Sozialstaat ist mehr als Sozialtransfer
Dieser kurze Beitrag geht auf die Anregung einer Leserin der NachDenkSeiten zurück. Nach der Lektüre von „Der falsche Präsident“ merkt sie an:
„Sie schreiben, Joachim Gauch verstehe unter Sozialstaat wohl nur Transferleistungen, und wahrscheinlich werden Sie da recht haben. Es ist mein Eindruck, dass das allerdings nicht nur Joachim Gauck so geht. Aus meinem unmittelbaren Umfeld meine ich solche Vorstellungen auch zu kennen. … Es wäre vielleicht wichtig und hilfreich, dem Sozialstaat, genau diesem Begriff, eine aufklärende Schrift zu widmen.“
Ich will es versuchen. Von Albrecht Müller
Es ist auch mein Eindruck, dass viele Menschen beim Begriff Sozialstaat und Sozialstaatlichkeit vor allem an Transfers staatlicher Leistungen an Hilfsbedürftige, Arme, an Menschen in Not denken. Das ist ein wichtiger Teil von Sozialstaatlichkeit, ein Anliegen übrigens, das in der neueren Zeit ziemlich mit Füßen getreten, vernachlässigt wird.
Das Versprechen des Grundgesetzes zur Sozialstaatlichkeit meint neben der erwähnten Hilfe für Menschen in Not und für solche, die nicht selbst für sich sorgen können, vieles und vieles vernünftiges mehr:
- Die solidarische Organisation der sozialen Sicherungssysteme
- Die gute und ausreichende Versorgung mit öffentlichen Leistungen
- Eine Steuerpolitik, die die Ungerechtigkeiten der primären Einkommensverteilung korrigiert.
- Demokratische Verhältnisse
- Die solidarische Organisation der sozialen Sicherungssysteme
Die Absicherung der allgemeinen und bei nahezu jeder und jedem eintretenden Risiken des Altwerdens, des Krankwerdens, des Pflegebedürftigwerdens und des Arbeitsloswerdens kann man privat oder öffentlich und solidarisch organisieren. Die gesetzliche Rente, die gesetzliche Krankenkasse, die Pflegeversicherung und die Arbeitslosenversicherung sind die öffentlich organisierten Regelungen zur Absicherung der Risiken.
Prinzipiell müssen diese öffentliche organisierten Versicherungssysteme nicht notwendigerweise Elemente von Sozialtransfers enthalten. Man könnte die gesetzliche Rentenversicherung so organisieren, dass das so genannte Äquivalenzprinzip voll gewährleistet ist. D.h.: die Zahlungen des Systems orientieren sich an der Beitragszahlung der Versicherten. Man kann aber auch stärkere Elemente der Solidarität einbringen – wenn man die Auszahlungen an die Spitzenverdiener nicht voll an den geleisteten Beiträgen orientiert oder besondere Regelungen mit dem System kombiniert wie zum Beispiel die Berufsunfähigkeitsrente.
Gesetzlich geregelte Sicherungssystem können auch stärkere solidarische Elemente enthalten, so zum Beispiel die Gesetzliche Krankenkasse. Dort orientiert sich die Leistung der Krankenversicherung nicht maßgeblich an der Beitragsleistung des Versicherten. Wer viel verdient und einen höheren Beitrag zahlt, hat in der Regel auch keine bessere Leistung zu erwarten als jemand mit einem niedrigen Einkommen.
In der Regel arbeiten diese Systeme um vieles preiswerter und Ressourcen schonender als die private Organisation der Absicherung. Die Organisation der Riester-Rente über das Umlageverfahren zum Beispiel verschlingt im Schnitt 15 % der eingezahlten Prämien, die Gesetzliche Rentenversicherung kommt zur Organisation der Beitragserhebung und der Rentenauszahlung mit ungefähr einem Prozent der Beiträge aus.
Es gibt eine ziemlich breite Variation der speziellen Organisation gesetzlicher Sicherungssysteme. D.h., man kann die Sicherungssysteme durchaus verschieden organisieren. Zum Beispiel: die Einbeziehung aller Erwachsenen in die sozialen Sicherungssysteme, also auch der Beamten und der Selbstständigen. Oder die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen.
Man könnte die Beiträge zur Gesetzlichen Altersvorsorge statt an der Lohnsumme auch an der Wertschöpfung eines Unternehmens orientieren Das wäre eine sehr sinnvolle Reform des Systems, weil lohnintensive Produktionen tendenziell entlastet würden.
Die Sicherheit der privaten Sicherungssysteme hängt von dem Wohlergehen der einzelnen Unternehmen ab. Das ist neben der Kostenträchtigkeit der Privatvorsorge ein zweiter Nachteil.
Angesichts der Effizienz der sozialen Sicherungssysteme und des zumindest gewissen Risikos der Privatvorsorge ist es erstaunlich, dass die in den letzten 20 Jahren die Politik bestimmenden politischen Kräfte die sozialen Sicherungssysteme destabilisiert haben:
- Die Arbeitslosenversicherung wurde im Kern mit Harz IV abgeschafft. Wenn jemand nach einem Jahr Arbeitslosigkeit in Harz IV fällt, dann ist das keine ernst zu nehmende Versicherung mehr.
- Die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente ist durch vielerlei politischen Entscheidungen reduziert worden. Das geschah nicht zufällig. Es ist Teil eines Plans zur Förderung der Privatvorsorge. Diesen Vorgang hat einer der Agitatoren für die Privatvorsorge, Bernd Raffelhüschen, im Film Renten-Angst anschaulich beschrieben.
- Der Pflege-Riester bringt den Einstieg in die Privatisierung auch dieses Zweiges der Risikovorsorge.
Ein dichtes soziales Netz ist eine wichtige Basis der sozialen Sicherheit und der Freiheit. Es ist in der Regel keine Hängematte.
- Die gute und ausreichende Versorgung mit öffentlichen Leistungen
Wenn die Wasserversorgung in einer Gesellschaft ohne Rücksicht auf die Einkommenslage klappt und die Nutzung jedem und jeder möglich ist, wenn Kinder und Jugendliche unabhängig von der Einkommenslage ihrer Eltern Chancen zur Ausbildung und Bildung haben, wenn die Infrastruktur eines Landes so gut ausgebaut ist, dass auch Einkommensschwächere dieses Angebot nutzen können, wenn die öffentlichen Leistungen noch dazu preisgünstig angeboten werden, dann steckt darin ein wichtiges Element der Sozialstaatlichkeit.
- Eine Steuerpolitik, die die Ungerechtigkeiten der primären Einkommensverteilung korrigiert.
Seit 30 Jahren sinkt der Anteil der abhängig beschäftigten Personen am Volkseinkommen. D.h., die so genannte primäre Einkommensverteilung ist schlechter und ungerechter geworden. In den letzten Jahren hat die Ungerechtigkeiten rasant zugenommen.
Das ist ein sehr schlechtes Ergebnis und war, wie wir wissen, gewollt. Die Reservearmee der Arbeitslosen sollte und hat dafür gesorgt, dass die Löhne über einen längeren Zeitraum stagnierten und die Gewinne und Vermögenseinkommen massiv stiegen.
In einer von Sachlichkeit in den Geist der Sozialstaatlichkeit geprägten Gesellschaft, weiß man in einer solchen Situation, was zu tun wäre: der Staat hätte die Aufgabe, mithilfe der Steuerpolitik die Ergebnisse der primären Einkommensverteilung zu korrigieren. Bei uns ist genau das Gegenteil passiert: die Vermögensteuer wurde gestrichen, die Unternehmenssteuern wurden gesenkt, den Spekulanten wurde zum 1.1.2002 die Steuerfreiheit für die Gewinne beim Verkauf von Aktienpaketen eingeräumt, die Erbschaftssteuer wurde ihrer Wirksamkeit weitgehend beraubt, etc. Und die Mehrwertsteuer die den Konsum der Massen belastet, wurde gleich um drei Punkte erhöht.
Das alles waren keine Akte zur Förderung der Sozialstaatlichkeit.
- Demokratische Verhältnisse
Die Sozialstaatlichkeit ist auf diesem Feld in vielfältiger Weise bedroht:
- Menschen und Gruppen mit finanzieller und publizistischer Macht beherrschen die Meinungsbildung und nehmen über Lobbyarbeit Einfluss auf politische Entscheidungen zu ihren Gunsten, zu Gunsten der Besserverdienenden und Vermögenden. Die Mehrheit hat das Nachsehen. Kein Akt von Sozialstaatlichkeit.
- Gleiches Recht für alle ist ein guter Gedanke und letztlich auch der Kerngedanke der Rechtsstaatlichkeit. Aber in der Realität gilt das schon lange nicht mehr. Wer finanziell gut ausgestattet ist, gut vernetzt ist und Beziehungen hat, kann sich Vorteile verschaffen. Wer darüber nicht verfügt ist benachteiligt. Eine eindeutige Verletzung der Sozialstaatlichkeit. Die oft schon beschriebenen neuen feudalen Verhältnisse in Deutschland sind nicht nur ein Angriff auf die Demokratie sondern auch auf die soziale Gerechtigkeit und Sozialstaatlichkeit.
- Die große Mehrheit der abhängig arbeitenden Menschen ist inzwischen in wichtigen Institutionen in der Minderheit oder ausgeschlossen.
So zum Beispiel bei der Agentur für Arbeit. Bei der Vorgängerorganisation waren zumindest die Vertreter der Arbeitnehmerschaft, die Gewerkschaften, ähnlich repräsentiert wie die Arbeitgeberseite. Heute ist die Agentur in den Händen von betriebswirtschaftlich denkenden Abkömmlingen des Managements.
Ähnlich ist die Lage in den Rundfunkanstalten und in den Universitäten. Die breite Masse der Arbeitnehmerschaft hat dort nichts mehr zu sagen. Es liegt eine ziemlich undemokratische Machtübernahme hinter uns, die direkten Einfluss auch auf die soziale Lage der Menschen und damit auf die Sozialstaatlichkeit hat.
Die Sozialstaatlichkeit ist ein wunderbares Versprechen. Aber dieses Versprechen ist in vielfältiger Weise verletzt und aktiv gebrochen worden.