Das Märchen von der Geldvernichtung

Jens Berger
Ein Artikel von:

„Eine gigantische Geldvernichtung!“ „Billionenwerte in Luft aufgelöst!“ „Milliardensummen verbrannt!“ So ähnlich lauten die Schlagzeilen, wenn die Kurse an den Finanzmärkten wieder einmal in den Keller rutschen. Geldwerte entstehen, sie wachsen und wachsen – und fallen dann irgendwann wieder in sich zusammen; so sollte man meinen. Dies ist jedoch blanker Unsinn. Das Gerede von der Geldvernichtung im Kontext von Finanzkrisen ist eine Lüge, die die eigentlichen Probleme des Finanzsektors kaschiert. Von Günter Wierichs.

Beginnen wir unser Märchen von der Geldvernichtung mit jener Floskel, die im entsprechenden Genre am häufigsten anzutreffen ist.

„Es war einmal ein höchst fideler junger Mann, der im Besitze einer sehr guten Geschäftsidee war. Also ging er daran, diese Idee in die Tat umzusetzen. Er überzeugte den Existenzgründerexperten seiner Gemeindesparkasse von der Zukunftsfähigkeit des Vorhabens und gründete, ausgestattet mit einem Sparkassenkredit und einigen mageren Eigenmitteln, ein Unternehmen. Die Geschäftsidee erwies sich als sehr tauglich; die Umsätze unseres kleinen Start-ups stiegen und stiegen. Irgendwann wurden Investmentbanker auf den Jungunternehmer aufmerksam. Man müsse das Ganze auf eine breite Basis stellen, sagten die Finanzexperten. Ein GoingPublic, die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft und Ausgabe von Aktien an viele, viele Kapitalanleger, sei notwendig.

Unser Unternehmensgründer, der inzwischen vor lauter Arbeit schon nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand, und der außerdem längst neue Vorhaben plante, ergriff die Möglichkeit, sich als Multimillionär aus seinem alten Geschäftsleben zu verabschieden. Das Kapital des Unternehmens wurde in 10 Millionen Aktien aufgeteilt; er erhielt pro Aktie 10 Euro und zog sich mit dem Gesamterlös von 100 Millionen Euro zunächst einmal auf eine Finca in Südspanien zurück, um von dort aus sein nächstes Projekt zu planen. Ein neuer, vom Finanzinvestor eingesetzter Vorstand übernahm das Ruder.

Mit einem Startkurs von 10 Euro wurde das GoingPublic durchgeführt. Die Anleger waren begeistert. Die Aktie war deutlich überzeichnet. Wer einen Kaufauftrag von 4.000 Stück erteilt hatte, konnte froh sein, wenn ihm im Endeffekt ein Viertel davon ins Depot gelegt wurde. Dann lief die Gewinnmaschinerie so richtig an. Der Kurs stieg innerhalb weniger Monate auf 20, dann auf 30 und in der Spitze sogar auf 50 Euro. Schließlich kam der Einbruch. Etliche Konkurrenten tummelten sich inzwischen am Markt, die seinerzeit tolle, innovative Geschäftsidee war jetzt sattsam bekannt. Das Umsatzwachstum ging zurück; schließlich brach der Umsatz völlig ein. Der Vorstand stemmte sich mit Gewalt gegen den Trend. Als schließlich noch herauskam, dass die Vorstände Bilanzwerte und Auftragszahlen bereits in der Vergangenheit manipuliert und der Öffentlichkeit dadurch eine rosige Auftragslage vorgegaukelt hatten, konnte das Unternehmen nicht mehr gerettet werden. Die Aktie war praktisch über Nacht keinen einzigen Cent mehr wert. Unser Firmengründer aber lebte glücklich bis ans Ende seiner Tage.“

Umschichtung statt Vernichtung – ein Nullsummenspiel

Soweit unser modernes Märchen. Es kommt natürlich recht plakativ und holzschnittartig daher, spiegelt aber im Prinzip den Ablauf des Prozesses einer so genannten „Geldvernichtung“ recht gut wider. Analysieren wir die Geschichte einmal vor dem Hintergrund dieses Begriffes. Oberflächlich betrachtet verbrennt Geld im Wert von 500 Millionen Euro: Zehn Millionen Aktien, die zuvor bei einem Kurs von 50 Euro noch einen Börsenwert (Fachjargon: Marktkapitalisierung) von 500 Millionen Euro aufwiesen, sind urplötzlich wertlos geworden.

Betrachtet man die an dem Prozess beteiligten Personen in ihrer Gesamtheit, kommt ein ganz anderes Ergebnis heraus. Nehmen wir dabei vereinfachend an, dass auf jeder Kursstufe jeweils eine einzige Person involviert ist.

  • Zunächst ist da unser Unternehmensgründer. Er kassiert beim Börsengang vom Investor 1 schon mal 100 Millionen Euro.
  • Die Aktien sind kurz nach dem Börsengang 20 Euro, insgesamt also 200 Millionen Euro wert, und eine weitere Person (Investor 2) erwirbt sie zu diesem Gesamtpreis.
  • Investor 2 stößt die Papiere bei einem Aktienkurs von 30 Euro ab. Investor 3 zahlt ihm 300 Millionen Euro.
  • Dann macht die Aktie einen weiteren Kurssprung, diesmal sogar auf 50 Euro. Investor 4 zahlt für das Aktienpaket 500 Millionen Euro an Nr. 3. Schließlich kommt es zum Kursverfall.

Das Prinzip ist klar – es wird nicht Geld vernichtet, sondern lediglich umgeschichtet:

Kaufpreis
(Mio. Euro)
Verkaufserlös
(Mio. Euro)
Gewinn (+)/ Verlust (-)
Unternehmensgründer 0 100 + 100
Investor 1 100 200 + 100
Investor 2 200 300 + 100
Investor 3 300 500 + 200
Investor 4 500 0 – 500
Gesamtposition der Beteiligten ± 0

Investor 4 ist also der „Dumme“. Sein Verlust entspricht genau dem Gewinn, den seine Vorgänger insgesamt einfahren konnten. Die Geldmenge ist unverändert geblieben. Letztlich steht hinter der viel zitierten Geldvernichtung lediglich ein rein virtueller Vorgang. Irgendein Finanzinstrument wird hochgejubelt und landet wieder dort, wo es hergekommen ist. Zwischendurch werden einige Beteiligte reicher, andere ärmer. Im Gesamtergebnis ändert sich gar nichts.

Eklatantes Missverhältnis

Das Märchen von der Geldvernichtung hat jedoch noch eine Fortsetzung. Denn statt einer Geldvernichtung treffen wir in der wirtschaftlichen Realität das genaue Gegenteil, nämlich das Phänomen der Geldvermehrung, an. Und diese Geldvermehrung ist sogar erheblich. Wir haben es mit einem aufgeblasenen Finanzsektor zu tun, der die Realökonomie seit vielen Jahren in einem atemberaubenden Tempo hinter sich lässt. Die Aufgabe von Banken soll es eigentlich sein, durch das Einsammeln von Eigenkapital, die Hereinnahme von Kundeneinlagen sowie durch Darlehensaufnahme bei der Zentralbank Geldmittel zu generieren, die dann zur Kreditvergabe an Unternehmen und private Haushalte zur Verfügung stehen. Wenn Unternehmen Kredite aufnehmen und mit diesen Geldern Investitionsgüter kaufen oder Warenbestände aufstocken, wenn Privathaushalte mittels Kreditfinanzierung Konsumgüter erwerben, fließen die vom Bankensystem eingesammelten Gelder wieder in realwirtschaftliche Verwendungszwecke. Demnach sollten die Größen „reales Wachstum“ (Wachstum des Bruttoinlandsproduktes – BIP) und „Geldwachstum“ (Wachstum der den Banken zur Verfügung stehenden Geldmittel – Bankenaktiva) sich eigentlich relativ gleichförmig entwickeln. Das tun sie jedoch bei weitem nicht, wie ein schlichter Vergleich zeigt:

Im Jahr 1991 wurde in Deutschland ein BIP in Höhe von 1.500 Milliarden Euro erwirtschaftet. Gleichzeitig wiesen die Bankenaktiva einen Wert von 2.500 Milliarden Euro auf. Schon damals klaffte eine erhebliche Lücke zwischen diesen beiden Größen. Die Schere ging danach immer weiter auseinander. 2010 hatte das BIP zwar den Wert der Bankenaktiva von 1991 erreicht, nur waren diese noch weitaus kräftiger vorangeschritten; sie lagen zu diesem Zeitpunkt – trotz der Einbrüche an den Finanzmärkten in den Jahren 2000/2001 und 2007/2008 – bereits bei 7.400 Milliarden Euro. Innerhalb von 20 Jahren war die realwirtschaftliche Wertschöpfung um den Faktor 1,6 gestiegen – ein Klacks gegenüber dem finanzwirtschaftlichen Wachstumsschub, denn hier fand eine Vermehrung um das Dreifache statt, die sich darüber hinaus auf der Basis eines ohnehin hohen Ausgangsniveaus vollzog.

Diese Zahlen beweisen, dass es offenbar Geld in Hülle und Fülle gibt und dass ein hoher Anteil der Geldmittel in nicht-realwirtschaftliche, also spekulative Verwendungszwecke fließt. Hier locken Zinsen, Dividenden und Kursgewinne; das Anlagegeld wird dadurch immer weiter vermehrt. Hinzu kommt der steuerliche Aspekt: Weltweit haben wir den Trend, dass Erträge aus Kapitalanlagen steuerliche Vorteile gegenüber realwirtschaftlich basierten Einkünften, vor allem Einkünften aus Arbeitsleistungen, genießen. So gelten in Deutschland beispielsweise seit der Einführung der Abgeltungsteuer alle Zins-, Dividenden- und Spekulationsgewinne mit dem Einheitssteuersatz von 25 % als „abgegolten“. Eine Nachversteuerung ist nicht notwendig. Angesichts eines für die übrigen Einkünfte geltenden (und auch bereits sehr moderaten) Spitzensteuersatzes von 42 % (bzw. 45 % unter Einbeziehung der „Reichensteuer“) ist dies äußerst generös. Noch krasser sind die Verhältnisse in den USA. Dort zahlen Finanzjongleure geradezu lächerlich geringe Steuersätze auf Kapitalerträge.

Der Begriff „Geldvernichtung“ im Kontext von Kurseinbrüchen an den Finanzmärkten ist falsch. Im Gegenteil – Geld vermehrt sich aufgrund der exponentiellen Kraft von Zins- und Zinseszinseffekt und einer gezielten Steuerpolitik im Interesse von (Groß-)Anlegern ungebremst weiter. Das mangels realwirtschaftlicher Alternativen verfügbare gewaltige Spekulationskapital sorgt dann im Endeffekt für jene Verwerfungen, die allgemein als „Finanzkrise“, „Eurokrise“ oder „Staatsschuldenkrise“ wahrgenommen werden. Auch diese Verwerfungen werden durch unser Märchen deutlich. Investor 4 schultert die gleiche Summe, die sich zuvor bei den anderen Beteiligten in Form von Gewinnen aufsummiert hat, als Verlust. Häufen sich bei diesem Investor solche Verlustgeschäfte (oder handelt es sich um einen einzigen Mega-Verlust, der den üblichen geschäftlichen Rahmen des Unternehmens sprengt), steht eine weitere Bankenrettung an, und dann ist wieder der Staat, also die Allgemeinheit, gefordert.

Bei der nächsten Spekulationsrunde kann die Sache natürlich ganz anders aussehen. Vielleicht ist dann der Investor 3 fällig. Gefährlich ist das Terrain jedenfalls für alle Beteiligten. Und genau hier liegt das eigentliche Problem. Wir müssen daher schleunigst den Finanzsektor nachhaltig regulieren und der Spekulationsflut Einhalt gebieten. Kapitalerträge, insbesondere Spekulationsgewinne, sind höher zu besteuern; die Einführung einer internationalen Finanztransaktionssteuer auf börsliche und außerbörsliche Geschäfte ist dringend notwendig.

Wenn wir so weiter machen wie bisher, wird unser Geld- und Währungssystem komplett zusammenbrechen. Das wäre dann in der Tat eine Geldvernichtung.