Agenda 2020: Das Schüren von Ängsten als Mittel, die Agenda 2010 voranzutreiben
Nachdem die verelendende Schock-Therapie für die südeuropäischen Länder inzwischen die Hoheit an den Stammtischen gewonnen hat, wird nun die Angst vor den „zwei- bis dreistelligen Milliardenlasten, die auf den deutschen Steuerzahler zukommen“ geschürt und nicht nur von den Griechen sondern auch von den Deutschen verlangt, „die notwendigen Anstrengungen zu unternehmen“ um „endlich für eine nachhaltige Sanierung der eigenen Staatsfinanzen zu sorgen“, um „Staat und Wirtschaft fit für die Zukunft zu machen“. Die Haftung der Steuerzahler für das Versagen der Politik und der Finanzwirtschaft wird von den Propaganda-Bataillonen der Konservativen unter den Teppich gekehrt und zur Rettung aus der Krise „ein reformpolitischer Neustart“, eine „Agenda 2020“ gefordert. Von Wolfgang Lieb.
Die erzkonservative „Welt am Sonntag“, für die selbst die schwarz-gelbe Regierung viel zu lasch agiert, hat schon mal die Vorschläge der neoliberalen Propaganda-Agenturen in fünfzehn „Spar- und Reformvorschläge“ zusammengefasst. Eine „Agenda 2020“ müsse dringend in Angriff genommen werden müssten, „dass wir nicht zurückfallen und das verschenken, was wir uns mühsam erarbeitet haben“. Vom Institut der deutschen Wirtschaft, über den IWF, dem inzwischen privaten Versicherungsberater, Bert Rürup, dem Sachverständigenrat, dem von der Post gesponserten IZA , der OECD bis hin zu Wolfgang Clement sind in dieser „Agenda 2020“ die „Reform“-Vorschläge der üblichen Verdächtigen zusammengeklaubt.
Das Prinzip dieser „Reformen“ ist schlicht:
Die Dosis der Rezeptur, die die Umverteilung von unten nach oben vorangetrieben und die Spaltung in Arm und Reich vertieft hat, die Lohn- und Steuerdumping ermöglicht hat, prekäre Arbeit zur Normalität werden ließ und den Abbau des Sozialstaat forciert hat, soll einmal mehr erhöht werden.
Die von der neoliberalen Droge Abhängigen verlangen mehr vom gleichen „Stoff“:
- Steuersystem: Abschaffung der Gewerbesteuer, die Mehrwertsteuer und die Einkommensteuer müssten vereinfacht. Schon die Debatte über Transaktionssteuern, Vermögensabgaben oder die Reichensteuer schade „dem Wirtschaftsstandort Deutschland“.
Anmerkung: Der Unternehmenssteuersenkungswahn soll also weiter vorangetrieben und die Steuern für die Masse der Bevölkerung sollen erhöht werden. Jede Besteuerung der explodierenden Spitzeneinkommen oder der exorbitant angestiegenen Vermögen oder des schnellen Geldes im Finanzkasino gilt natürlich als Gift für den „Wirtschaftsstandort“. Unter „Wirtschaft“ wird offenbar nur noch die Erhöhung der Profite und der Boni der Manager und die Zunahme des Reichtums von einigen Wenigen verstanden.
- Altersgrenze: Die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 könne nur ein Anfang sein. Die Altersgrenze müsse regelmäßig der steigenden Lebenserwartung angepasst werden; am besten wäre es, die „starre Altersgrenze“ einfach ganz abzuschaffen. Selbst Clements Vorschlag, dass auch 80-Jährige noch arbeiten sollten, wird ins Gespräch gebracht. Damit könnten die Alten ihre Rentenansprüche kräftig aufbessern und Altersarmut verhindert werden. Der Sozialstaat wäre entlastet.
Anmerkung: Die perfekte Lösung wäre doch, die Rente erst ab Ableben, dann könnte man sich die Rentenversicherung gleich ganz ersparen. Man müsste dann allerdings noch die private Altersvorsorge zur gesetzlichen Pflicht machen, damit würde man das Subventionsprogramm für die Finanzwirtschaft „optimieren“.
- Einwanderung: Die Zuwanderung müsse gezielt nach dem Bedarf des Arbeitsmarkts gesteuert werden. Ausländische Universitätsabsolventen müssten zum Bleiben motiviert werden.
Anmerkung: Das ohnehin schon ausgehöhlte und durch die europäische Überwachungs-Union namens „Frontex“ leerlaufende Grundrecht auf Asyl sollte wohl am besten ersetzt werden, durch ein Anwerberecht, das für eine Reservearmee von Arbeitskräften sorgt, um dann durch das Überangebot an Arbeitnehmern die Löhne im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit weiter zu senken.
- Hartz IV: Senkung des Hartz-IV-Satzes für erwerbsfähige Leistungsbezieher um 30 Prozent. Wer keinen Job auf dem regulären Arbeitsmarkt findet, dem müsse der Staat eine „Arbeitsgelegenheit“ bieten. Und natürlich darf die Forderung nach einem Kombilohn nicht fehlen.
Anmerkung: Das selbst vom Bundesverfassungsgericht geforderte „Existenzminimum“ kann also locker um 30 Prozent unterschritten werden. Wer keinen Job findet, wird einfach zur Zwangsarbeit („Workfare“) in „Arbeitsgelegenheiten“ herangezogen. Und der Idealfall für die Wirtschaft ist natürlich der Kombilohn, das heißt der (durch Steuersenkungen ausgeblutete) Staat bezahlt die Löhne.
- Ausgabenbremse: Die Schuldenbremse ist nicht genug. Sie beinhalte die Gefahr, dass die Politiker die Einnahmen (Steuern) erhöhten. Deshalb komme aus der hiesigen Industrie der Vorschlag eine „Staatsbremse“ einzuführen, wonach jede Mehrausgabe an anderer Stelle durch eine Minderausgabe zu decken wäre.
Anmerkung: Die ohnehin nahezu jede staatliche Konjunktur- und Beschäftigungspolitik blockierende „Schuldenbremse“ soll also noch durch eine „Staatsbremse“ in der Verfassung verschärft werden.
„Staatsbremse“ ist immerhin (noch) eine ungeschminkte Umschreibung dessen, was gemeint ist: Nämlich den Staat vollends auszubremsen. „Starve the beast“ (Hungert den Staat aus) war schon der Schlachtruf der Reagonomics und des Thatcherismus. Da auch der Staat von der Inflation betroffen ist, bedeutet allein dies einen weiteren kontinuierlichen Abbau des Sozialstaats und vor allem bedeutet die „Staatsbremse“ einen absoluten Schutz vor einer gerechteren steuerlichen Heranziehung der Gewinner der Finanzkrise. - Kündigungsschutz: Streichung des gesetzlichen Kündigungsschutzes. Ersatz durch ein Abfindungsmodell
Anmerkung: Dass jeder zweite neu abgeschlossene Arbeitsvertrag nur noch zeitlich befristet ist, dass die Zahl der Leiharbeiter, die jederzeit wieder vor die Tür gesetzt werden können, auf knapp eine Million gestiegen ist, dass die Kündigungszeiten verkürzt und Kündigungsverfahren erleichtert wurden, das alles ist nicht genug. Dem Prinzip „hire and fire“ soll endgültig zum Durchbruch verholfen werden.
Bei einem Abfindungsmodell könnten dann Kündigungen endlich ohne Rücksicht auf soziale Auswahlkriterien ausgesprochen werden. - Familien: Kindergeld, Ehegattensplitting etc. auf den Prüfstand.
Anmerkung: Interessant ist nur, dass die Interessenvertreter der Groß-Wirtschaft das Elterngeld und das Betreuungsgeld in Frage stellen. Nichts gegen Frauenerwerbstätigkeit, aber wo – außer bei der Forderung an den Staat nach einem „umfassenden Betreuungsangebot“ – bleiben die Forderungen nach gleicher Bezahlung von Mann und Frau, nach gleichen Aufstiegschancen, nach konkreten Angeboten zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Es geht ausschließlich um Kürzungen bei der staatlichen Familienförderung. Wenn überhaupt, sind Frauen bestenfalls als Lückenbüßer für den Fachkräftemangel erwünscht, als Teilzeitkraft oder auf den beruflichen Bedarfsfeldern in schlecht bezahlten Pflegeberufen im Krankenhaus oder im Altersheim.
- Bildung: Arbeitnehmer müssen flexibel sein
Anmerkung: Die berufliche Weiterbildung liegt nach diesen Vorstellungen natürlich ausschließlich im Verantwortungsbereich der Arbeitnehmer selbst. Wer nicht sein Leben lang flexibel und anpassungsfähig ist, ist selbst schuld, wenn er auf der Strecke bleibt.
- Pflege: Pflicht zur zusätzlichen kapitalgedeckten Pflegeversicherung
Anmerkung: Der bisher (noch) freiwillige „Pflege-Bahr“ ist, nach dem Flop der Riester-Rente nicht genug. Die „Lohnnebenkosten“, d.h. die Arbeitskosten für die Unternehmen müssen weiter gesenkt werden, die Beiträge für die gesetzliche Pflegesicherung bloß nicht erhöht werden.
- Gesundheit: „Kopfprämie“, mehr Eigenbeteiligung bei den Gesundheitskosten.
Anmerkung: Mit der einkommensunabhängigen „Kopfprämie“ für die Krankenversicherung (also für alle den gleichen Beitragssatz) würden die oberen Einkommen weiter entlastet und die Umverteilung von unten nach oben vorangetrieben. Die bisherigen Leistungseinschränkungen bei Medikamenten und Behandlungsmethoden oder beim Zahnersatz, die Praxisgebühr, die Zuzahlung bei Medikamenten, die durch die „Gesundheitsreform“ eingeführten Zuschläge zur Krankenversicherung, alle diese Abwälzungen auf den Rücken der Patienten sind also noch nicht genug.
- Freiberufler: Deregulierung der Honorarordnungen für Freiberufler. Apotheken oder Notariate als Aktiengesellschaften
Anmerkung: Was den Banken recht, soll den Freiberuflern nur billig sein. Der Deregulierungswahn soll weitergehen.
- Bundesländer: Fusion kleinerer Länder mit größeren Nachbarländern. Neuregelung der Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
Anmerkung: Nachdem inzwischen der Systemwechsel vom „kooperativen Föderalismus“ zum „Wettbewerbsföderalismus“ etwa im Bildungswesen erkennbar gescheitert ist und schon wieder an eine Aufhebung des „Kooperationsverbotes“ im Grundgesetz nachgedacht wird, wollen die Hardliner des Wettbewerbsdenkens zwischen den staatlichen Ebenen den „Wettbewerb“ sogar noch verschärfen und das Chaos in Deutschland noch erhöhen und zudem die Ungleichheit der Lebensverhältnisse vorantreiben.
- Energie: Energiewende mittels marktwirtschaftlicher Prinzipien. Vom „planwirtschaftlichen System des Erneuerbare-Energien-Gesetz abrücken.
Anmerkung: Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass die Energieoligopole weiter die zukünftige Energiepolitik bestimmen und die Markteinführung erneuerbarer Energien zugunsten der fossilen Energieträger oder gar der Verlängerung der Laufzeiten für die Atomkraftwerke gestoppt werden soll.
- Bürokratie: Bürokratieabbau. Eine zentrale Kommission, die nach Regeln sucht, die Unternehmen gängeln.
Anmerkung: Wieder einmal ist „Deregulierung“ das Allheilmittel. Was hat eigentlich der Europabeauftragte für den Bürokratieabbau in Europa, der gewiss konservative Edmund Stoiber (CSU), bisher vorgeschlagen. Niemand ist für Bürokratie, doch wenn es konkret um Bürokratieabbau geht, muss man immer wieder feststellen, dass die größten Bürokraten, die Lobbyisten der verschiedensten Unternehmenszweige sind.
- Privatisierung: Es sei Zeit für einen neuen Privatisierungsschub: Börsengang der „Beamtenbahn“, Nahverkehr, Wasserversorgung, Müllabfuhr können besser von Privaten erledigt werden.
Anmerkung: Nun soll also der absurde Börsengang der Bahn, der zum Glück durch die Finanzkrise gestoppt wurde, wieder angestoßen werden, obwohl in anderen Ländern, wie Neuseeland oder England schlechte Erfahrungen gemacht wurden und die Öffentliche Hand sich genötigt sah, die Privatisierung (zumindest teilweise) wieder rückgängig zu machen. Auch bei der Wasserversorgung (Berlin) oder bei der Müllabfuhr hat die Privatisierung nur dazu geführt, dass die Preise dramatisch gestiegen und die Versorgung schlechter geworden ist. Die einzigen, die einen Vorteil hatten, waren diejenigen, die an der Privatisierung verdient haben.
Es gehört schon ein unglaubliches Maß an Ignoranz dazu, dass die Ideologen des Neoliberalismus bei uns in Deutschland nun schon seit dem Lambsdorff-Papier vor nunmehr genau 30 Jahren nichts dazu gelernt haben, und das sich in der gegenwärtigen dramatischen Krise ausdrückende Scheitern ihrer Ideologie nur dadurch zu bekämpfen versuchen, dass sie eine Erhöhung der Dosis ihrer Rezeptur fordern.
Als Antwort, der gerade durch ihre Ideologie der Deregulierung und der Marktgläubigkeit verursachten Krise, verlangen sie nur eine weitere Verschärfung des Austeritätsregimes.
Sie haben nichts anzubieten, wie sich der „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard) erhöhen könnte, deshalb müssen sie mit geradezu mafiösen Methoden, nämlich mit Einschüchterung und der Verbreitung von Ängsten arbeiten, um der großen Mehrheit in der Bevölkerung ihre bittere Medizin aufzuzwingen. Solange die Bürgerinnen und Bürger sich einschüchtern lassen und sich nicht kollektiv dagegen stellen, werden die Politik und die Medien weiter die Erfüllungsgehilfen dieser „Paten“ bleiben.