Die Würde des Menschen ist antastbar
Nach weitverbreiteter Vorstellung ist Deutschland ein Sozialstaat, in dem der Staat dafür Sorge trägt, dass kein Mensch unter einem menschenwürdigen Existenzminimum leben muss. Die deutsche Sozialgesetzgebung und deren Auslegung durch die Bundesanstalt für Arbeit sehen dies jedoch anders. Hält sich ein Hilfsbedürftiger nicht an die Regeln der Bundesanstalt, können im Einzelfall sogar sämtliche staatlichen Leistungen gestrichen werden. Dann verbleiben verbleiben den betroffenen Bürgern nur noch Sachleistungen wie Lebensmittelgutscheine im Wert von 172 Euro pro Monat. Diese Regelungen, die sich unter dem Begriff „Sanktionen“ zusammenfassen lassen, verstoßen nicht nur gegen die Würde des Menschen, sie sind auch volkswirtschaftlich verheerend. Wie kaum anders zu erwarten, gibt es auch Profiteure dieser Regelungen – Profiteure, die weit davon entfernt sind, selbst in existenzielle ökonomische Not zu geraten, nämlich die Arbeitgeber. Von Jens Berger.
Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind… Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.“
Der unmittelbare verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gewährleistet
„sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen.“ (Rdnr. 135)
„Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.“ (Rdnr. 137)
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010
Um die Menschenwürde auch materiell zu gewährleisten, steht jedem Bürger eine staatlich garantierte Grundsicherung zu – dies ist eine direkte Folge des Sozialstaatspostulats im deutschen Grundgesetz. Nach den Berechnungen des Deutschen Bundestags liegt das Existenzminimum in diesem Jahr bei 7.896 Euro pro Jahr bzw. 658 Euro pro Monat. Daraus errechnet sich nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts der aktuelle Hartz-IV-Regelsatz (der allerdings noch nicht die Miet- und Heizkosten beinhaltet) von 374 Euro pro Monat für Alleinstehende. Dieser Regelsatz, der von vielen kritisch gesehen wird, entspricht nach Auslegung der Bundesregierung dem soziokulturellen Existenzminimum, dessen Gewährleistung dem Staat durch das Grundgesetz vorgeschrieben ist. Im Juni dieses Jahres mussten jedoch laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit mindestens 147.150 Menschen unter dem Existenzminimum leben, obwohl sie den Staat um Hilfe gebeten hatten. Schuld an dieser staatlich gewollten Armut sind Sanktionierungsmaßnahmen der Ämter, die durch §31 des zweiten Sozialgesetzbuchs ermöglicht werden. Fördern und Fordern, so lautete der Slogan der Hartz IV-Gesetzgebung. Die bittere Realität zeigt jedoch, dass die Ämter vielfach eher nach dem Slogan Fordern und Sanktionieren verfahren. Wer nicht spurt, wird bestraft – und koste es die Menschenwürde.
Recht und Gerechtigkeit
Kann es sich ein Staat leisten, Bürger finanziell zu unterstützen, die keine Gegenleistung dafür erbringen? Er kann es nicht nur, er muss es sogar – diese Verpflichtung ergibt sich aus dem Bekenntnis der deutschen Verfassung zur Wahrung der Menschenwürde. Artikel 1 des Grundgesetzes sieht weder Einschränkungen noch Vorbehalte vor und ist zudem neben Artikel 20 durch eine Ewigkeitsklausel geschützt.
Siehe dazu auch: „Bundesverfassungsgericht: Eine schallende Ohrfeige, die nicht besonders weh tut“
Soweit die Theorie. In der Praxis wird die Verpflichtung des Staates, für die Grundsicherung seiner Bürger zu sorgen, jedoch durch die vorgesehenen Sanktionen im Sozialgesetzbuch untergraben. Empfängern von Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II kann ein Teil der staatlichen Leistungen gestrichen werden, wenn sie den Anweisungen der Ämter nicht Folge leisten. Bei mehrfachen Verstößen gegen die Anweisungen kann die Leistung sogar ganz gestrichen werden. Sollte ein Mitbürger sich also beharrlich weigern, die Auflagen der Ämter zu befolgen, so muss er damit rechnen, dass ihm nicht nur der ALG-II-Regelsatz, sondern auch die Unterkunftsleistungen und die Krankenversicherung entzogen werden. In bestimmten Fällen kann das zuständige Jobcenter jedoch Sachleistungen gewähren.
In der Summe der verbleibenden Leistung für den Regelbedarf und dem Wert der Sachleistung (Lebensmittelgutschein) sollen dem Leistungsberechtigten mindestens Leistungen im Umfang des für Ernährung, für Gesundheitspflege und für Hygiene und Körperpflege vorgesehenen Anteils in Höhe von 172 EUR verbleiben.
Dienstanweisung der Bundesagentur für Arbeit zu § 31 SGB II Rz. 31.27 [PDF – 233 KB]
Die Gewährung von Sachleistungen liegt im Ermessen des zuständigen Sachbearbeiters, lediglich Alleinerziehende haben einen ermessensfreien Anspruch auf Sachleistungen. Sanktionen sind keine Ausnahmeerscheinung – alleine im letzten Jahr wurden 520.792 Sanktionen gegenüber Hilfsbedürftigen ausgesprochen.
Siehe dazu: „Rekord bei Hartz-IV-Sanktionen gegen Arbeitsunwillige“
Der Grad der Sanktionierung reicht dabei von einer kurzfristigen Kürzung der Bezüge um 10% bei Meldeversäumnissen bis zur vollständigen Einstellung aller Leistungen bei wiederholten Pflichtverletzungen. Bei Hilfsbedürftigen unter 25 Jahren reicht indes bereits ein einziger Pflichtverstoß für eine vollständige Streichung des Regelsatzes. Im Jahre 2008 wurde in über 97.000 Fällen [PDF – 153 KB] diese Maximalsanktion gegenüber jungen Mitbürgern ausgesprochen – fast 10% der Hilfsbedürftigen in dieser Altersgruppe werden mindestens einmal pro Jahr sanktioniert. Von Ausnahmen, die die Regel bestätigen, kann daher nicht mehr die Rede sein. Jede Sanktionierung stellt de facto einen Eingriff in die Unantastbarkeit der Menschenwürde dar, führt sie doch dazu, dass der Sanktionierte für einen bestimmten Zeitraum unterhalb des Existenzminimums leben muss.
Risikofaktor Nummer Eins: Bürokratiemüdigkeit
54% aller Sanktionen werden wegen Meldeversäumnissen ausgesprochen, 17% wegen einer Verletzung der Eingliederungsvereinbarungen – dies bedeutet beispielsweise, dass der Hilfsbedürftige weniger Bewerbungen schreibt, als es ihm vorgeschrieben ist. Nur 20% der Sanktionen betreffen Weigerungen, eine angebotene Arbeit, Ausbildung oder Maßnahme anzunehmen. Sanktioniert werden also nicht primär die Arbeitsunwilligen, sondern diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – mit den bürokratischen Vorgaben deutscher Ämter nicht zurechtkommen. Je jünger die Hilfsbedürftigen sind, und je niedriger in der betreffenden Region die Arbeitslosigkeit ist, desto häufiger wird sanktioniert.
Wer ein Opfer der Sanktionen wird, muss damit rechnen, seinen Lebensunterhalt in der sanktionierten Zeitspanne nicht aufbringen zu können. Rechnungen können nicht bezahlt, Nahrungsmittel nicht gekauft werden – im Extremfall droht Obdachlosigkeit, da auch das Wohngeld einbehalten wird. Krankenversichert sind diese Sanktionsopfer dann auch nicht mehr, im Falle eines Unfalls droht so die Überschuldung. Natürlich ist jeder für sich selbst verantwortlich und niemand ist gezwungen, den Anweisungen der Ämter keine Folge zu leisten. Dies hat allerdings zur Folge, dass wir nicht mehr in einem Sozialstaat leben, der das Existenzminimum seiner Bürger „gewährleistet“, sondern in einem Sanktionsstaat, der aufmüpfige Mitbürger der Obdachlosigkeit und dem Hunger preisgibt. Dies alles sind Fragen des Selbstverständnisses des Staates und der Gesellschaft, Fragen der Gerechtigkeit und der Solidarität – Fragen, auf die es keine Antwort gibt, die absolut richtig oder absolut falsch ist.
Wenn der Staat der Meinung ist, man müsse Mitbürger, die sich nicht an bestimmte Regeln halten, materiell sanktionieren, so gebietet die Unantastbarkeit der Menschenwürde, dass auch einem sanktionierten Mitbürger das soziokulturelle Existenzminimum bleibt. Dann wäre eine Sanktionierung jedoch nur möglich, wenn die Regelleistung generell über diesem Existenzminimum läge. Anderenfalls gibt es auch keinen Sanktionierungsspielraum. Will die Politik also an der Sanktionierungspraxis festhalten, muss sie auch den Regelsatz auf ein Niveau oberhalb des Existenzminimums anheben. Ansonsten sorgt sie dafür, dass Bürger unterhalb des Existenzminimums leben müssen – und das widerspricht der Unantastbarkeit der Menschenwürde.
Volkswirtschaftliche Fragen
Die Sanktionierungspraxis im Sozialgesetzbuch hat jedoch auch tiefgreifende volkswirtschaftliche Folgen, die weit über die Frage der Gerechtigkeit hinausgehen. Die Sanktionierungspraxis ist direkt dafür mitverantwortlich, dass es in Deutschland einen Niedriglohnsektor gibt. Kaum ein anderer Markt ist so wenig marktwirtschaftlichen Regeln unterworfen wie der Arbeitsmarkt. Nach marktwirtschaftlichen Regeln müsste eine Friseuse, die nur 4,50 Euro die Stunde bekommt, ihren Arbeitsplatz kündigen, da der erzielte Preis für ihr Arbeitsangebot nicht ihren Vorstellungen entspricht. Nach marktwirtschaftlichen Regeln müsste der Arbeitgeber dann sein Angebot aufbessern, da er für 4,50 Euro keinen Anbieter findet, der ihm die “Ware” Arbeit verkauft. Bei einem Preis von 9,00 Euro würde man sich dann vielleicht einig werden – so funktioniert der Markt. Niemand käme auf die Idee, dem Friseurmeister Vorhaltungen zu machen, wenn er das freie Angebot eines Kunden ablehnt, sich für 4,50 Euro die Haare schneiden zu lassen. Die erwerbslose Friseuse muss jedoch vor der Arbeitsagentur erklären, warum sie einen Job für 4,50 Euro für nicht zumutbar hält. Gelingt es ihr nicht, einen triftigen Grund anzuführen, der jedoch nichts mit dem niedrigen Lohn zu tun haben darf, wird sanktioniert. Das ist kein Markt, hier werden die Regeln des Marktes vielmehr auf den Kopf gestellt.
Der Grund, warum der Arbeitsmarkt im unteren Lohnbereich gar nicht funktionieren kann, ist die Sanktionierungspraxis. Wenn ALG-II-Empfänger frei entscheiden könnten, ob und zu welchen Bedingungen sie ein Arbeitsangebot annehmen, wäre ALG II eine Art Bürgergeld oder auch Grundeinkommen – allerdings kein bedingungsloses Grundeinkommen, das jedem Bürger, unabhängig von seiner ökonomischen Situation, zusteht.
Wer Arbeitskräfte im unteren Lohnsektor nachfragt, müsste dann schon etwas tiefer in die Tasche greifen, um einen Anbieter von Arbeitskraft zu finden. Die Sanktionspraxis ist also das verschärfte Drohpotential zur Durchsetzung des Niedriglohnes. Ohne Niedriglohnsektor würden allerdings auch die Löhne im mittleren Lohnsektor anziehen müssen. Dies ist auch der Grund, warum der Wunsch nach einer Streichung der Sanktionen auf massiven Widerstand in der Politik und vor allem der Wirtschaft stößt. Nicht nur Arbeitgeber, die Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor beschäftigen, profitieren somit von den Sanktionen. Durch die Verschiebung des Lohngefüges profitieren – zumindest auf betriebswirtschaftlicher Ebene – fast alle Arbeitgeber von den Sanktionen. Volkswirtschaftlich stellt sich die Sache freilich etwas anders dar; niedrigere Löhne dämpfen schließlich die Binnennachfrage. Wenn es jedoch um Menschenrechte geht, haben aber ökonomische Fragen ohnehin zurückzustehen. Die Würde des Menschen ist unantastbar.