„Sparzwang“ in Zeiten des Nullzinses?
Wenn die Bundesrepublik Deutschland neue Schulden aufnimmt, so muss sie dafür nur einen lächerlich geringen Zinssatz zahlen – für Staatsanleihen mit einer Laufzeit von zwei Jahren oder weniger kriegt sie von den Anlegern sogar eine Prämie dafür, dass diese dem Staat Geld leihen dürfen. Dennoch beherrscht das Mantra, nach dem der Staat immer weniger Schulden aufnehmen sollte, die politische Diskussion. Dies ist ein grandioser Denkfehler, der uns noch sehr teuer zu stehen kommen könnte. Von Jens Berger.
Wenn in der öffentlichen Diskussion über die Staatsverschuldung von einem „Sparzwang“ die Rede ist, meinen die Diskutanten meist das Falsche. Gesetze, wie beispielsweise die Schuldenbremse oder der künftig geltende Fiskalpakt, verpflichten die öffentlichen Haushalte zwar, die Neuverschuldung unter einem festgelegten Höchstsatz zu halten, sie verpflichten die Politik jedoch nicht – wie man überall liest – zu Kürzungen. Wer seine Neuverschuldung drücken will, kann entweder seine Ausgaben reduzieren oder seine Einnahmen erhöhen. Wirtschafts- und finanzpolitisch entscheidend sind hier jedoch die Nebenwirkungen dieser Fiskalentscheidungen. Kürzt die Bundesregierung beispielsweise Ausgaben für den Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, den Kulturbereich oder das Bildungs- und Sozialsystem, so haben Unternehmen und Arbeitnehmer, die in diesen Bereichen tätig sind, weniger Einnahmen. Die Unternehmen auf diesem Feld investieren weniger, sie machen geringere Gewinne, zahlen weniger Steuern und müssen möglicherweise Angestellte entlassen. Die Arbeitnehmer, die von diesen Kürzungen betroffen sind, zahlen ebenfalls weniger direkte Steuern, geben weniger Geld aus, was wiederum sowohl zu geringeren indirekten Steuern als auch zu weniger Umsatz bei anderen Unternehmen führt, die dann ihrerseits nicht nur weniger Steuern zahlen und weniger investieren, sondern womöglich auch Angestellte entlassen. In der Folgeperiode führen diese Ausgabenkürzungen zu Mindereinnahmen und – in der Regel – zu höheren Ausgaben (z.B. für Zuschüsse zum Sozialsystem und Qualifizierungsmaßnahmen für die Entlassenen). Nicht nur die öffentlichen Haushalte, sondern auch sämtliche Sozialkassen leiden unter den Nebenwirkungen der Kürzungen, so dass unter Umständen sogar die Beitragssätze erhöht werden müssen.
Diese Politik, die man wohl am besten mit den Begriffen Austeritätspolitik oder Kürzungspolitik umschreiben könnte, ist jedoch keine Sparpolitik, da der Begriff „Sparen“ impliziert, dass man in der Folgeperiode eher mehr und nicht weniger Geld zur Verfügung hat. Der vermeintliche „Sparzwang“ ist bei näherer Betrachtung eine Austeritätsspirale, eine ideologische Scheuklappe, mit der nicht nur die Staatsfinanzen verschlechtert werden, sondern überdies die Konjunktur abgewürgt und das Wachstum behindert wird.
Wenn es einen „Sparzwang“ gibt, so ist er ganz woanders zu verorten: Anbieter privater Altersvorsorgeverträge, wie Lebensversicherungen, Riester- oder Betriebsrenten, sind per Gesetz gezwungen, einen großen Teil ihrer Kundeneinlagen in festverzinsliche Papiere im eigenen Währungsraum anzulegen, die höchste Bonitätsnoten haben. Außer Staatsanleihen der als solide bewerteten Eurostaaten (und bestimmter Bundesländer/Regionen sowie Kommunen) bleibt da jedoch nicht viel übrig. Ohne Staatsverschuldung gäbe es auch keine private Altersvorsorge, keine privaten Krankenkassen und keine private Pflegeversicherung.
Nun bestimmen in einer Marktwirtschaft meist Angebot und Nachfrage den Preis. Staatsanleihen bilden da keine Ausnahme. Die Niedrigzinsen für Staatsanleihen bestimmter Länder sind auch eine Folge dieses „Sparzwangs“. So erklärt sich der niedrige Zinssatz für japanische Staatsanleihen, die trotz der japanischen Staatsschuldenquote von 208% (also mehr als Griechenland) und des eher dürften AA- Ratings seit Jahren unter der 2%-Marke dümpeln. Der mit Abstand größte Gläubiger des japanischen Staates sind die japanischen Pensionsfonds, die – ebenso wie hierzulande – per Gesetz gezwungen sind, die Rücklagen ihrer Versicherten in Staatsanleihen im gleichen Währungsraum anzulegen.
Allein in Deutschland verwalten die Lebensversicherungen ein Anlagevolumen von 1.400 Mrd. Euro – etwas mehr als die Gesamtverschuldung des Bundes. Problematisch wird der „Erfolg“ der privaten Altersvorsorge dann, wenn pro Jahr wesentlich mehr Geld in die privaten Altersvorsorgemodelle eingezahlt wird, als die öffentlichen Haushalte an neuen Schulden aufnehmen. 2011 wuchsen die Ansprüche aus Lebensversicherungen um 48 Mrd. Euro, während der Bund „nur“ 17,3 Mrd. Euro neuer Schulden aufnahm. Wenn sich der Preis (also hier der Zins) für frisch ausgegebene Bundesanleihen durch Angebot und Nachfrage ergibt, ist vollkommen logisch, dass die Zinsen dann unter Druck geraten, wenn die Nachfrage stetig stärker steigt als das Angebot. In der aktuellen Situation kommt verschärfend hinzu, dass neben den Versicherern auch noch verschiedene Akteure aus den Euro-Problemstaaten als Käufer auftreten, die sich so gegen eine – nicht auszuschließende – Währungsreform in diesen Staaten absichern wollen.
Sollte der Bund also seine Ankündigung, langfristig keine neuen Schulden mehr aufnehmen zu wollen, in die Tat umsetzen, ist absehbar, dass die kuriose Erscheinung der negativen Zinsen für Staatsanleihen zu einem Dauerzustand wird. Dies würde auch dazu führen, dass der Posten „Zinsen und Tilgung“ im Bundeshauhalt eine immer geringere Größe einnähme. Damit erweisen sich die apokalyptischen Szenarien der arbeitgebernahen Wirtschaftsforschungsinstitute der Vergangenheit auf geradezu groteske Art und Weise als falsch. Was oberflächlich ein Grund zur Freude ist, stellt jedoch auch auf vielen Ebenen ein Problem dar. Neben der verzerrenden Wirkung auf den Zinsmärkten sei hier vor allem das Problem angeführt, dass solche Niedrigst- und Negativzinsen vor allem die Kunden privater Altersvorsorgemodelle schädigen, deren Renten- und Versorgungsansprüche dahinschmelzen wie ein Eisberg in der Sahara. Für unsere Volkswirtschaft wäre es wesentlich gesünder, wenn sich die Zinsen für deutsche Staatsanleihen mittel- bis langfristig wieder auf einem gesunden Niveau einpendeln. Um dies zu erreichen, ist es jedoch vonnöten, dass die öffentlichen Haushalte temporär nicht weniger, sondern mehr Schulden machen, da wohl nur eine Ausweitung des Angebots den Preis wieder auf ein verträgliches Niveau zurückführen kann.
Eine solche Ausweitung der Schulden hätte freilich nicht nur die vielfach kolportierten Nachteile, sondern auch volkswirtschaftliche Vorteile. So könnte der Staat beispielsweise durch sinnvolle Investitionen in den Bereichen Infrastruktur, Kultur, Bildung und Soziales die dümpelnde Konjunktur merklich ankurbeln. Die eingangs genannte „Austeritätsspirale“ würde sich in eine „Investitionsspirale“ umkehren, mit der Wachstum erzeugt und damit auch der Staatshaushalt nachhaltig entlastet werden kann. Dies bedeutet freilich nicht, dass der Staat sich über seine Verhältnisse verschulden soll. Sollte die Konjunktur anspringen und die Wirtschaft beispielsweise um 4% pro Jahr wachsen, würde sich die Staatsschuldenquote selbst bei einer saftigen Neuverschuldung von 4% pro Jahr nicht erhöhen, ist sie ja immer in Relation zur Wirtschaftskraft der gesamten Volkswirtschaft zu sehen.
Durch eine solche intelligente Investitionspolitik würde der Staat gleich sieben Fliegen mit einer Klappe schlagen – er würde das Niedrigzinsproblem und das damit verbundene Renditenproblem der privaten Altersvorsorge und konservativer Sparer lösen, die Wirtschaft ankurbeln, die Arbeitslosigkeit bekämpfen, die Niedriglohnproblematik entspannen (eine Folge der gesunkenen Arbeitslosigkeit), die Sozialsysteme stärken und mit all dem schlussendlich den Wohlstand aller seiner Bürger mehren seinen Bürgern einen großen Gefallen tun. Wann, wenn nicht jetzt, wo die Zinssätze historisch niedrig sind und die Konjunktur auf Talfahrt ist, soll der Staat eigentlich Geld in die Hand nehmen, um die Konjunktur zu stärken? Das Gerede vom Wachstum, aber nicht auf Pump ist volkswirtschaftlich einfach eine Milchmädchenrechnung. Leider hat sich die Politik diesen Weg durch kontraproduktive Gesetze wie der Schuldenbremse oder dem Fiskalpakt ohne Not selbst verbaut und wir müssen – ob wir wollen oder nicht – den durch die Austeritätspolitik verursachten Problemen ratlos ins Auge blicken.