Zu Syrien und weit darüber hinaus
In einem breit angelegten Interview erkundet Nahost-Experte Günter Meyer die mannigfachen Dimensionen des syrischen Bürgerkriegs und seine Folgen – ökonomische und geostrategische – für andere Länder in der Region. Er ist der Überzeugung, dass die USA und Israel bislang den meisten Nutzen aus der Situation gezogen haben. Das Interview führte Lars Schall.
Einer der herausragenden Experten in Europa zum Nahen Osten, Professor Günter Meyer, befasst sich in diesem ausführlichen Exklusiv-Interview, das in Englisch für Asia Times Online geführt wurde, den syrischen Bürgerkrieg und seinen internationalen Dimensionen. Das Original wurde hier veröffentlicht und am 26. September aktualisiert.
Prof. Dr. Günter Meyer hat seit fast 40 Jahren empirische Forschungen über die soziale, wirtschaftliche und politische Entwicklung in den arabischen Ländern durchgeführt und ist Autor von mehr als 150 Büchern und Artikeln, vor allem über Syrien, Ägypten, Jemen und die Länder des Golf-Kooperationsrats. Er leitet das Zentrum für Forschung zur Arabischen Welt an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, Deutschland, eines der weltweit führenden Informationszentren für die Verbreitung von Nachrichten und Forschungen zum Nahen Osten. Professor Meyer ist
- Vorsitzender der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient für gegenwartsbezogene Forschung und Dokumentation (DAVO)
- Präsident der European Association for Middle Eastern Studies (EURAMES)
- Vorsitzender des International Advisory Council of the World Congress for Middle Eastern Studies (WOCMES)
Lars Schall: Professor Meyer, da unsere Wahrnehmungen durch die Medien gebildet werden, was denken Sie über die Berichterstattung zum Konflikt in Syrien in den westlichen Medien?
Günter Meyer: Meine Wahrnehmungen werden nicht nur von den Medien gebildet, sondern auch von meiner eigenen Erfahrung in Syrien und durch den Kontakt mit Syrern, anderen arabische Experten und politischen Aktivisten des Arabischen Frühlings. Die Informationen, die ich aus diesen Quellen und auch von arabischen Medien erhalte, decken ein viel breiteres Spektrum von Ansichten und Einschätzungen ab, als die eher einseitige Berichterstattung in der Mehrheit der westlichen Medien.
LS: Welche Dinge haben Sie insbesondere zu kritisieren?
GM: Bis vor kurzem war die Mainstream-Berichterstattung in den meisten westlichen Medien eindeutig voreingenommen. Sie konzentrierte sich hauptsächlich auf die Unterscheidung zwischen dem “schlechten” syrischen Regime, das gestürzt werden muss, und der “guten” Opposition, die unterstützt werden muss, weil sie gegen eine korrupte, autoritäre und brutale Regierung kämpft. Diese Wahrnehmung hat sich in den vergangenen Monaten allmählich verändert. Mehr und mehr Medien berichten über die widerstreitenden Interessen der stark fragmentierten oppositionellen Gruppen sowie über die Gräueltaten der Rebellengruppen und ihre Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Alawiten, aber auch gegen Christen.
Der Zustrom von Salafisten, Dschihadisten und Anhängern von al-Qaida sowie die Erwartung, dass radikale sunnitische Islamisten Syrien nach dem Sturz von Baschar al-Assad kontrollieren werden, sind störende Themen, über die nun auch immer häufiger in westlichen Medien berichtet wird. Nach einer langen Verzögerung konzentriert sich die Berichterstattung über die Entwicklung in Syrien nicht mehr nur auf die Verbreitung der politischen Ansichten der “Friends of Syria”, die den Sturz des Regimes in Damaskus propagieren. Stattdessen wächst die Zahl der Berichte, die sich bemühen, ein umfassendes Bild über die hoch komplexe Situation in Syrien zu geben.
Nichtsdestoweniger gibt es immer noch eine Voreingenommenheit, wenn es um die Berichterstattung über Massaker geht. Die Mehrheit der westlichen Medien – und auch die meisten westlichen Regierungen – neigen dazu, Informationen aus oppositionellen Quellen zu verbreiten, wonach die Regierungstruppen, insbesondere die Shabiha-Miliz, verantwortlich sind für die grausamen Tötungen von Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder. Zur gleichen Zeit werden Beweise für eine systematische “Massaker-Marketingstrategie” [1] der Rebellen als Propaganda des Assad-Regimes zurückgewiesen. Es ist offensichtlich, dass in vielen Fällen, vor allem bei den Massakern mit den höchsten Opferzahlen in Houla [2] und Daraya [3] oppositionelle Kräfte brutale Verbrechen gegen Zivilisten begingen, nur um die Regierung für diese Massaker verantwortlich zu machen. Mit dieser Strategie versuchen sie, die öffentliche Meinung zu manipulieren und politische Entscheidungen gegen das syrische Regime zu beeinflussen.
LS: Würden Sie sagen, dass die geopolitische Bedeutung Syriens für die eurasische Energie-Politik hier von Relevanz ist? Ich meine, letztendlich ist Syrien ein wichtiger Transportknotenpunkt für künftige Öl- und Gaspipelines, nicht wahr?
GM: Wann immer Sie versuchen, politische Konflikte im Nahen Osten zu analysieren und auf deren Grund zu gelangen, werden Sie wahrscheinlich Öl oder Gas finden. Der gegenwärtige Konflikt wurde mit Syriens Rolle als Transitland für iranische Gas-Exporte in Verbindung gebracht. Im vergangenen Jahr unterzeichneten Iran, Irak und Syrien einen Vertrag zum Bau einer Erdgas-Pipeline bis 2016, die vom riesigen South Pars-Feld im Iran bis zur syrischen Mittelmeerküste führen soll, um den Libanon und Europa mit Gas zu versorgen. Als Ergebnis würde die Türkei ihre hoch profitable und politisch wichtige Position als dominierendes Transitland für Gas aus Russland und dem kaspischen Becken einbüßen. [4]
Könnte diese zu erwartende Konkurrenz ein Grund für die türkische Regierung sein, ihre guten Beziehungen mit dem syrischen Regime aufzugeben und die Opposition zu unterstützen? Das ist eher unwahrscheinlich. In den letzten Jahren hat der Iran zahlreiche Absichtserklärungen und Verträge mit ausländischen Regierungen und Unternehmen unterzeichnet, um iranische Gas- und Ölfelder auszubeuten und Pipelines zu bauen. Als Folge des US-Embargos gegen den Iran wurde nichts davon durchgeführt. Deshalb ist zu vermuten, dass der Vertrag zum Bau einer Pipeline nach Syrien vor allem aus innenpolitischen Gründen von der iranischen Regierung initiiert wurde. Man muss auch die Wirtschaftlichkeit des Projekts in Frage stellen. Warum sollte Gas aus dem südlichen Iran nach Europa exportiert werden, wenn die höchste Nachfrage nach iranischem Gas aus den Nachbarländern Pakistan und Indien kommt?
Ein anderes Projekt würde viel mehr Sinn ergeben: Im Jahr 2009 hatte Katar vorgeschlagen, eine Pipeline von den Gasfeldern des Emirats über Syrien bis in die Türkei zu bauen, von wo das Gas über andere Pipelines nach Europa transportiert werden kann. [5] Basierend auf diesem Projekt, hatten Assad-Anhänger behauptet, dass die Unruhen in Syrien kein Aufstand seien, sondern eine von Katar angezettelte Aggression, um das Land zu beherrschen und Katars Zugang zum Mittelmeer für seine Gas-Exporte zu gewährleisten. Dieses Argument kann getrost den Verschwörungstheorie zugeordnet werden. [6]
LS: Sind die entdeckten Energieressourcen im östlichen Mittelmeer und im Levante-Becken ebenfalls von Interesse hier?
GM: Die noch in der Erschließung befindlichen Erdgasvorkommen sind extrem wichtig für Israel, das nicht mehr auf die unsichere Versorgung mit ägyptischem Erdgas durch die immer gesprengte Pipeline auf der Sinai-Halbinsel angewiesen sein wird. Die bisher entdeckten Erdgasreserven sind so groß, dass Israel nicht nur Energie-Unabhängigkeit erreichen, sondern auch von lukrativen Exportgeschäften profitieren wird. Weitere umfangreiche Gas- und sogar Ölreserven werden in den Offshore-Gebieten vor der Küste von Syrien und Libanon vermutet. [7] Doch haben die neu entdeckten Ressourcen keinen direkten Einfluss auf die gegenwärtige Krise in Syrien.
LS: Wenn es um die westlichen Mächte geht, beabsichtigen diese vor allem eine Schwächung der Iran-Syrien-Hisbollah-Achse?
GM: Es gibt zahlreiche Aussagen der US-Regierung, die die geostrategische Bedeutung des Sturzes des syrischen Regimes betonen, wodurch sowohl der Iran als auch die Hisbollah im Südlibanon ihren wichtigsten Verbündeten verlieren würden. Die iranische und syrische Lieferung von Waffen an die Hisbollah wird dann nicht mehr möglich sein. Die Schwächung der Streitkräfte dieser schiitischen Organisation bedeutet, dass die Auswirkungen auf die Machtstruktur des Libanon und vor allem ihre Fähigkeit, Israel anzugreifen, dramatisch sinken wird. [8] Der Sturz von Baschar Al-Assad würde auch den Einfluss von Russland und China im Nahen Osten schwächen und die Rolle der USA und Saudi-Arabiens in dieser Region stärken.
LS: Erleben wir derzeit eine “Balkanisierung Syriens” oder eine “Balkanisierung des Nahen Osten” im Allgemeinen?
GM: In den letzten Jahrzehnten war Syrien geprägt durch eine säkulare Herrschaftsform mit starker panarabischer Orientierung. Jetzt sind die ethnischen und religiösen Spannungen zu einem dominierenden Faktor geworden, der die Einheit des syrischen Staates bedroht. Der schlimmste Fall wäre in der Tat eine “Balkanisierung” für Syrien. Das würde eine Aufteilung des Landes bedeuten in einen nordöstlichen kurdischen Staat, von wo die PKK [Arbeiterpartei Kurdistans] ihre Angriffe gegen die Türkei forcieren könnte, einen Alawiten-Staat im westlichen Bergland und an der Küste, eine kleine Drusen-Enklave im Süden und einen sunnitischen Staat in zentralen Syrien. Nur der letzte würde wahrscheinlich über genügend wirtschaftliches Potenzial verfügen, um auf lange Sicht Bestand zu haben.
Andere Experten legen ein “Libanonisierungs”-Szenario nahe, das die Kräfte der syrischen Streitkräfte binden und die Zentralregierung in Damaskus schwächen würde. [9] Das Modell einer “Irakisierung” von Syrien könnte auch Chancen besitzen, mit mehreren autonomen oder semi-autonomen Regionen zur Realität zu werden. Ähnliche Forderungen werden auch im ölreichen Osten Libyens erhoben, wo große Teile der Bevölkerung nicht länger vom Zentrum der politischen Macht in Tripolitanien, der westlichen Region von Libyen, dominiert werden wollen.
LS: Sehen wir in Syrien eine ähnliche Situation wie zuvor in Libyen oder ist sie ganz anders?
GM: Die Rahmenbedingungen in Libyen waren ganz anders. Gaddafis Streitkräfte waren viel zu schwach, um der militärischen Übermacht der NATO zu widerstehen, die vom UN-Sicherheitsrat ermächtigt worden war, in Libyen einzugreifen. Große Teile der Bevölkerung und fast der gesamte Osten Libyens opponierte gegen das autoritäre Regime, so dass sich ausländische Militärberater in diesem Teil des Landes frei bewegen sowie die oppositionelle Kämpfer mit schweren Waffen ausrüsten und in deren Handhabung unterweisen konnten.
Bashar al-Assad kann sich dagegen auf die hervorragend ausgebildeten und hochgerüsteten Republikanische Garde und die 4. Bewaffnete Division verlassen – Elite-Truppen, die fast ausschließlich aus Alawiten bestehen.. Die syrische Luftwaffe und insbesondere die Luftverteidigung sind mit der neuesten russischen Militärtechnik ausgerüstet. Eine aktuelle Analyse des Massachusetts Institute of Technology kommt zu dem Schluss, dass die syrische Luftverteidigung fünfmal so schlagkräftig ist wie die von Gaddafi. [10]
Eine militärische Offensive durch ausländische Truppen, um Bashar al-Assad zu stürzen, wäre eine äußerst riskante und teure Operation. Darüber hinaus besteht keine Chance, dass Russland und China eine UN-Resolution für eine militärische Intervention in Syrien akzeptieren. Unter diesen Umständen haben die USA, Frankreich und das Vereinigten Königreich bisher nur oppositionelle Kämpfer auf türkischem Territorium in der Nähe der nordwestlichen Grenze von Syrien ausgebildet und sie mit Kommunikationsmitteln und anderer nicht-tödlicher Ausrüstung versorgt. Gleichzeitig lässt der Iran mit zivilen Flugzeugen militärisches Personal und große Mengen von Waffen durch den irakischen Luftraum nach Syrien fliegen, um beim Bekämpfen des Aufstands zu helfen – so ein westlicher Geheimdienstbericht, der von der Nachrichtenagentur Reuters eingesehen wurde. Die irakische Regierung bestreitet jedoch, dass solche Flüge stattfinden.
LS: Wir wissen, dass Kräfte der al-Qaida auf syrischem Boden kämpfen. Ed Husain, Senior Fellow für Nahost-Studien beim Council on Foreign Relations, schrieb dazu: “Im Großen und Ganzen sind die Bataillone der Freien Syrische Armee (FSA) müde, geteilt, chaotisch und unwirksam. Indem sie sich vom Westen verlassen fühlen, sind die Rebellen zunehmend demoralisiert … Al-Qaida-Kämpfer können dagegen dazu beitragen, die Moral zu verbessern. Der Zustrom von Dschihadisten bringt Disziplin, religiöse Inbrunst, Kampferfahrung aus dem Irak, die Finanzierung von sunnitischen Sympathisanten in der Golfregion, und vor allem tödliche Resultate. Kurz gesagt, die FSA braucht jetzt die al-Qaida.” [11]
Das ist schon eine Aussage nach mehr als zehn Jahren des so genannten “Kriegs gegen den Terror”, nicht wahr?
GM: In der Tat! Es gibt viele ähnliche Berichte – unter anderem aus dem östlichen Euphrat-Tal nahe der irakischen Grenze, wo Oppositionskämpfer mehrere Monate lang vergeblich versucht hatten, Stellungen der syrischen Armee einzunehmen. Am Ende baten sie eine wesentlich besser bewaffnete al-Qaida-Gruppe um Unterstützung. Nach deren Angriffen zog sich die Armee innerhalb von wenigen Tagen aus der Garnison zurück.
Die al-Qaida-Kämpfer und Dschihadisten kommen nicht nur aus arabischen Ländern, wo sie vor allem im Irak, aber auch in Tunesien, Libyen und auf der Arabischen Halbinsel umfangreiche Kampferfahrungen gesammelt haben. Andere sind in Pakistan ausgebildet worden, und auch militante Muslime aus europäischen Ländern haben sich den islamistischen Milizen in Syrien angeschlossen. Ihre Zahl wächst rasant. Dies ist der Hauptgrund, warum die US-Regierung die oppositionellen Kämpfer nicht mit Boden-Luft-Raketen beliefern will, die am Ende in den Händen von al-Qaida oder Hisbollah landen könnten. Es wurde erst vor kurzem berichtet, dass die Freie Syrische Armee 14 Stinger-Raketen erworben hat. Bisher ist es jedoch noch nicht bestätigt worden, dass diese Waffen verwendet wurden, um syrische Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber anzugreifen [12].
LS: Welche Bedeutung hat es, dass al-Qaida eine sunnitische Terrororganisation ist?
GM: Rund 70% der syrischen Bevölkerung sind Sunniten. Viele von ihnen betrachten die herrschenden Alawiten nicht als echte Muslime. Das gleiche gilt für al-Qaida, die fordert, dass alle Muslime gemeinsam die alawitischen “Ungläubigen” auslöschen sollen. Doch bedeutet dies keineswegs, dass al-Qaida und andere ausländische Dschihadisten von allen syrischen Sunniten unterstützt würden. Ganz im Gegenteil. Die überwiegende Mehrheit lehnt sowohl die extremistischen Ansichten als auch die Intervention der radikalen ausländischen Islamisten ab, deren Ziel die Errichtung eines Kalifats in Syrien ist.
LS: Es wird gesagt, dass Syriens Herrscher Baschar al-Assad chemische Waffen verwenden könnte. Was ist Ihre Meinung dazu?
GM: Das Regime hat versichert, dass es niemals chemische oder biologische Waffen verwenden wird. Diese Aussage kann durchaus als glaubwürdig angesehen werden, da der Einsatz von Massenvernichtungswaffen oder sogar die Bewegung solcher Waffen bedeuten würde, die “rote Linie” zu überschreiten, mit der Präsident Obama drohte. Eine militärische Intervention gegen die syrische Regierung würde die Folge sein. [13]
Allerdings gibt es unbestätigte arabische Presseberichte, wonach NATO-Mächte in Abstimmung mit Saudi-Arabien einen Angriff mit chemischen Waffen im südlichen Syrien vorbereiten, für den das Assad-Regime verantwortlich gemacht werden soll, um eine massive internationale Invasion zu rechtfertigen. [14]
LS: Beobachten wir im syrischen Konflikt bestimmte Entwicklungen wie unter einem Mikroskop: die USA können sich einige bestimmte Arten von Abenteuern finanziell nicht mehr leisten und erreichen die Grenzen ihres Einflusses, während die Russen und die Chinesen nicht gesagt bekommen wollen, was im Nahen Osten zu tun ist?
GM: Der finanzielle Aspekt ist sehr wichtig aus der Sicht der US-Regierung, aber es gibt auch Präsident Obamas Versprechen, “unsere Jungs wieder nach Hause zu bringen.” Ein neues amerikanisches Engagement in einem weiteren Krieg ist äußerst unpopulär, besonders während des gegenwärtigen Präsidentschaftswahlkampfes. Was Russland und China angeht, so verfolgen sie wichtige geostrategische Interessen in Syrien. Es gibt keinen zwingenden Grund, weshalb sie ihre komfortable und einflussreiche Position aufgeben sollten, die sie gerade auch durch ihr Vetorecht im UN-Sicherheitsrat besitzen.
LS: Hinsichtlich der ausländischen Einflüsse wurde vor kurzem geschrieben, dass europäische und arabische Staaten hohe Regierungsbeamte bezahlen, wenn diese sich von Assad abwenden. [15] Ihre Meinung zu diesem Thema?
GM: Das gilt nicht nur für einzelne Mitglieder der syrischen Regierung und im Ausland tätige Diplomaten, sondern vor allem für Angehörige der syrischen Streitkräfte. Katar und Saudi-Arabien haben öffentlich angekündigt, dass sie mindestens 300 Millionen US $ ausgeben werden, um die Gehälter der oppositionellen Kämpfer zu zahlen und auch regimetreuen Soldaten aller Ränge finanzielle Anreize zu bieten, damit sie desertieren und zu den oppositionellen Truppen überlaufen. Unter diesen Umständen ist es wirklich erstaunlich, dass nur so wenige Offiziere, Generäle und führende Mitglieder des Regimes bis jetzt übergelaufen sind. Dies unterstreicht, wie stabil die Macht der Regierung, des Militärs und der Sicherheitsdienste immer noch ist.
LS: Wie würde eine europäische Haltung aussehen, die unterstützungswert wäre?
GM: Lassen Sie mich mit einer Erklärung beginnen, warum die gegenwärtige europäische Haltung nicht unterstützungswert ist. Die führenden Regierungen der EU haben eine politische Lösung des syrischen Konflikts verworfen und sich stattdessen für die – zumindest indirekte –
Unterstützung eines gewaltsamen Sturzes des Assad-Regimes entschieden. Sie kooperieren insbesondere mit dem Syrischen Nationalrat (SNC), der von der Muslimbruderschaft dominiert wird und hauptsächlich aus Syrern besteht, die eine lange Zeit in westlichen Ländern gelebt haben, vor allem in den USA. Diese Leute wollen das Post-Assad Syrien regieren, aber sie werden keineswegs von der Mehrheit der Bevölkerung in Syrien akzeptiert.
In Berlin zum Beispiel stellte die Stiftung Wissenschaft und Politik in Zusammenarbeit mit dem US Institute of Peace die Einrichtungen zur Verfügung, damit sich die Mitglieder der syrischen Opposition und internationale Experten treffen konnten, um für “den Tag danach“ zu planen. [16] Das Ergebnis ist eine Agenda zur Etablierung eines neuen politischen Systems in Syrien nach westlichen demokratischen und wirtschaftlichen Konzepten, sobald das gegenwärtige Regime gestürzt ist.
Dieser Plan wurde entworfen ohne Kenntnis über die künftige Verteilung der Macht unter den verschiedenen Kräften, die an dem Sturz der Regierung beteiligt sein könnten, und mit nur geringer Beteiligung der zahlreichen oppositionellen Gruppen in Syrien. Es ist nicht verwunderlich, dass ein solcher Plan von Mitgliedern der innersyrischen Opposition als “akademische Übung” ohne Relevanz zu einem Zeitpunkt abgelehnt wurde, an dem das Ergebnis der syrischen Krise noch völlig offen ist. Das gleiche gilt für zur Planung der syrischen Zukunft in Paris, Rom, Istanbul und Kairo.
Die häufigen Forderungen, dass sich die äußerst heterogene Opposition zusammenschließen sollte, haben sich als zwecklos erwiesen. Dies gilt auch für den letzten Versuch des französischen Präsidenten Francois Hollande, der obendrein angeboten hat, eine neue syrische Exilregierung anzuerkennen. Der Vorschlag wurde sofort aus Washington als unzeitgemäß aufgrund der Uneinigkeit der oppositionellen Gruppen abgelehnt.
Wesentlich relevanter für die Entwicklung der Krise ist der Vorschlag, auf syrischem Territorium eine Sicherheitszone für die Flüchtlinge zu etablieren. Dies wurde zuerst von der türkischen Regierung gefordert und kürzlich vom französischen Präsidenten unterstützt. Derzeit sind mehr als 80.000 Syrer in Flüchtlingslagern in der Türkei angekommen, 100.000 hatte die Regierung Erdogan zur Obergrenze der aufnehmbaren Flüchtlinge erklärt. Weitere Flüchtlinge sollten deshalb in einer sicheren Pufferzone auf der syrischen Seite der Grenze zur Türkei untergebracht werden. Das gleiche wurde entlang der jordanischen Grenze vorgeschlagen.
Auf den ersten Blick könnte eine solche Forderung eher harmlos und unproblematisch erscheinen, für deren Umsetzung nur eine begrenzte militärische Intervention erforderlich ist. Doch kann eine sichere Pufferzone in Syrien nur nach einem umfassenden Krieg der NATO und alliierter Truppen aus arabischen Ländern gegen das starke syrische Militär eingerichtet werden. Um die Flüchtlinge in ihrem Herkunftsland zu schützen, muss eine Flugverbotszone eingerichtet werden, die nur kontrolliert werden kann, nachdem die NATO die Luftüberlegenheit über das gesamte syrische Territorium gewonnen hat.
Dies würde die Zerstörung der syrischen Luftwaffe mit etwa 400 Kampfflugzeugen und des riesigen Arsenals an hoch entwickelten Boden-Luft-Raketen einschließen. Die Größe, der Aufwand und die Dauer einer solchen Intervention würden enorm sein, wie aus der MIT-Analyse hervorgeht. [10]
Man muss auch bedenken, dass in völkerrechtlicher Hinsicht ein solcher Angriff nur aufgrund der internationalen Norm der “Responsibility to Protect” (R2P, Verantwortung zum Schutz der Bevölkerung) durchgeführt werden könnte. Aber deren Anwendung muss durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrates genehmigt werden, in dem ein Veto von Russland und China für selbstverständlich gehalten werden kann.
Auf die Frage nach der Position zurückkommend, die unterstützt werden soll: Die sinnvollste Position und die einzige, die eine friedliche Lösung erlaubt, ist immer noch der Annan-Plan [der Vorschlag des ehemaligen Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan], der nicht nur vorsieht, die Opposition und ihre Anhänger, sondern auch die Regierungen in Damaskus und Teheran an den Verhandlungen über die künftige Entwicklung von Syrien zu beteiligen. Bisher erschien es aussichtlos, dass dieser Vorschlag von der Exil-Opposition und ihren Unterstützern in den USA, der Arabischen Liga, der Türkei und der EU angenommen werden könnte. Wie die libanesische Tageszeitung As-Safir am 25. September unter Bezug auf ungenannte diplomatische Quellen berichtete, zeichnet sich jedoch ein erster Hoffnungsschimmer für eine politische Lösung ab. So ist eine Annäherung in der Syrienkrise zwischen dem Iran, Ägypten und der Türkei unter Einbeziehung von Russland und China festzustellen, die zu einer Beendigung der eskalierenden Gewalt auf diplomatischem Wege führen könnte, sofern dies nicht durch die USA blockiert wird.
LS: Was denken Sie über die helfende Hand, die der Bundesnachrichtendienst den Rebellen gibt?
GM: Die Bild-Zeitung hat enthüllt, dass Mitglieder des Bundesnachrichtendienstes, die auf Schiffen vor der libanesischen Küste und auf dem NATO-Stützpunkt in der Nähe von Adana stationiert sind, Erkenntnisse über die Bewegung der syrischen Regierungstruppen sammeln und diese Informationen mit der Freien Syrischen Armee teilen. [17] Das gleiche gilt für Agenten des britischen Geheimdienstes mit Sitz in Zypern und auch für die Aktivitäten der US-Geheimdienstagenten und Spionage-Satelliten.
Es ist offensichtlich, dass die deutsche Regierung ihre Lektion aus dem Verzicht auf die militärische Intervention in Libyen gelernt hat, der einen schweren Rückschlag in den politischen Beziehungen zu den NATO-Partnern verursachte und die Chancen deutscher Unternehmen verringerte, vom wirtschaftlichen Wiederaufbau des nordafrikanischen Landes zu profitieren. Dieses Mal spielt Deutschland nicht nur eine führende Rolle im Rahmen der EU-Entscheidungen für wirtschaftliche Sanktionen gegen Syrien, sondern auch bei der gemeinsamen Unterstützung der Westmächte für die syrische Opposition, einschließlich der Bereitstellung von Geheimdienstinformationen.
LS: Was ist Ihre Wahrnehmung der Rolle von Saudi-Arabien und Katar?
GM: Beide Länder stehen an der Spitze der Gegner des syrischen Regimes. Sie sind die wichtigsten finanziellen Unterstützer der syrischen Opposition, einschließlich der Finanzierung von Waffen für die Rebellen. Es gibt sogar Berichte von nicht-offengelegten Quellen in arabischen Medien, dass Saudi-Arabien bereit sein soll, die Kosten für eine umfassende militärische Intervention in Syrien durch die NATO zu tragen.
Warum ist diese konservative sunnitische Monarchie so begierig darauf, Bashar al-Assad zu verdrängen? Die wichtigsten Gründe betreffen die religiös motivierte Ablehnung der alawitischen Herrscher und der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Allianz zwischen Damaskus und der schiitischen Regierung in Teheran, die als große Bedrohung für die Mitgliedsstaaten des Golf-Kooperationsrates wahrgenommen wird.
Der Sturz des syrischen Regimes wäre ein schwerer Schlag für den politischen Einfluss des Iran im Nahen Osten. Die Regierung in Teheran wird beschuldigt, die schiitische Opposition in der ölreichen östlichen Provinz von Saudi-Arabien sowie in Kuwait, im Norden des Jemen und vor allem in Bahrain zu unterstützen. Hier konnte der Aufstand der schiitischen Mehrheit der Bevölkerung gegen die herrschende sunnitische Minderheit nur von Truppen aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterdrückt werden.
Die Entscheidung des katarischen Herrschers zur Unterstützung der syrischen Opposition beinhaltet neben der Bereitstellung von finanziellen Mitteln auch den Einsatz von Al Jazeera, um Propaganda-Nachrichten zu Gunsten der Rebellen zu verbreiten. In der Vergangenheit hatte der in Doha ansässige TV-Sender den Ruf des wichtigsten unabhängigen, objektiven und sehr kritischen Nachrichtensenders in der arabischen Welt gewonnen. Er spielte eine herausragende Rolle als die zuverlässigste Quelle von Informationen über die Revolutionen in Tunesien, Ägypten und Libyen.
Das positive Bild wurde erschüttert, als der Sender zu einer einseitigen Stimme für die Regierungspolitik Katars gegen Bashar al-Assad wurde und sogar gefälschte Nachrichten über das syrische Regime produzierte. So wurde unter anderem in einer auf YouTube veröffentlichten Video-Dokumentation gezeigt, wie ein Journalist von Al Jezeera einen Film inszenierte, der mit falschen Informationen die Brutalität des syrischen Regimes belegen sollte. [18]
LS: Und was ist mit der Türkei?
GM: Vor dem syrischen Aufstand waren die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sehr gut. Der Hauptkonflikt in der Vergangenheit wurde beigelegt, das heißt, dass die Türkei eine ausreichende Versorgung mit Euphrat-Wasser garantierte und die syrische Regierung die Unterstützung der kurdischen Arbeiterpartei stoppte. Während der frühen Phase des Arabischen Frühlings hatte die türkische Regierung den Aufstand in Tunesien, Ägypten und Libyen unterstützt, und Erdogans gemäßigter islamistischer Staat wurde als das ideale politische Modell für die post-revolutionären arabischen Staaten gefeiert.
Kurz nachdem die Unruhen in Syrien begannen und die Gewalt des Regimes gegen die Demonstranten zunahm, stellte sich die türkische Regierung auf die Seite der arabischen Golfstaaten und unterstützte die Opposition. Sie nahm Flüchtlinge auf und erlaubte anderen NATO-Staaten, die syrischen Kämpfer auf türkischem Territorium zu trainieren. [19] Diese Position geriet von der säkularen türkischen Opposition mehr und mehr unter Beschuss, die Erdogan vorwarf zu versuchen, eine islamistische sunnitische Regierung in Damaskus installieren zu wollen und die Regierung beschuldigte, das Leben von zwei türkischen Piloten geopfert zu haben, deren Kampfflugzeug abgeschossen worden war, als es in syrisches Gebiet eindrang, um die Effizienz der in Syrien zu testen.
Die ursprüngliche Unterstützung der Regierung durch die Mehrheit der türkischen Bevölkerung für einen demokratischen Wandel im Nachbarland schwindet. Zugleich wächst die Befürchtung, dass das Engagement Ankaras in der syrischen Krise negative Auswirkungen auf die nationale Sicherheit und Wirtschaft haben wird. Die drastische Zunahme der PKK-Anschläge in Ostanatolien und die gravierende Verschlechterung der Sicherheitslage in den alewitischen Siedlungsgebieten nahe den Lagern von sunnitischen Flüchtlingen bestätigen diese Befürchtungen. Der abnehmende Rückhalt in der türkischen Bevölkerung für die Regierungspolitik – nicht zuletzt auch durch die militärischen Aktivitäten ausländischer Truppen auf türkischem Gebiet – hat offenbar bereits zu einer Neuorientierung der Außenpolitik in Ankara geführt. Dies zeigt sich nicht nur in der Verlegung des Oberkommandos der Freien Syrischen Armee aus der Türkei in sogenannte „befreite Gebiete“ innerhalb Syriens, sondern auch in dem vorsichtigen Bemühen, mit Teheran und Kairo eine Verhandlungslösung anzustreben.
LS: Angesichts dieser Einflüsse, hat der Krieg in Syrien nicht aufgehört, ein Bürgerkrieg zu sein? Ist er nicht eigentlich zu einer kombinierten Operation äußerer Kräfte geworden?
GM: Es ist immer noch ein Bürgerkrieg, aber mit zunehmender Intervention aus dem Ausland. Viele politische Analysten verweisen in diesem Zusammenhang auf Stellvertreterkriege zwischen den USA und Russland sowie sunnitischen und schiitischen Staaten.
LS: Was erwarten Sie für den Fall, dass Assad gestürzt wird?
GM: Zunächst einmal ist das Regime noch an der Macht, und es ist eine offene Frage, ob es überhaupt gestürzt werden kann. Einige meiner arabischen Kollegen weisen darauf hin, dass die Unterstützung für das Regime sogar als eine Folge der jüngsten Gräueltaten von Rebellengruppen gewachsen ist.
Die meisten Anhänger von Assad sind keineswegs glücklich über das autoritäre politische System, aber sie haben Angst, dass ihre Situation noch viel schlimmer werden wird, wenn die Opposition an die Macht gelangt. Dies gilt nicht nur für Alawiten, die etwa 13% der Bevölkerung ausmachen und massive Rachemorde fürchten. Die mehr als 2 Millionen Mitglieder der verschiedenen christlichen Konfessionen und auch andere religiöse Minderheiten wie die Drusen und Ismailiten haben Angst davor, diskriminierte Bürger zweiter Klasse unter einer islamistischen sunnitischen Regierung zu werden.
Andere Anhänger des Regimes sind unter den Menschen zu finden, die bei staatlichen Stellen angestellt sind, sei es im Militär, in den Sicherheitsdiensten, in der Verwaltung und anderen öffentlichen Diensten. Der Bericht über einen Postboten, der von salafistischen Rebellen ermordet wurde, nur weil er sein Gehalt von der Regierung erhalten hat, [3] wird von vielen Beamten als ein abschreckendes Beispiel betrachtet, was ihnen passieren kann, wenn die Opposition die Kontrolle in Syrien übernimmt.
Aus regionaler Sicht stammen die Gegner des Regimes vor allem aus den ländlichen Gebieten. Die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung, die in der Landwirtschaft tätig ist, hat sich seit 2006 deutlich verschlechtert aufgrund der Liberalisierungspolitik, die auch auf Drängen der EU von der Regierung übernommen wurde und unter anderem den Verzicht von staatlichen Subventionen für landwirtschaftliche Produktionsmittel beinhaltete.
Darüber hinaus zerstörte eine fünf Jahre anhaltende Dürreperiode die wirtschaftliche Grundlage zahlreicher bäuerlicher Betriebe, sodass etwa 1,5 Millionen Menschen in die Städte abgewandert sind. Handwerker gehören ebenfalls zu den Verlierern der wirtschaftlichen Reformen, weil billige industrielle Einfuhren den syrischen Markt überschwemmten und zu einem Rückgang der Nachfrage nach ihren handwerklichen Produkten geführt haben. Dies erklärt beispielsweise, warum sich Duma, ein Vorort von Damaskus mit zahlreichen kleinen Werkstätten, in ein Zentrum des Widerstandes gegen die Regierung verwandelt hat. [20]
Auf der anderen Seite haben die Angehörigen der städtischen Mittelschicht, und hier insbesondere Händler und Unternehmer, erheblich von der Liberalisierung der Wirtschaft profitiert. Die Mehrheit von ihnen, die in Damaskus und in der Wirtschaftsmetropole Aleppo lebt, steht noch loyal zur Regierung. Dies wurde deutlich, als die Rebellen einige Quartiere in Aleppo besetzten. Sie erhielten nur Unterstützung von den Bewohnern der Vorstädte mit einer dominanten Bevölkerung ländlicher Zuwanderer. In den anderen Teilen der Stadt stießen die Rebellen auf Ablehnung und Feindseligkeit, während die Regierungstruppen herzlich als Retter vor den Eindringlingen begrüßt wurden.
.
Die etwa 2 Millionen Kurden im nördlichen Teil des Landes stellen eine weitere Gruppe dar, die eine entscheidende Rolle für die zukünftige Entwicklung von Syrien spielen wird. Derzeit haben sich die Regierungstruppen fast vollständig aus diesem Bereich zurückgezogen. Es gibt Forderungen nach einer künftigen autonomen oder zumindest semi-autonomen kurdischen Region, was sogar zu Schlägereien zwischen kurdischen und arabischen Vertretern der Opposition bei einer Konferenz in Kairo führte. [21] Allerdings ist die kurdische Bevölkerung in Syrien keineswegs geeint, sondern aufgeteilt in etwa ein Dutzend Gruppen mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen. Es ist auch unwahrscheinlich, dass die türkische Regierung eine solche teilweise unabhängige kurdische Region, die als Rückzugsgebiet für PKK-Kämpfer dienen könnte, tolerieren wird.
Ein weiteres Problem ist der “Arabische Gürtel” entlang der türkischen Grenze im Nordosten der ölreichen kurdischen Region. Hier wurden 43 Dörfer in den 1970er Jahren für mehr als 20.000 arabische Bewohner der ländlichen Siedlungen errichtet, die nach dem Bau des Euphrat-Damms durch den Stausee überflutet wurden. Das Land für diese neuen Dörfer war von kurdischen Großgrundbesitzern enteignet und den arabischen Siedlern übergeben worden.
Ich bin mit der Situation dieser arabischen Gemeinden vertraut, weil ich eine wissenschaftliche Untersuchung über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in allen Dörfern durchgeführt habe. [22] Die Zahl der Einwohner hat sich in der Zwischenzeit auf rund 100.000 Menschen erhöht, die jetzt mit kurdischen Forderungen nach der Rückgabe des Landes an die ehemaligen Eigentümer und sogar dem vollständigen Verlassen des Gebietes konfrontiert werden.
Ich habe versucht zu erklären, dass die oben genannten religiösen, sozio-ökonomischen und ethnischen Gruppen ganz unterschiedliche Erwartungen für die zukünftige Entwicklung von Syrien haben. Differenziert nach der politischen Ausrichtung, gibt es ein breites Spektrum von Gruppen, angefangen bei den Anhängern eines reformierten Assad-Regimes im Sinne einer säkularen Demokratie westlichen Stils, bis hin zu Kämpfern für einen sunnitisch dominierten Staat auf der Basis der Scharia, des islamischen Rechts. Das letztgenannte Modell verfügt aufgrund der massiven Unterstützung aus anderen arabischen Staaten und der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Syrer Sunniten sind, wahrscheinlich über die größten Realisierungschancen.
LS: Patrick Seale schrieb kürzlich in einer Tour d’horizon:
“Der Nahe Osten steht vor einer akuten Kriegsgefahr, mit unvorhersehbaren und möglicherweise verheerenden Folgen für die Staaten und Bevölkerungen der Region. Ein ‘Schatten-Krieg‘ wird bereits geführt – von Israel und den Vereinigten Staaten gegen den Iran, durch eine Koalition von Ländern gegen Syrien und durch die großen Mächte gegeneinander. Ein bloßer Funke könnte diesen Zunder in Brand setzen.“ [21]
Ist das wahr?
GM: Solch eine Initialzündung, die den gesamten Mittleren Osten in Brand steckt, könnte durch einen israelischen Angriff auf den Iran oder eine ausländische Militärintervention in Syrien wahr werden. Im ersten Fall ist von Irans Verbündeten Syrien und Hisbollah ein Angriff auf Israel zu erwarten. Im zweiten Fall wird der Iran seinen syrischen Verbündeten gemäß den Verträgen der gegenseitigen Unterstützung zwischen Teheran und Damaskus verteidigen. Auch Libanon, Jordanien und der Irak würden unmittelbar in diesen Krieg hineingezogen.
LS: Mr. Seale schrieb im selben Artikel auch: “Anstatt an der Seite der Vereinigten Staaten und Israels bei der Zerstörung von Iran und Syrien zu stehen, sollten Saudi-Arabien und seine Verbündeten am Golf dem Iran beim Aufbau eines neuen Sicherheitssystems für die Region frei von äußeren Einmischungen beitreten. Wenn sie gemeinsam handeln, können sie der Region die Verwüstungen des Krieges ersparen. Aber sie müssen schnell handeln, denn die Zeit läuft uns davon.“
Was ist Ihre Stellung dazu?
GM: Das ist eine sehr schöne Empfehlung, aber weit entfernt von der politischen Realität. Die Spannung zwischen Saudi-Arabien und Iran erscheinen vorerst als kaum überwindbar – nicht in erster Linie, weil die arabischen Monarchen den USA zur Seite stehen, sondern vor allem wegen der Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten. Dahinter verbirgt sich zugleich die Bedrohung für die Staaten des Golf-Kooperationsrates, dass der Arabische Frühling und die Idee einer Islamischen Republik sich auch auf der Arabischen Halbinsel verbreiten und zum Sturz der dortigen Monarchien führen könnten. Die einheimische Opposition und der Widerstand gegen das politische System sind besonders stark in Bahrain und sie nehmen vor allem in Saudi-Arabien zu. Daher kann die Konfrontation mit dem Iran sowie die Intervention in Syrien und in anderen Teilen der arabischen Welt auch als ein Kampf für das Überleben der herrschenden Familien auf der Arabischen Halbinsel angesehen werden.
LS: Wie könnte ein Krieg des Westens gegen den Iran verhindert werden?
GM: Wir reden hier über einen einseitigen israelischen Angriff gegen die Atomanlagen im Iran. Teheran hat stets erklärt, dass sein Atomprogramm friedlich ist. Im abschließenden Kommunique des jüngsten Gipfels der Bewegung der blockfreien Staaten bekräftigten die 120 Mitglieder ihre Unterstützung für Irans Anspruch, gemäß dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen das Recht auf friedliche Nutzung der Kernenergie sowie das Recht auf einen vollständigen nuklearen Brennstoffkreislauf, einschließlich der Urananreicherung, zu haben. [24]
Die Regierung in Teheran hat viele Male zur Zerstörung des jüdischen Staates aufgerufen. Daher betrachtet Israel eine Atommacht Iran als Bedrohung seiner Existenz. Rechtfertigt dies einen präventiven Militärschlag gegen den Iran? Laut der letzten Erklärung des israelischen Ministers für Geheimdienste sind beide Regierungen in Jerusalem und Washington zu dem Schluss gekommen, dass es 18 Monate bis zwei Jahre für den Iran erfordern würde, um eine Atomwaffe ab dem Zeitpunkt produzieren zu können, an dem die politische Entscheidung dazu getroffen werden würde. [25]
Um zu verhindern, dass Iran die notwendigen Teile erwerben kann, die zum Baubeginn einer Atombombe erforderlich sind, hat das israelische Militär alle notwendigen Vorbereitungen für einen Präventivschlag gegen Iran abgeschlossen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Ehud Barak sind die wichtigsten Befürworter eines Angriffs gegen die iranischen Anlagen – trotz massiver öffentlicher Warnungen von hochrangigen Mitgliedern des Militärs und der Geheimdienste in Israel sowie eines wachsenden politischen Drucks aus der US-Regierung. Dennoch setzte Netanyahu sein Säbelrasseln fort und versicherte seinen Anhängern, dass Präsident Obama die militärische Unterstützung gewähren würde, sobald ein israelischer Angriff begonnen habe.
Dass diese Erwartung nicht als selbstverständlich hingenommen werden sollte, wurde klar, als die Anzahl der beteiligten US-Truppen am gemeinsamen jährlichen Manöver zur Verteidigung Israels drastisch reduziert wurde und der Vorsitzende des US-Generalstabs, General Dempsey, in einem Interview erklärte, er werde bei einem israelischen Angriff kein “Komplize“ sein. Solch ein Angriff könnte Irans Atomprogramm nur verzögern und die internationale Koalition auseinanderbringen, die harte Sanktionen gegen die Islamische Republik durchgesetzt hat. [26]
Als Folge dieses öffentlichen Tadels und ähnlicher Kritik aus Paris und Berlin, veränderte Netanyahu seine Strategie und forderte, dass die USA Teheran bei den nuklearen Aktivitäten “rote Linien” setzen müsse, bei deren Verletzung des Land mit einem Krieg konfrontiert würde. Auch diese Forderung wurde sofort vom US-Verteidigungsminister abgelehnt. Netanyahus anschließender Versuch, den politischen Druck auf die Obama-Regierung zu erhöhen, gipfelte in der Behauptung, dass der Iran bereits innerhalb eines Zeitraums von nur sechs bis sieben Monaten in der Lage sein wird, Atomwaffen zu produzieren. Dies widerspricht den Erkenntnissen aller Geheimdienste und wird die Weigerung der US-Regierung nicht ändern, in einen neuen Golfkrieg hineingezogen zu werden. Unter diesen Umständen besteht keine unmittelbare Gefahr, dass Israel einen Angriff gegen den Iran durchführt – zumindest nicht vor der nächsten Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten. [27]
LS: Ist der Konflikt mit dem Iran auch ein Kampf im Zusammenhang mit Energiefragen und möglichen Öl- und Gas-Pipelines?
GM: Seit fast 70 Jahren ist die Kontrolle der ölreichen Golfregion eine Priorität für die US-Außenpolitik gewesen. Es begann im Jahr 1943, als Präsident Franklin D. Roosevelt eine Öl-für-Sicherheit-Beziehung mit König Abdel Aziz vereinbarte und erklärte, die Verteidigung von Saudi-Arabien sei von vitalem Interesse für die USA.
Im Jahr 1953 spielte die CIA eine führende Rolle beim Sturz der demokratisch gewählten Regierung von Mossadegh, der die iranische Ölindustrie verstaatlicht hatte. Mit US-Hilfe wurde so Mohammed Reza Schah Pahlavi wieder als Herrscher installiert. Er öffnete die Tür zur Ausbeutung der iranischen Ölvorkommen durch US-Unternehmen und wurde “der Polizist der USA in der Golfregion”, mit der mächtigsten Militärstreitmacht in der Region, die mit US-Waffen für mehr als US $ 20 Milliarden ausgerüstet war. Die islamische Revolution im Iran im Jahre 1979 war ein schwerer Schlag für die US-Dominanz in dieser Region und führte zur Feindschaft zwischen Teheran und Washington.
Die Besetzung Kuwaits durch Saddam Husseins Armee im Jahre 1990 bot eine einmalige Chance für die Vereinigten Staaten, ihre militärische Präsenz in der Region weiterauszubauen, um die übrigen arabischen Golfstaaten gegen die Gefahr der irakischen Aggression zu schützen und die Größe und Anzahl der amerikanischen Militärbasen in der Golfregion zu erhöhen. Die US-geführte Invasion des Irak unter dem Vorwand der Bekämpfung der Bedrohung durch Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen im Jahr 2003 basierte vollständig auf angeblichen Beweisen, die von der CIA gefälscht worden waren. [28]
Die Invasion verfolgte ausschließlich den Zweck, die geostrategischen Interessen der Neo-Konservativen in der George W. Bush-Regierung durchzusetzen, d.h. die US-Kontrolle über die irakischen Ölvorkommen sicherzustellen. Die Ausführung dieses Plans erwies sich als Fehlschlag. Nach großem Aufwand und nach etwa 4.000 getöteten Amerikanern und mehr als 100.000 Opfern unter der irakischen Zivilbevölkerung mussten die Vereinigten Staaten ihre militärische Präsenz im Irak vollständig aufgeben. Die die Beziehungen zwischen der schiitisch dominierten Regierung in Bagdad und Washington haben sich verschlechtert, während der Einfluss des Iran enorm gewachsen ist.
Unter diesen Umständen sind die steigenden Spannungen zwischen der Islamischen Republik Iran und den Golfmonarchien ein Segen für die geostrategischen Interessen der USA. Durch den Schutz der GCC-Staaten gegen die iranische Bedrohung kann die Obama-Regierung ihre militärische Präsenz in der ölreichen Region rechtfertigen, und die US-Rüstungskonzerne können hohe Profite durch den Verkauf von Waffen an die Golfstaaten erzielen. Die jüngsten Verträge über die Lieferung von F-15 Kampfjets an die saudi-arabische Luftwaffe haben eine Wert von $ 30 Mrd., die Vereinigten Arabischen Emirate kauften ein Anti-Raketen-System und Chinook-Hubschrauber für $ 4,5 Mrd. und Oman bestellte Kampfflugzeuge für $ 1,4 Milliarden. [29]
LS: Wie beurteilen Sie die Aktionen, die unlängst durch den ägyptischen Präsidenten Mohammed Morsi unternommen wurden, insbesondere im Zusammenhang mit seinen Besuchen in China und Iran? [30]
GM: Es ist sehr bezeichnend, dass Präsident Mohammed Morsi seinen ersten Besuch in einem Land außerhalb des Nahen Ostens nicht in Washington, sondern in Peking abstattete. Dies zeigt den Versuch, die ägyptische Außenpolitik aus der früheren Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten während der Regierungszeit von Präsident Mubarak herauszuführen. Der demonstrative Besuch wurde von der Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung und insbesondere von der Muslim-Bruderschaft begrüßt, deren Mitglieder nicht vergessen haben, dass die US-Regierung Mubaraks Politik der Verfolgung der islamischen Opposition unterstützt hatte, während der Zehntausende von Muslimbrüdern
eingesperrt und gefoltert wurden.
Das Streben nach größerer Unabhängigkeit wurde auch durch die Entscheidung Morsis unterstrichen, an der Konferenz der Blockfreien-Bewegung in Teheran teilzunehmen, und das trotz der Kritik und des politischen Drucks aus den USA und von Israel, die eine Isolation der Islamischen Republik forderten. Morsi nutzte seine Eröffnungsrede bei dieser Konferenz, um für ein Plädoyer zur Schaffung einer regionalen Gruppe, bestehend aus Ägypten, Iran, Saudi-Arabien und der Türkei, um eine Lösung für die Krise in Syrien zu finden. Dieser Vorschlag deckt sich keineswegs mit den US-Interessen gegenüber den Regimen in Damaskus und Teheran. Er muss als ein weiterer Schritt angesehen werden, mit dem Ägypten sein politisches Gewicht in der Region wiedererlangen will.
LS: Sehen Sie es als ein großes Problem an, so wie es David P Goldman unterstrichen hat, dass die ägyptische Bevölkerung wirtschaftlich hilflos ist, weil sie keine oder nur geringe Mittel der Produktion haben, um sich als Klientel der USA, Saudi-Arabien oder wen sonst noch zu emanzipieren? [31]
GM: Eine solche Aussage verfehlt völlig den Punkt, dass Ägypten sowohl aus wirtschaftlicher wie auch aus geostrategischer Sicht sehr viel zu bieten hat. Ägypten weist mit 82 Millionen Einwohnern die größte Bevölkerung in der arabischen Welt auf. Dies beinhaltet einen riesigen Absatzmarkt, der zusätzlich durch Überweisungen von Ägyptern im Ausland gestärkt wird. Das eingehende Geld von Migranten erreichte im vergangenen Jahr einen Rekord von $ 14,3 Milliarden, die hauptsächlich für private Konsumgüter ausgegeben werden und maßgeblich dazu beigetragen haben, den Rückgang der Devisenreserven im Jahr 2011 zu bremsen. [32]
Das größte arabische Land ist auch von enormer geostrategischer Bedeutung für die USA und Israel durch die Stabilisierung der politischen Situation in der Region auf der Grundlage des Camp David-Abkommens. Ägypten garantiert der US-Luftwaffe Überflugrechte und erlaubt die Nutzung des Suezkanals, einem wichtigen Transportweg für Öllieferungen, Containerschiffe und amerikanische Militärtransporte in die Golfregion. Im Gegenzug für diese Vorteile hat Washington bisher $ 1,56 Mrd. an jährlicher finanzieller Hilfe für seinen wichtigen Verbündeten gezahlt, was sich seit 1979 zu einem Gesamtbetrag von $ 65 Milliarden summiert. Der weitaus größte Teil dieser Gelder wurde verwendet, um Waffen von amerikanischen Rüstungsunternehmen zu kaufen. [33]
Die politische Arena ändert sich nun. Morsi lädt neue Wettbewerber ein, die die dominante amerikanische Position in Ägypten streitig machen. Sein Besuch in Peking diente in erster Linie dem Zweck der Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Bisher hat China etwa $ 500 Millionen investiert. Zusätzliche Verträge über umfangreiche Investitionen in Infrastrukturprojekte wurden während Morsis Besuch unterzeichnet. Im Jahr 2011 erreichten die chinesischen Warenausfuhren in dieses arabische Land $ 7,3 Milliarden und übertrafen damit die US-Exporte nach Ägypten in Höhe von $ 6,2 Milliarden. Einige Analysten stellen bereits die Frage, ob “China Ägypten von den USA kauft?” [34]
Um ihren Einfluss in Ägypten zu sichern, müssen die Vereinigten Staaten ihre finanzielle Unterstützung für Ägypten erhöhen. Die Ankündigung des Weißen Hauses, Kairo mit einem zusätzlichen Schuldenerlass von $ 1 Milliarde und wirtschaftlicher Hilfe zu versorgen, die Unterstützung für ein $ 4,8 Milliarden Kredit-Paket vom Internationalen Währungsfonds und die Ankunft einer großen US-Delegation, darunter sechs Repräsentanten des Handelsministeriums und Vertreter Dutzender von multinationalen Unternehmen, zeigen recht deutlich, welche Bedeutung die US-Regierung und die privaten Wirtschaftsakteure Ägypten beimessen. [35]
Zur gleichen Zeit konkurrieren auch Katar und Saudi-Arabien darum, ihren Einfluss in Ägypten zu erhöhen. Dies begann bei der Kampagne zur ersten freien Parlamentswahl nach der ägyptischen Revolution, als Katar die Muslimbruderschaft unterstützte, während Saudi-Arabien den Salafisten erhebliche Wahlkampfmittel zu Vergüng stellte. Nach dem Sieg der Muslimbrüder sowohl in den Parlaments- als auch in der Präsidentschaftswahl ist es keine Überraschung, dass die katarischen Herrscher sich weiterhin als äußerst großzügig bei der Unterstützung für Morsis-Regierung zeigen. Dies wird durch die Ankündigung unterstrichen, dass $ 18 Mrd. in Tourismus- und Industrie-Projekte in den nächsten fünf Jahren investiert werden. Saudi-Arabien zieht nach. [36]
Golf-Unternehmen und Investmentbanken, die von den hohen Ölpreisen profitieren, stehen ebenfalls Schlange, um in Ägypten zu investieren. Dies gilt insbesondere für den Bankensektor, in dem die europäischen Banken ihre ägyptischen Anteile verkaufen, um die Bankenkrise zu Hause zu bewältigen. [37]
Es ist offensichtlich, dass der Rückgang der Post-Revolutions-Wirtschaft in Ägypten seinen Wendepunkt erreicht hat. Die wirtschaftlichen Aussichten verbessern sich rasch. Ob sich diese positive Entwicklung fortsetzen wird und eine ausreichende Anzahl von dringend benötigten neuen Arbeitsplätzen bringt, hängt von der politischen Stabilität, der Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und der erfolgreichen Durchführung von Strukturreformen der Wirtschaft ab.
LS: Was sind die politischen Implikationen der gewaltsamen Proteste gegen den Anti-Islam-Film für die Beziehungen zwischen Ägypten und den USA?
GM: Nach dem Angriff auf die US-Botschaft in Kairo verurteilte der ägyptische Präsident nur den beleidigenden Film und fügte eine allgemeine Aussage hinzu, dass die ausländischen diplomatischen Missionen geschützt werden müssen. Durch die Vermeidung einer Verurteilung der gewaltsamen anti-amerikanischen Proteste versuchte Morsi offensichtlich, seine heimische Allianz mit den ultrakonservativen Salafisten nicht in Gefahr zu bringen. Allerdings verursachte dieses Verhalten eine harsche Reaktion von Präsident Obama, der Ägypten „weder einen Verbündeten, noch einen Feind der Vereinigten Staaten“ nannte. Obwohl ein Sprecher des Weißen Hauses später erklärte, dass sich der Status von Ägypten nicht geändert habe in Bezug auf die besonderen Privilegien des Landes bei der Zusammenarbeit mit den USA, haben sich dennoch die Beziehung zwischen den beiden Staaten verschlechtert. Dies wird auch durch das Aussetzen der Verhandlungen über den Schuldenerlass und weitere finanzielle Hilfen aus Washington unterstrichen.
Die anti-amerikanischen Proteste in vielen arabischen Ländern und vor allem der Tod des amerikanischen Botschafters in Libyen könnte auch die US-Unterstützung für die Opposition in Syrien ernsthaft beeinträchtigen. Laut Berichten arabischer Medien besteht eine weit verbreitete Angst unter den Mitgliedern der syrischen oppositionellen Gruppen, dass der tödliche Angriff militanter Islamisten auf die Botschaft in Benghazi als Modell für die Entwicklung in Syrien nach dem Sturz des alawitischen Regimes betrachtet wird. Dies könnte zu einer Neuorientierung der US-Politik und einer Einstellung der amerikanischen Unterstützung für die oppositionellen Kräfte führen.
LS: Zum Schluss die klassische Frage: Wer bezieht die meisten Vorteile aus dem, was in Syrien und darüber hinaus passiert?
GM: Bisher sind Israel und die USA die größten Gewinner. Die Regierung in Jerusalem konnte erhebliche Unterstützung für ihren Kampf gegen den Iran aus Washington und den europäischen Hauptstädten erhalten. Dies gilt nicht für die militärische Intervention, die von Netanyahu und Barak gefordert wird, aber in Bezug auf eine beträchtlich Verstärkung der Sanktionen gegen Teheran, die zu immer mehr gravierenden Problemen für die wirtschaftliche Entwicklung des Iran führen. Zugleich haben die Unruhen im Rahmen des arabischen Frühlings und vor allem die Eskalation der Gewalt in Syrien der israelischen Regierung ermöglicht, dass sie ihre jüngste massive Siedlungsausweitung in den besetzten Gebieten weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit durchführen konnte.
Die USA profitiert von der wachsenden Abhängigkeit der GCC-Staaten von militärischem Schutz durch US-Truppen sowie einem Rekordumsatz von Waffen durch die Waffen-Hersteller in den Vereinigten Staaten, wo Zehntausende von neuen Arbeitsplätzen geschaffen und Hunderttausende von alten Arbeitsplätzen gesichert werden.
[«1] Jürgen Todenhofer: Mein Treffen mit Assad, Bild, 9 July 2012.
[«2] Viktor Reznov: ANNA News Journalist Marat Musin about Houla Massacre, Syria News, 31 May 2012; also Rainer Hermann: Syrien. Eine Ausloschung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13 June 2012.
[«3] Robert Fisk: Syria’s Pipelineistan War, Al Jazeera, 6 August 2012.
[«4]
[«5] Tamsin Carlisle, Thomas Seibert: Qatar Seeks Gas Pipeline to Turkey, The National, 26 August 2009.
[«6] Roula Khalaf, Abeer Allam: Assad Intensifies Cyberwar against Qatar, Financial Times, 24 April 2012.
[«7] Osama Habig: Lebanon’s offshore gas likely exceeds Cyprus, Syria, Daily Star, 7 September 2012.
[«8] Remarks by Senator John McCain on the situation in Syria on the floor of the US Senate, 5 March 2012.
[«9] Pepe Escobar: Realpolitik blurs US red line in Syria, Asia Times Onlline, 24 August 2012.
[«10] Brian T Haggerty: Safe havens in Syria: missions and requirements for an air campaign [PDF – 1.2 MB], SSP Working Paper, July 2012, also Daniel Trombly: The cost of a Syrian intervention, US Naval Institute, 22 August 2012.
[«11] Ed Husain: al-Qaeda’s specter in Syria, Council on Foreign Relations, 6 August 2012.
[«12] Alexander Marquardt: Syrian helicopter appears to be shot down by rebels, abc-News, 27 August 2012.
[«13] Obama warns Syria chemical weapons use may spark US action, BBC, 21 August 2012.
[«14] Paul Joseph Watson: NATO plot to use ambulances as cover for humanitarian invasion of-Syria, Infowars, 29 August 2012.
[«15] Ismail Salami: West Throttling Syria, Tightening Noose, Media Monitors Network, 20 August 2012.
[«16] The Day After: The day after project: supporting a democratic transition in Syria [PDF – 1.2 MB], August 2012.
[«17] German Spy Ship Aiding Syrian Rebels, Deutsche Welte, 20 August 2012.
[«18] Unravelling media scandal: Al Jazeera exodus: Channel losing statt over bias, Global Research, 13 March 2012; also Al Jazeera proxy for war hungry forces fuelling Syrian conflict, Russia Today.
[«19] Murat Yetkin: The Syrian war becomes a Turkish political issue, Hurriyet, 28 August 2012.
[«20] Jurgen Wagner: Imperialer Neolliberalismus: Syrien und die Europaische Nachbarschaftspolitik [PDF – 376 KB], IMI-Studie 12, 13 August 2012.
[«21] Fights break out at Syria opposition meet; Kurds walk out in protest over nationality, Al Arabiyya News, 3 July 2012.
[«22] Günter Meyer: Die Umsiedlung der Bevölkerung aus dem Überflutungsbereich des Assad-Sees, Erlanger Geographische Arbeiten, Sonderband 16, 1984, p. 25-86, 299-301.
[«23] Patrick Seale: The urgent need to prevent a Middle East war, agence global, 14 August 2012.
[«24] Dilip Hiro: Non-Aligned summit belies isolation of Iran, Yale Global, 4 September 2012.
[«25] IAEA Report: Iran doubled number of centrifuges between May and August, Media Line MidEast Daily, 2 September 2012.
[«26] Israel under international pressure not to attack Iran alone, Reuters, 31 August 2012.
[«27] Israel shift on Iran after US ‘no’, Gulf Times, 5 September 2012.
[«28] Jeremy R. Hammond: The lies that led to the Iraq War and the persistent myth of ‘intelligence failure’, Foreign Policy Journal, 8 September 2012.
[«29] Mark Landler and Steven Lee Myers: With 30 billion arms deal, US bolsters Saudi ties, New York Times, 29 December 2011.
[«30] M. K. Bhadrakumar: Egypt thumbs the nose at US, Asia Times Online, 21 August 2012.
[«31] David P. Goldman: When will Egypt go broke?, Asia Times Online, 12 July 2011.
[«32] Jamie Collinson: Egyptian remittances peaked in 2011, microDinero, 18 August 2012.
[«33] Egyptian blase about US threat to cut aid, The Media Line, 23 August 2012.
[«34] Erin Cunningham: Is China ‘buying’ Egypt from the US?, Global Post, 6 September 2012.
[«35] Borzou Daragahi: Egypt’s consumer and investor confidence on the rise, Washington Post, 6 September 2012.
[«36] Qatar to invest $ 18bn in Egypt, Gulf Times, 7 September 2012.
[«37] Brian Wingfield and Nicole Gaouette: Mariott joins Boeing seeking trade assurance on trip to Egypt, Bloomberg Businessweek, 6 September 2012.