weil sich nicht ausreichend private Geldgeber finden lassen.
Viel effizienter erschien ihm daher der Weg, die weitgehend staatlich finanzierten Hochschulen – indem man sie wie private Unternehmen organisiert – in den von ihm propagierten Wettbewerb zu schicken.
Dieser strategische Gedanke hat Reinhard Mohn und seine Berater wohl veranlasst, 1994 das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) zu gründen.
Da Wettbewerb und Konkurrenz das entscheidende Steuerungsinstrument sein sollen, steuern vor allem einzuwerbenden Mittel (also Drittmittel und Studiengebühren)
– also eine die von den Ländern bereitgestellte „Grundfinanzierung“ ergänzende Finanzierung –
das nach wie vor ganz überwiegend staatlich finanzierte Unternehmen Hochschule.
Damit kein Missverständnis aufkommt, ich wende mich nicht gegen einen Wettbewerb um die besten Forschungsleistungen. Einen solchen Wettbewerb unter Wissenschaftlern hat es immer gegeben. Wissenschaft – zumal an einer von der Allgemeinheit getragenen Hochschule – ist genuin auf den Wettstreit um die richtige Antwort – pathetisch gesagt – auf den Wettstreit um Wahrheit angelegt.
Der Wettbewerbsgedanke, der hinter der „unternehmerischen Hochschule“ steht, ist aber nicht der eines Wettstreits um Wahrheit: Es ist das Bild einer Hochschule, die wie ein Unternehmen ihre „Produkte“ und „Waren“ – also ihre Forschungsleistungen sowie ihre Aus- und Weiterbildungsangebote – auf dem Markt an kaufkräftige Nachfrager abzusetzen hat: nämlich an zahlungskräftige (öffentliche und private) Forschungsförderer und Auftraggeber, an Stifter und Sponsoren – und natürlich auch an Studierende, die nunmehr „Kunden“ sein sollen und deshalb – konsequenter Weise – für die eingekaufte „Ware“ namens Studium zur Kasse gebeten werden sollen.
Das ist die Logik für die Studiengebühren.
Im letzten Jahrzehnt ist die Drittmittelquote an den Hochschulen von 16% auf über ein Viertel (26%) gestiegen . Davon sollen an der TU München knapp die Hälfte (45%) direkt von der Wirtschaft kommen [PDF – 75 KB].
2010 lagen laut „Förderatlas“ der DFG die staatlichen Grundmittel der Hochschulen bei 15,5 Milliarden Euro, die eingeworbenen Drittmittel bei 5,3 Milliarden Euro.
In Diskussionen wird meiner Kritik häufig entgegengehalten, meine Beschreibung der „unternehmerischen Hochschule“ sei zwar nicht falsch, aber was spräche gegen dieses Leitbild, wenn es zu mehr Effizienz, zu mehr Wirtschaftlichkeit und zu mehr Qualität der Hochschule führe.
Diesem Einwand lässt sich auf einer eher theoretischen Ebene entgegentreten, zum Glück inzwischen aber auch empirisch entgegentreten.
Die Frage ist zunächst, ob der Wettbewerb um zusätzliche Finanzmittel den Funktionsprinzipien oder den „professionskulturellen Verhältnissen“ [PDF – 160 KB] einer freien Wissenschaft gerecht werden. Dieser eher wissenschaftstheoretischen Frage kann ich hier aus Zeitgründen nicht weiter nachgehen.
Die Soziologen Klaus Dörre und Mathias Neis von der Friedrich-Schiller Universität Jena haben das „Dilemma der unternehmerischen Universität“ nun auch empirisch untersucht: Sie sind der Gretchenfrage nachgegangen, ob die „unternehmerische Hochschule“ tatsächlich unternehmerisch erfolgreich ist.
Das Ergebnis ist ernüchternd: Das Konzept der unternehmerischen Universität „mag (Zitat) geeignet sein, das Personalmangement an den Hochschulen zu verbessern und die Ressourcenverteilung transparenter zu gestalten. Doch angesichts der chronischen Unterfinanzierung des Hochschulsystems und aufgrund nicht intendierter Effekte für kollektive Arbeitsprozesse, die Innovation überhaupt erst ermöglichen, kann eine allzu nahtlose Umsetzung des Leitbildes der unternehmerischen Universität alte Innovationsblockaden verstärken oder ganz neue erzeugen.“ (S. 137)
Die Verfasser der Studie kommen zu folgender Schlussfolgerung: (Zitat) „Einseitig an messbaren Effizienz- und Wettbewerbskriterien ausgerichtete Steuerungssysteme, wie sie den Leitbildern der unternehmerischen Universität und eines academic capitalism entsprechen, laufen Gefahr, das Gegenteil von dem zu produzieren, was sie eigentlich beabsichtigen. Sie können Innovationen erschweren, ja geradezu blockieren.“ (S. 153)
Denn Innovationen entstünden innerhalb der Universität als Ergebnis weitgehend ungeplanter Prozesse in Nischen, die sich einer direkten Kontrolle entzögen. Sie beruhten auf kollektivem Lernen, setzten Vertrauen und gegenseitige Anerkennung voraus.
(Zitat) „Das Regime von McKinsey und Co“ beeinträchtige geradezu die Funktionsfähigkeit der „Herzkammer des Kapitalismus“, nämlich sein Innovationssystem.
Wie gehen Bertelsmann und CHE nun vor, um ihre Ziele umzusetzen?
Klugerweise nahm das CHE die damals ohne großen Apparat und ohne großen institutionellen Einfluss auf die Hochschulpolitik agierende, aber umso standesbewusstere Hochschulrektorenkonferenz (HRK) mit ins Boot. So veröffentlichten das CHE und die HRK ihre hochschulreformerischen Lösungskonzepte unter einem gemeinsamen Kopfbogen und so verschaffte sich Bertelsmann ein einigermaßen unverdächtiges Entree in die Hochschulen vor allem über die Hochschulleitungen.
Darüber hinaus hat das CHE ein vielfältiges Netzwerk finanzstarker Unterstützer. Der GEW Privatisierungsreport Nr. 6 hat nur die wichtigsten aufgezählt:
- Da ist etwa der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, sozusagen der verlängerte Arm der Wirtschaft in die Wissenschaft,
- der Aktionsrat Bildung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (vbw),
- die von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektro-Industrie finanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) mit ihren Webekampagnen,
- das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
- oder etwa auch die McKinsey & Company Inc.
Das CHE hat es auch geschafft mit Namen und Köpfen in der Öffentlichkeit präsent zu sein, also vor allem mit dem früheren Chef Detlef Müller-Böling, mit Frank Ziegele, mit dem ehemaligen Hamburger Wissenschaftssenator und jetzigen Geschäftsführer des Zentrums, mit Jörg Dräger, dem früheren Hamburger Wissenschaftssenator und im Vorstand der Stiftung zuständig für den Bereich Bildung. Viele Mitarbeiter des CHE avancierten inzwischen zu „Experten“, die nur zu gern von den Hochschulen zu Rate gezogen werden.
Und schließlich und vor allem auch: Hinter dem CHE steht der Bertelsmann-Konzern und seiner schon beschriebenen geballte Medienmacht vom Spiegel (Unispiegel), über den stern, die Financial Times Deutschland bis hin zu RTL. Und für sein Hochschulranking hat das das CHE dazu noch die bürgerliche „Zeit“ als Medienpartner gewonnen.
Das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) firmiert als eine private und als gemeinnützig anerkannte GmbH, die von der Bertelsmann-Stiftung mit jährlich etwa eineinhalb bis zwei Millionen Euro finanziert wird. Nach eigener Darstellung handelt es sich beim „CHE“ um eine unabhängige »Denkfabrik«. Zur „Marke“ CHE gehören inzwischen zwei Gesellschaften, das gemeinnützige Centrum für Hochschulentwicklung (gGmbH) als „Reformwerkstatt für das deutsche Hochschulwesen“ und die CHE Consult GmbH, als Profitcenter und als private Beratungsgesellschaft für Hochschulen, Wissenschaftseinrichtungen, Ministerien oder Stiftungen.
Das CHE arbeitet – wie die anderen meist als gemeinnützige zivilgesellschaftliche Stiftungen organisierten PR-Agenturen wie etwa die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) – nach dem gleichen Muster. Man erstellt eine Studie oder macht eine Umfrage oder veranstaltet einen Kongress und schafft so einen Medien-Event und die Mainstream-Medien plappern die Ergebnisse in aller Regel unkritisch nach. Schließlich gilt die Stiftung als gemeinnützig und umgibt sich damit mit dem Mantel der Neutralität.
Die Methoden, die Bertelsmann und das CHE für ihre „Überzeugungsarbeit“ einsetzen, sind im Großen und Ganzen auch immer dieselben: Es sind Rankings und Benchmarks und Umfragen, die zunächst von den eigenen Medien verbreitet und dann von den anderen aufgegriffen und multipliziert werden.
Überall dort, wo kein Markt besteht und damit das Steuerungsinstrument des (Markt-) Wettbewerbs nicht funktionieren kann, also vor allem im öffentlichen Sektor und damit auch bei den staatlichen Hochschulen, musste die Bertelsmann Stiftung wettbewerbliche Steuerungsinstrumente erst noch erfinden und einführen. Da dienen als Fiktion für den Marktwettbewerb eben Rankings und Benchmarks. So hat das CHE in Deutschland die Hochschulrankings hoffähig gemacht.
Durch diese Rankings soll nicht etwa nur eine Selbsteinschätzung der einzelnen Hochschule ermöglicht werden, sondern es wird vor allem ein an den von der Bertelsmann Stiftung selbst aufgestellten Messkriterien ein Konformitäts- und Anpassungsdruck auf alle Hochschulen ausgeübt.
– Dazu brauchen Sie nur einmal darauf achten, wie Ihre Hochschule, wie die Fachbereiche oder die Fächer auf die Ranking-Ergebnisse in der Vergangenheit reagiert haben.
Aus den rein quantitativen Rankings sollen sich Qualitätsvergleiche ergeben, und wer am besten abschneidet, soll nach den Vorstellungen der Veranstalter solcher Rankings die Qualitätsmaßstäbe vorgeben. Das Ziel ist, dass sich die schlechter Platzierten im Wettbewerb an den besser Platzierten messen. Dadurch wird ein Wettlauf zur vom CHE propagierten „Entfesselung“ der Hochschulen angestoßen.
Man kann nun lange über die Sinnhaftigkeit von Benchmarks oder Rankings streiten. Über eine Tatsache führt nichts hinweg: Wie bei allen Vergleichsmessungen geht es bei Rankings darum, dass Qualität quantifiziert werden muss. Oder anders: Man muss Qualität in Quantitäten ausdrücken, denn nur so lässt sich vergleichen und messen. Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann nennt diese Übertragung betriebswirtschaftlicher Prinzipien, also das Messen und Vergleichen einen „Verlust an Urteilskraft“.
Hinter der Wettbewerbsideologie verbirgt sich aber noch eine ganz andere Zielrichtung. In jedem Wettbewerb gibt es Gewinner und Verlierer. Es gibt die exzellenten Hochschulen und es gibt dann eben auch die weniger exzellenten.
Der frühere Innovationsminister Pinkwart hat diese Zielvorstellung ganz offen ausgesprochen:
Die einzelne Hochschule soll (Zitat) „das Ziel Qualität auf unterschiedlichen Wegen … verfolgen. Die eine Hochschule wird sich auf ihre Rolle als Ausbilder und F&E-Partner in ihrer Region konzentrieren. Eine andere Hochschule wird sich an starken europäischen Mitbewerbern um technologische Leitprojekte orientieren und mit dem Anspruch antreten, in der internationalen Liga der Spitzenforschung mitzuspielen“. (Zitat Ende)
Diese Zielvorstellung entspricht also in etwa dem amerikanischen Hochschulsystem mit einer hierarchisch tief gestaffelten Hochschullandschaft einiger weniger Spitzenuniversitäten mit Ausbildungsangeboten für den Nachwuchs der Upper Class und der großen Masse von Hochschulen ganz unterschiedlicher Qualität für die große Masse der Studierenden.
Der „akademische Kapitalismus“ betrifft eben nicht nur die Forschung, sondern vor allem auch den Wettbewerb um die Studierenden. Wir bekommen sozusagen einen „Bayern-München-Effekt“ unter den Hochschulen: Die „Bayern“ kaufen etwa den armen Gladbachern oder den nicht so finanzkräftigen Freiburgern die „Stars“ ab, sie bauen damit ihre Spitzenposition in der Tabelle aus und die anderen steigen eben ab. Was man beim Fußball noch hinnehmen könnte, weil da nur private Vereine oder die Hoffnungen von Fußball-Fans betroffen sind, führt auf dem Feld der Hochschulen zu einem weiteren Verlust an Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland, zu einem Verlust an allgemeiner Studienqualität in der Breite und das zu Lasten von hunderttausenden von Studierenden, die aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht an einer Eliteuniversität studieren können.
Wir verlieren also eines der weltweit anerkannten Qualitätssiegel der deutschen Hochschullandschaft: eine zwar nicht gleichartige, aber eine qualitativ relativ hochwertige und gleichwertige Breite.
Der Einfluss des CHE und der Bertelsmann Stiftung auf den Leitbildwechsel im Hochschulsystem:
Als ehemaliger Staatssekretär im Wissenschaftsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen werde ich freundlicherweise noch öfters einmal zu Festveranstaltungen von Hochschulen eingeladen und habe das Vergnügen den Ansprachen der meist prominenten Redner zu lauschen.
Mir fällt dabei immer wieder auf, dass die Stichworte der Reden meist identisch bzw. austauschbar sind:
Wie aus einem Redenschreibgenerator hört man dabei bis zum Überdruss immer wieder folgende Stichworte:
„Wettbewerb“ und „Autonomie“, „Exzellenz“ „effektives Management“ und dann natürlich noch „Profilierung“, „Stärken stärken, Schwächen abbauen“, „Wirtschaftlichkeit“, „zusätzliche Finanzierungsquellen angesichts knapper öffentlicher Kassen“, „Modularisierung“, „Internationalisierung“ und selbstverständlich darf „Marketing“ nicht fehlen und ganz modern, hört man dann vielleicht noch „Virtualisierung“.
Wenn ich Gelegenheit habe, frage ich dann immer, was die Redner unter diesen Stichworten verstehen. Meistens kommt da ziemliches Gestammel.
Was will ich damit sagen: Es ist den sog. „Reformern“ gelungen jedem oder jeder die etwas über Hochschule sagt, die zu ihrer Reform gehörenden Propagandaparolen einzuhämmern. Das hat schon fast Orwellsche Qualitäten.
Es ist diesen sog. „Reformern“ gelungen positiv konnotierte Begriffe mit ihren Hintergedanken zu besetzen. Am besten ist das mit den Tarnwörtern „Freiheit“ oder „Autonomie“ gelungen. Das Hochschulgesetz in NRW heißt z.B. Hochschul-„Freiheits“-Gesetz. Gemeint ist die Freiheit von Staat und Gesellschaft und die Unterstellung unter die Zwänge des Wettbewerbs, der mit „unsichtbarer Hand“ die Hochschulen dahin lenkt, wo es auch Geld gibt. Und natürlich bestimmt der die Musik, der die Kapelle bezahlt.
Und in der Tat hat in den letzten 10 Jahren ein Paradigmenwechsel weg vom humboldtschen Bildungsideal hin zum hayekschen Glauben an die Überlegenheit der Markt- und Wettbewerbssteuerung einer „unternehmerischen Hochschule“ stattgefunden.
Weil ich die Entwicklung der Hochschulen in Nordrhein-Westfalen am besten kenne, will ich den Einfluss des CHE kurz am Beispiel der dortigen Hochschul- „Reformen“ belegen:
Das nordrhein-westfälische „Hochschulfreiheitsgesetz“ wurde nicht nur am Schreibtisch des bertelsmannschen CHE konzipiert, darüber hinaus wurde während des Gesetzgebungsverfahrens aus Gütersloh souffliert und sogar nach seiner Verabschiedung wurde im Auftrag des damaligen FDP-Ministers Bertelsmann mit der Umsetzung des Gesetzes an den Hochschulen betraut.
Ende 2005 veröffentlichte der Gütersloher Think-Tank – wörtlich – „Zehn CHE-Anforderungen an ein Hochschulfreiheitsgesetz für Nordrhein-Westfalen“.
Dort finden sich teilweise sogar bis in den Wortlaut hinein die Formulierungen, die der damalige Innovationsminister Pinkwart, ohne jede politische Debatte in seiner Partei, geschweige denn im Landtag wenige Wochen danach auf einer Pressekonferenz als seine „Eckpunkte des geplanten Hochschulfreiheitsgesetzes“ vorstellte.
Diese „Eckpunkte“ entsprachen weitgehend den zuvor vom CHE formulierten „Zehn Anforderungen an ein Hochschulfreiheitsgesetz“.
Nur wenige Tage nachdem der Minister seine „Eckpunkte“ vorgelegt hatte, lieferte ihm das CHE ein „Zeugnis“ und bewertete die Pinkwartschen Gesetzesvorschläge am Erfüllungsgrad der CHE-Anforderungen wie ein Oberlehrer.
Aber damit immer noch nicht genug:
Nachdem das HFG verabschiedet worden ist, wurde das CHE vom Ministerium beauftragt, die Hochschulen auch noch bei der Umsetzung zu begleiten.
Die Entstehungsgeschichte des „Hochschulfreiheitsgesetzes“ ist ein Musterbeispiel dafür, wie sich die Politik und der Staat aus ihrer Verantwortung für ein zentrales Feld der Zukunftsgestaltung zurückziehen und dem Druck und von privaten Lobbyorganisationen nachgeben und sich zur geradezu zur verlängerten Werkbank von an gesellschaftlichen Einzelinteressen orientierten, finanzkräftigen Think-Tanks degradieren lässt.
Natürlich ist es nach wie vor richtig, dass Bertelsmann die Gesetze nicht selber verabschiedet, sondern dass diese meist von der Exekutive eingebracht und vom Parlament verabschiedet werden. Aber über die personellen Netzwerke wird der bertelsmannsche „Reformmotor“ zur eigenständigen politischen Antriebskraft, der auch außerhalb der Parlamente eine Art Eliten-Konsens schafft – und dabei nebenbei auch noch für ein positives Image für den Bertelsmann-Konzern sorgt.
Der Leitbildwechsel im Hochschulwesen wurde mit dem Pathos der „Freiheit“ vorangetrieben.
Mit das Deutlichste Bekenntnis zur „unternehmerischen Hochschule“ finden wir im nordrhein-westfälischen Hochschul-„Freiheits“-Gesetz.
Kein anderes Land mache „Freiheit mit dieser Konsequenz zur Grundlage seiner Hochschulpolitik“ rühmte der frühere Siegener Professor und damalige nordrhein-westfälische Innovationsminister Andreas Pinkwart in einer ministeriellen Broschüre [PDF – 1.5 MB] das am 1. Juli 2007 in Kraft getretene Gesetz.
Das Pathos der Freiheit ist geradezu das wichtigste Lockmittel für die Hochschulen.
Doch kaum ein anderer Begriff ist in der Menschheitsgeschichte so unterschiedlich gebraucht und so oft missbraucht worden, wie der Freiheitsbegriff.
Man sollte also immer auch nach der schon von Immanuel Kant herausgearbeiteten Unterscheidung zwischen „positiver“ und „negativer“ Freiheit, also von der Freiheit „zu was“ und der Freiheit „von was oder von wem“ fragen.
Die „unternehmerische Hochschule“ ist vom Staat und vom Einfluss des demokratischen Gesetzgebers „befreit“ worden und – dem Glaubensbekenntnis des Markt- und Wettbewerbsliberalismus entsprechend – den anonymen Zwängen des Wettbewerbs unterworfen worden. Die Forschungs-, Lehr- und Lernfreiheit wird als Freiheit zur Durchsetzung auf dem Ausbildungs- und Wissensmarkt umdefiniert. Dem Zwang des Marktes kann und darf sich kein Hochschulangehöriger entziehen. Denkt jeder Hochschullehrer und jede Hochschule an sich, so ist an alle gedacht. So lautet das markt- und betriebswirtschaftliche Credo.
Der Staat oder der Gesetzgeber sind bestenfalls noch „Zahlmeister“.
Es gab einen Rückzug staatlicher Verantwortung zugunsten einer unternehmerischen Autonomie der Hochschule und zugunsten einer der einzelunternehmerischen Wettbewerbslogik unterworfenen autokratischen Leitungsstruktur.
Die Hochschulleitungen sollen von der Spitze aus in alle Bereiche des Unternehmens – als „Arbeitgeber und Dienstherr“ des „Personals“ (ehemals Hochschullehrer genannt) und bis hinein in die „Ausbildungsverhältnisse“ (ehemals Studium genannt) – durchentscheiden können. Man braucht dazu sozusagen einen Chief Executive Officer als Präsidenten, gegen dessen Stimme keine Entscheidung getroffen werden kann. (So in § 15 Abs. 2 Ziff. 3 HFG geregelt.)
An Stelle des demokratisch kontrollierten Ministeriums oder des Parlaments als demokratische legitimierte rahmensetzende Organe und über die Selbstverwaltungsorgane wurde in der „unternehmerischen“ Hochschule der Hochschulleitung ein freischwebender Aufsichtsrat als „Fachaufsicht“ mit weitergehenden Kompetenzen vorgesetzt, als sie Staat und Parlament je hatten.
Die Mitglieder des „Hochschulrats“ sind während und nach ihrer gesamten fünfjährigen Amtszeit keiner irgendwie demokratisch legitimierten Instanz rechenschaftspflichtig. Sie können weder abberufen noch abgewählt werden. Sie können für Ihre oft tiefgreifenden und kostenintensiven Entscheidungen nicht zur Verantwortung gezogen werden.
Die Hochschulratsmitglieder entscheiden über das Geld der Steuerzahler nach ihren ganz persönlichen oder ihren politischen oder ökonomischen Interessen.
Einige dieser Defizite gestehen inzwischen sogar die wichtigsten Propagandisten der Einrichtung von Hochschulräten ein.
In einem im September 2010 dieses Jahres vom bertelsmannschen CHE und der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft herausgegebenen „Handbuch Hochschulräte“ [PDF – 2.8 MB] wird z.B. inzwischen die gesetzliche Regelung einer Abberufung von Hochschulratsmitgliedern verlangt. Es wird zugegeben, dass die Haftung der Mitglieder ungeklärt ist. Die Ehrenamtlichkeit konfligiere mit den zumeist weitreichenden Kompetenzen der Hochschulräte, deshalb sollten diese für einen „individuellen Versicherungsschutz“, etwa einer „Directors and Officers Versicherung“, wie das für das Management von Unternehmen üblich ist, Sorge tragen und die Hochschulen sollen die entsprechenden Versicherungsbeiträge übernehmen.
Und – weil in der neuen Hochschulwelt natürlich alles evaluiert werden muss – sollten sich die Hochschulräte einer „externen Evaluation“ stellen. Außerdem soll das Ministerium externen Hochschulratsmitgliedern zu Beginn ihrer Tätigkeit einen Leitfaden (so wörtlich) „in Form eines „Starter-Kits-für Hochschulräte“ zur Verfügung stellen.
Eine angemessene Vergütung soll die Hochschule den Hochschulratsmitgliedern auch anbieten.
Bis auf solche eher kosmetischen Korrekturen, wird jedoch an Hochschulräten als zentrales Steuerungselement der Hochschulen festgehalten.
Ich bin selbst Mitglied in einem Hochschulrat einer Hochschule und habe so seit 6 Jahren Erfahrungen mit einem solchen „Aufsichtsrat“ sammeln können:
Mit vielen anderen Hochschulratsmitgliedern, mit denen ich gesprochen habe, bin ich zur festen Überzeugung gelangt: Ein ehrenamtlicher Hochschulrat ist mit den ihm per Gesetz übertragenen Kompetenzen schlicht überfordert.
Die jeweiligen Entscheidungen leiten sich allenfalls aus dem jeweils persönlichen Vorurteil oder Interessensbezug ab oder: man folgt lieber gleich dem Vorschlag des Präsidenten.
In der überwiegenden Zahl der zu treffenden Entscheidungen hat das hauptamtliche Präsidium einen nicht einholbaren Informationsvorsprung und kennt die möglichen Handlungsoptionen erheblich besser als jedenfalls jedes externe Mitglied des Hochschulrates.
Viele Präsidenten entwickeln sich dadurch zu Alleinherrschern bzw. zu patriarchalischen Unternehmerpersönlichkeiten.
Die Vorstellung der Verfechter der Aufsichtsratsstruktur war die: Der Hochschulrat (Zitat) „nimmt Impulse aus Wirtschaft und Gesellschaft auf und vermittelt in dieser Weise als „Transmissionsriemen“ das erforderliche Beratungswissen für die Entscheidungen der Hochschulleitungen“.
De facto gibt es jedoch fast überall, wo sich Hochschulräte konstituiert haben, „Impulse“ vor allem aus der Wirtschaft, genauer der Groß- und Finanzwirtschaft, der IHKs oder bestenfalls noch örtlicher Unternehmer.
Nach Erhebung der Bochumer Universität rekrutieren sich die Mitglieder externer Hochschulräte über die gesamte Republik mit jeweils einem runden Drittel aus der Wirtschaft und der Wissenschaft, wobei auf Seiten der Wirtschaft die Vertreter von Großunternehmen dominieren. Während an Universitäten die Großunternehmen eindeutig dominieren, werden insbesondere an Fachhochschulen, aber auch bei privaten und technischen Hochschulen die Vertreter kleiner und mittlerer Unternehmen mit regionalem Bezug wichtiger.
Was aber noch entscheidender ist: Unter den Hochschulratsvorsitzenden liegt der Anteil der Wirtschaftsvertreter bei 47 Prozent, von diesen sind 80 Prozent Aufsichtsrats- oder Vorstandsmitglieder. Kein Wunder, dass das Handelsblatt ziemlich triumphierend titelte: „Manager erobern die Kontrolle an den Unis“.
Gewerkschaftliche Mitglieder sind in den bundesdeutschen Hochschulräten mit nur 3% marginal vertreten und damit ihrem gesellschaftspolitischen Stellenwert als Sozialpartner entsprechend deutlich unterrepräsentiert.
An der Universität Kassel kommen mit dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats der SMA Solar Technology AG, dem Generalbevollmächtigen der Volkswagen AG, dem Partner eines international tätigen Architektur- und Städteplanungsbüros, drei der neun Mitglieder aus der Wirtschaft.
Hochschulräte arbeiten in der Regel weder transparent noch sind sie repräsentativ zusammengesetzt. Vor allem unter den Hochschulratsvorsitzenden sind „Führungspersönlichkeiten“ aus der Wirtschaft dominant vertreten. (In Abwandlung zur Kritik an US-Boards „white, wealthy, businessmen“ könnte man sagen die Hochschulräte sind bei uns „old, wealthy, masculine, businessmen“)
In der tatsächlichen Zusammensetzung der Hochschulräte zeigt sich eine „Erosion der klassischen Verbändebeteiligung“. Die nordrhein-westfälischen Hochschulen wurden also vom Staat und dem Parlament weitgehend „befreit“ zugunsten einer Art Ständeherrschaft, in der ein „Stand“ einen überwiegenden Einfluss hat.
Wir haben es mit einer Verschiebung der „Organisationsverantwortung“ zu Lasten der klassisch-parlamentarischen Repräsentation der gesellschaftlichen Interessen und vor allem auch zu Ungunsten der Selbstverwaltung der Hochschule zu tun.
Die öffentlichen Hochschulen wurden faktisch „funktionell privatisiert“.
D.h. sie werden wie private Hochschulen organisiert und sollen auch wie private Unternehmen auf dem Ausbildungs- und Forschungsmarkt agieren. Der einzige Unterschied zu „echten“ privaten Hochschulen ist, dass diese „unternehmerischen“ Hochschulen zu 75 bis 90 Prozent vom Steuerzahler finanziert werden. Die zusätzliche, ergänzende private und öffentliche Finanzierung steuert also den ganz überwiegend staatlich finanzierten Apparat. Bildlich gesprochen: Der Schwanz wackelt mit dem Hund.
Das dürfte aber gerade der Idealfall der Apologeten der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen sein: Der Staat finanziert und Private lenken.
Diese gesamte Operation lief auch noch unter dem für jeden Hochschulangehörigen sympathisch anmutenden Begriff der „Autonomie“. Die Wissenschaftsfreiheit im Grundgesetz soll jedoch die Autonomie der Wissenschaft garantieren und zwar zum gesamten Wohl der Gesellschaft und nicht einzelner finanzstarker Interessen. Autonomie heißt auch gerade nicht Willkürherrschaft einer autokratischen Hochschulleitung, die eine Hochschule wie ein Großunternehmen nach Gutsherrenart führen kann und sich dabei mit dem Alibiargument der Wettbewerbsfähigkeit gegen alle Träger des Freiheitsrechts (und das gilt für Professorinnen und Professoren und auch für Studierend) durchsetzt.
Fazit:
In der „unternehmerischen Hochschule“ ist die überwiegende Mehrheit der Forschenden und Lehrenden an den Hochschulen und schon gar die Studierenden mit der „neuen“ Freiheit verglichen mit ihren früheren Beteiligungs- und Mitwirkungsrechten wesentlich „unfreier“ geworden als unter der früheren – allerdings durchaus nicht optimalen – akademischen Selbstverwaltung.
Wirtschaftsmacht statt demokratisch legitimierter Macht
Zum Schluss meines Referats möchte ich noch einige demokratietheoretische Anmerkungen machen:
Es ist das Recht eines jeden Unternehmers, der meint, etwas zur Verbesserung der Gesellschaft beitragen zu können, eine Stiftung zu gründen und politische Themen bearbeiten zu lassen. Dass sich dabei Gleichgesinnte treffen, wird jeweils unvermeidlich sein. Es ist auch das gute Recht einer jeden Regierung, denjenigen mit einer Politikberatung zu beauftragen, der ihr politisch sympathisch ist.
Doch wer öffentliche Aufgaben erfüllt, Gesetze verändern will, die in Gestaltungsrechte und Lebenschancen von Millionen Bürgern eingreifen, der muss sich der öffentlichen Auseinandersetzung stellen. Die Mitwirkenden müssen ihre gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Ziele offen legen, die Öffentlichkeit muss den Prozess nachvollziehen und erkennen können, wer welchen Einfluss ausübt und welche Konsequenzen das Vorgehen hat.
Das geradezu Paradoxe am Verhalten der Bertelsmann Stiftung ist jedoch, dass sie zwar überall nach Wettbewerb ruft, diesen Wettbewerb aber bei sich selbst konsequent verhindert.
Das, nicht nur indem sie fast „ausschließlich operativ“ arbeitet, d.h. nur ihre von ihr selbst initiierten Projekte fördert und nur ganz selten Projektanträge von außerhalb zulässt, also wissenschaftlichen Pluralismus satzungsmäßig ausschließt. Sie muss sich darüber hinaus vor keinem Parlament und keinem Rechnungshof, ja nicht einmal vor einem Aufsichtsrat, der wenigstens unterschiedliche Interessen von Kapitalanlegern vertreten könnte, für den Einsatz ihrer Gelder und die damit verfolgten Ziele rechtfertigen.
Die Netzwerkarbeit und Projektentwicklung der Bertelsmann Stiftung ist so angelegt, dass sich die Akteure gar nicht mehr mit Gegenmeinungen und Kritik auseinandersetzen, dass sie Kritik in einer Haltung der Selbstgewissheit an sich abprallen lassen und so auftreten, als hätten sie die Richtigkeit und Wahrheit ihrer Konzepte von vorneherein und zweifelsfrei erkannt. Dieses Ausmerzen von fachlichen Gegenstimmen, demokratischer Willensbildung und umfassender Bürgeraufklärung, das ist für mich das Gefährliche und der demokratiefeindliche Kern, dieser zugestandenermaßen perfekten Netzwerkarbeit.
Nicht dass man die Argumente Andersdenkender übernehmen müsste, aber Kritik wahrzunehmen und sich damit auseinander zusetzen ist etwas anderes, als sie totzuschweigen bzw. über seinen Einfluss über die Medien einfach mundtot zu machen.
Das Spektrum der Öffentlichen Meinung und der Politik wurde so nicht etwa erweitert, sondern im Gegenteil verengt und in einer Weise kanalisiert, wie es offen ausgewiesene Interessengruppen – wie z.B. Industrieverbände oder PR-Organisationen, wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft – kaum zu erreichen vermögen.
Unter dem Zwang der leeren öffentlichen Kassen und unter dem beschönigenden Etikett eines „zivilgesellschaftlichen Engagements“ greift der Staat die „gemeinnützigen“ Dienstleistungen privater Think-tanks nur allzu gerne auf.
Ja noch mehr, er zieht sich aus seiner Verantwortung immer mehr zurück und überlässt wichtige gesellschaftliche Bereiche wie etwa die Bildung oder die Hochschule gleich ganz den Selbsthilfekräften bürgerschaftlichen Engagements.
Aus dieser „zivilgesellschaftlichen“ Staats- und Gesellschaftsvorstellung speist sich die Idee von der „selbständigen Schule“ oder der „Entlassung“ der Hochschule aus der staatlichen Verantwortung.
Was heißt „zivilgesellschaftliches“ Engagement?
Hinter dieser Stiftung steht keine irgendwie demokratisch legitimierte gesellschaftliche Gruppe, dahinter steht eine private institutionelle Macht des Reichtums, die – streng hierarchisch organisiert – ihren Einfluss über das gesamte politische System ausdehnt, unter dem beschönigenden Etikett eines »zivilgesellschaftlichen Engagements« die demokratisch legitimierte Machtverteilung zwischen Verbänden, Parteien, Parlamenten und Exekutive unterwandert und gleichzeitig mit der Medienmacht des Bertelsmann Konzerns die öffentliche Meinung prägt.
Die Rollenverteilung der unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Gruppen bei ihrem „Dienst an der Gemeinschaft“ ergibt sich dabei ziemlich naturwüchsig daraus, was eben der Einzelne mit seinem bürgerschaftlichen Engagement zu leisten vermag.
Diejenigen, die nicht so viel Geld und Vermögen haben, machen Sozialarbeit, also Altenpflege oder Übungsleiter im Sportverein, die Vermögenden vergeben Forschungsaufträge oder Stiftungslehrstühle oder sie stiften gleich ganze Denkfabriken und prägen damit den Gang der Wissenschaft oder den gesellschaftlichen Diskurs und bestimmen so die gesellschaftliche und die politische Weiterentwicklung.
Die letztgenannte „zivilgesellschaftliche“ Macht stützt sich ausschließlich auf Reichtum und Vermögen. Darauf, dass eben zum Beispiel der Bertelsmann-Konzern und seine Stiftung mehr Geld hat als jede andere private und staatliche Institution, Expertisen und Gutachten erstellen zu lassen, Kongresse zu veranstalten, Studien zu machen, um die Mission ihres Stifters zu verbreiten.
Demokratisch legitimierte Macht im Staate wird so mehr und mehr durch Wirtschaftsmacht zurückgedrängt, ja sogar teilweise schon ersetzt.
Und dieser schleichende Systemwechsel vom demokratischen Wohlfahrtsstaat zur Herrschaft des großen Geldes, wird sogar noch mit dem Pathos von „mehr Freiheit“ vorangetrieben.
Was tun?
Aus zahllosen Veranstaltungen an Hochschulen an denen ich teilgenommen habe und aus vielen Gesprächen mit Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern weiß ich, dass sich an den Hochschulen nach anfänglicher Euphorie über die neue Freiheit und die Versprechungen von Autonomie inzwischen viel Unmut und Frust angesammelt hat.
Beim Bologna-Prozess etwa wurde – angefangen von Bundesbildungsministerin Schavan, über den Wissenschaftsrat, ja sogar bis zur HRK – „Korrekturbedarf“ anerkannt.
Ganze Fakultätentage lehnen eine Teilnahme an den CHE-Rankings ab, es gibt Resolutionen von Fachbereichen gegen das unternehmerische Hochschulmanagement.
Leider rekrutiert sich der Widerstand – wie etwa der vom Hochschulverband – vielfach aus der konservativen Seite, die eine Rückkehr zur alten Ordinarien-Universität erträumt.
Außer über den Protest der Studierenden dringt jedoch der Unmut einzelner Hochschulangehörigen aber nur wenig an die Öffentlichkeit, denn Ansprechpartner etwa für die Medien sind eben die Hochschulleitungen oder die Präsidenten der Hochschulen. Warum sollten gerade diese sich gegen eine Reform wenden, die ihnen viel Macht eingeräumt hat?
Einen erneuten Paradigmenwechsel herbeizuführen ist eine schwierige Herausforderung.
Hochschullehrer sind Einzelkämpfer, die Erfahrung von solidarischer Kraft ist ihnen historisch unbekannt. Die Hochschulen waren politisch leider schon immer eine leichte Verfügungsmasse der politisch Mächtigen oder des Zeitgeistes. Außerdem hat sich an den Hochschulen eine „Froschperspektive“ des politischen Denkens breit gemacht. Selbst fortschrittlichere Hochschullehrer und schon gar die Hochschulleitungen greifen z.B. in ihrer Not nur allzu gern nach dem Strohhalm der Studiengebühren oder privater Drittmittel. Sie haben vor der nunmehr seit den 70er Jahren mit dem sog. Öffnungsbeschluss beginnenden staatlichen „Unterfinanzierung“ resigniert und ihre Hoffnungen auf eine angemessene staatliche Finanzierung weitgehend aufgegeben. Das Politikum, dass nämlich die knappen öffentlichen Kassen auch etwas mit dem Steuersenkungswahn und der Aushungerung des Staates während der letzten Dekaden zu tun hat, wird gar nicht mehr gesehen. „Starve the beast“, hungert den Staat aus, war ja der Kampfruf der Chicago Boys, also der Reaganomics und des Thatcherismus.
Unverkennbar ist auch die überwiegende Mehrheit der Hochschulangehörigen auf den wirtschaftsliberalen Mainstream eingeschwenkt. Die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten, wo diese Lehre nahezu unisono verkündet wird, haben da ganze Arbeit geleistet. Vor allem die „visible Scientists“ haben sich eingerichtet als Unternehmensführer auf dem Wissenschaftsmarkt; sie holen Geld ab, wo es auch immer zu holen ist. Über die soziale Auslese-Funktion etwa von Studiengebühren und ihre bildungspolitische Bedeutung wird kaum noch nachgedacht. Die Hochschulen sind ja ohnehin überfüllt, warum sollte man sich da auch noch Sorgen machen, um diejenigen, die wegen dieser Geldbarriere vor den Hörsälen bleiben?
Die Hochschulen als alleiniger Adressat und Träger für einen Leitbildwechsel werden also nicht ausreichen, um einen Paradigmenwechsel herbeizuführen.
Das kann man am Beispiel der Einführung und der Abschaffung von Studiengebühren studieren:
Wäre es allein nach den Hochschulen gegangen, so hätten sie dieses „Doping“ niemals absetzen wollen.
Zu einem wirklichen Leitbildwechsel im Hochschulsystem wird es letztlich erst dann kommen, wenn gleichzeitig auch einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel stattfindet. Der Paradigmenwechsel weg vom humboldtschen Bildungsideal hin zum hayekschen Glauben an die Überlegenheit der Markt- und Wettbewerbssteuerung ist ja keineswegs ein Spezifikum der Hochschulreformen der letzten Jahre. Dieser Umbruch ist Ausfluss des zur Vorherrschaft gelangten gesellschaftlichen Denkens, das mit den Schlagworten Deregulierung, Privatisierung, Wettbewerb und einer dramatischen Zurückdrängung des Staates zusammengefasst werden kann. Dieses Weltbild hat ja nicht nur die Finanzwelt und die Wirtschaft durchdrungen, sondern es hat sich auch in nahezu allen anderen gesellschaftlichen Bereichen – von der Sozialpolitik (z.B. der kapitalgedeckten privaten Vorsorge) über die Kulturpolitik bis hinein eben auch in die Bildungspolitik – durchgesetzt. Wir erleben es bei der Privatisierung von Leistungen der Daseinsvorsorge oder bei der finanziellen Ausblutung des Staates.
Ohne einen gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel, weg vom mit „neoliberal“ nur unzulänglich umschriebenen Weltbild, wird es auch keinen erfolgreichen Leitbildwechsel an den Hochschulen geben. Und wie die politischen Mehrheitsverhältnisse derzeit noch aussehen, liegt für einen solchen Wechsel noch ein längerer Weg vor uns.
Aber das heißt aus meiner Sicht nicht, dass die Hochschulangehörigen ihre Hände in den Schoß legen und abwarten sollten, bis eine neue Reform-Welle von außen über sie hereinschwappt. Die Mitglieder der Hochschulen sollten von denjenigen lernen, die ihnen die „unternehmerische Universität“ übergestülpt haben. Der verstorbene Bertelsmann-Patriarch Reinhard Mohn hat sich mit seiner Stiftung deshalb so stark auf dem Feld der Hochschulpolitik engagiert, weil er der der festen Überzeugung war, dass die Hochschulen – wie er vielfach hervorhob – ein „Schlüssel zur Gesellschaftsreform“ sind.
Alle, die an den Hochschulen mit dem herrschenden Leitbild der „unternehmerischen Universität“ unzufrieden sind und unter den herrschenden Bedingungen leiden, sollten also nicht abwarten, bis sich der politische Wind wieder gedreht hat, sie sollten vielmehr die Hochschulen als einen „Schlüssel“ betrachten, den Wechsel sowohl an den Hochschulen als auch in der Gesellschaft voranzutreiben.
Mir ist klar, dass ein solches Engagement angesichts von Prüfungs-, Evaluierungs- oder Akkreditierungs-Stress und angesichts des permanenten Drucks, neue Forschungsanträge an Land zu ziehen, von Vielen unter Ihnen als Zumutung angesehen wird. Aber einen anderen Weg, damit Sie wieder zu ihrer originären Aufgabe zurückfinden können, nämlich zu guter Lehre und zu gutem Studium und vor allem zu freier Wissenschaft, sehe ich leider nicht.