Ein weiterer Tabubruch: Bundesverfassungsgericht lässt den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu
Die strikte Trennung von innerer Gefahrenabwehr durch die Polizei und äußerer Gefahrenabwehr durch das Militär war eine bewusste Reaktion der Väter (und Mütter) des Grundgesetzes auf den offenen oder verdeckten Einsatz der Reichswehr im Innern in der Weimarer Republik. Diese Trennung wurde zwar schon mit der Notstandsgesetzgebung im Jahre 1968 gelockert (Einfügung des Art. 87a Abs. 4 GG). Dennoch blieb es bei einer strikten Unterscheidung bei der Regelung des Katastrophen-Notstandes und des Staats-Notstandes. Kampfeinsätze der Bundeswehr im Innern, die auf die Vernichtung des Gegners gerichtet sind, blieben prinzipiell ausgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht weicht nun mit seiner heutigen Entscheidung die bisherige Trennung von Polizei und Militär weiter auf.
Die Regelungen für den Katastrophenschutz nach Art. 35 Abs. 2 und 3 GG, ließen bisher – auch nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtes – den Einsatz der Streitkräfte im Innern mit militärischer Waffengewalt nicht zu. Die 16 Richter des Plenums haben nun entschieden, dass die „Verwendung spezifischer militärischen Waffen bei Einsätzen der Streitkräfte nach diesen Vorschriften nicht grundsätzlich“ ausgeschlossen ist. Damit ist ein fundamentales Prinzip unserer Verfassung – unter Umgehung einer Verfassungsänderung durch den Gesetzgeber – durchbrochen. Wenn auch in engen Grenzen, ist damit die Tür für eine weitere Militarisierung im Innern aufgestoßen. Von Wolfgang Lieb
Ich kann mich dem Minderheitsvotum des Verfassungsrichters Reinhard Gaier nur anschließen:
„Der Versuch der weiteren Eingrenzung des bewaffneten Streitkräfteeinsatzes (durch die Mehrheitsmeinung des Plenums (WL)) durch das Erfordernis eines „unmittelbar bevorstehenden“ Schadenseintritts „von katastrophischen Dimensionen“ wird der nötigen Klarheit und Berechenbarkeit nicht gerecht. Es handelt sich um gänzlich unbestimmte, gerichtlich kaum effektiv kontrollierbare Kategorien, die in der täglichen Anwendungspraxis – etwa bei regierungskritischen Großdemonstrationen – viel Spielraum für subjektive Einschätzungen, wenn nicht gar voreilige Prognosen lassen. Das ist jedenfalls bei Inlandseinsätzen militärisch bewaffneter Streitkräfte nicht hinnehmbar.
Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen.“
Das Gericht umgeht die engen Voraussetzungen für einen „inneren Notstand“ nach Art. 87 a GG (also der Bekämpfung eines „organisierten und militärisch bewaffneten Aufstands“) und lässt einen Militäreinsatz im Rahmen der weniger strengen Voraussetzungen des sog. Katastrophennotstandes (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG) zu.
Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts durchbricht mit dieser Entscheidung ein Tabu, das bislang noch nicht einmal vom Parlament zu durchbrechen gewagt worden ist. Eine entsprechende Verfassungsänderung, die den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Katastrophenfall zulassen würde, fände – jedenfalls derzeit – wohl keine verfassungsändernde Mehrheit im Bundestag. Die 16 Richter des Plenums haben die verfassungsrechtlich gebotene Zweidrittel-Mehrheit zur Änderung der Verfassung schlicht durch eine über den Wortlaut des Grundgesetzes hinausgehende Interpretation ersetzt. Dabei wurde die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes ad acta gelegt.
Zwar soll der Einsatz bewaffneter Truppen im Innern „ultima ratio“ bleiben, doch wir haben erfahren müssen, dass auch bei Militäreinsätzen im Ausland diese „ultima ratio“ des kriegerischen Einsatzes der Bundeswehr mehr und mehr zu einem „rationalen Instrument der Außenpolitik“, nämlich zur Sicherung von Wirtschaftsinteressen umgedeutet worden ist.
Man stelle sich nur einmal vor, es käme wirklich zu einem Finanz-Crash in der Euro-Zone und die deutsche Bevölkerung würde sich auf den Straßen gegen den Katastrophen-Kurs der Bundesregierung unbewaffnet, aber mit mächtigen, womöglich aggressiven Demonstrationen zur Wehr setzen. Würde dann nicht auch bei uns, wie schon in Spanien über eine veränderte deutsche Sicherheitsdoktrin nachgedacht?
Als 1968 die Notstandsverfassung ins Grundgesetz eingefügt worden ist, gingen Millionen auf die Straße. Dass das Bundesverfassungsgericht diese Notstandsgesetze – entgegen dem, was man selbst damals für politisch durchsetzbar hielt – noch weiter ausdehnt und den Einsatz spezifischer militärischer Waffen beim Einsatz der Streitkräfte im Innern nicht mehr schlechthin ausschließt, stößt leider auf keinen allgemeinen Aufschrei mehr – zu sehr haben wir uns offenbar schon an die zunehmende Militarisierung bei der Lösung äußerer und nun auch innerer Konflikte gewöhnt. Statt über diesen schleichenden Verfassungsbruch regen sich die deutschen Medien lieber über den Prozess gegen die Punkrock-Band „Pussy Riot“ in Russland auf.
Nach dieser Entscheidung ist nicht mehr sicher gestellt, „dass Streitkräfte niemals als innenpolitisches Machtinstrument eingesetzt werden“ (Sondervotum Gaier).
Der Kampf um eine grundlegende Alternative zur herrschenden Politik steht künftig „im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen“.
Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts:
„Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG schließen die Verwendung spezifisch militärischer Waffen bei Einsätzen der Streitkräfte nach diesen Vorschriften nicht grundsätzlich aus, lassen sie aber nur unter engen Voraussetzungen zu, die insbesondere sicherstellen, dass nicht die strikten Begrenzungen unterlaufen werden, die einem bewaffneten Einsatz der Streitkräfte im Inneren durch Art. 87a Abs. 4 GG gesetzt sind…
Der Einsatz der Streitkräfte als solcher wie auch der Einsatz spezifisch militärischer Kampfmittel kommt allerdings nur unter engen Voraussetzungen in Betracht. Insbesondere sind die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 87a Abs. 4 GG zu berücksichtigen, der vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen den Einsatz der Streitkräfte zur Bewältigung innerer Auseinandersetzungen besonders strengen Beschränkungen unterwirft…
Auf der Grundlage von Art. 35 Abs. 2 und 3 GG können Streitkräfte daher nur in Ausnahmesituationen eingesetzt werden, die nicht von der in Art. 87a Abs. 4 GG geregelten Art sind. So stellen namentlich Gefahren für Menschen und Sachen, die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen, keinen besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Art. 35 GG dar. Denn nach Art. 87a Abs. 4 Satz 1 GG dürfen selbst zur Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer Streitkräfte auch dann, wenn das betreffende Land zur Bekämpfung der Gefahr nicht bereit oder in der Lage ist, nur unter der Voraussetzung eingesetzt werden, dass Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes besteht…
Der Einsatz der Streitkräfte wie der Einsatz spezifisch militärischer Abwehrmittel ist zudem auch in einer solchen Gefahrenlage nur als ultima ratio zulässig.“