Die Agenda des Salzwasserökonomen
Mit seinem Buch „Vergesst die Krise! Warum wir jetzt Geld ausgeben müssen“ liefert der US-Ökonom Paul Krugman einen wortmächtigen Gegenentwurf zur Ideologie des „Kaputtsparens“. Er versteht es einmal mehr, mit einfachen Worten und Metaphern volkswirtschaftliche Zusammenhänge so darzustellen, dass sie auch von Lesern ohne große Vorkenntnisse verstanden werden können. Von Jens Berger.
Paul Krugman sei der erste Blogger, der einen Nobelpreis gewonnen hat – so lautet ein Bonmot, das vor allem von seinen Gegnern immer wieder gerne fallengelassen wird. Krugmans Gegner sind die Republikaner, über die er in seinen Kolumnen und Blogs mit Vorliebe herfällt, und die „Süßwasserökonomen“. In den USA ist die Trennung der wirtschaftswissenschaftlichen Strömungen seit den letzten Jahrzehnten auch geographisch bemerkbar – in den großen Universitäten an der Atlantik- und der Pazifikküste (also am Salzwasser) wird vornehmlich eine nachfrageorientierte Ökonomie gelehrt, die sich auf John Maynard Keynes beruft, während man an den Universitäten im Landesinneren (also am Süßwasser) eher zu einer angebotsorientierten, sich auf Milton Friedman berufenden Ökonomie tendiert. Krugman lehrt in Princeton, New Jersey, und ist nicht nur geographisch ein „Salzwasserökonom“. In seinen Kolumnen und Blogs in der New York Times hat Krugman die Funktion des Sprachrohrs der nachfrageorientierten Ökonomie eingenommen. Seine große Stärke ist es, ökonomische Sachverhalte wortgewandt und allgemeinverständlich zu erklären – klar, dass ihm das nicht nur Freunde einbringt. Die NachDenkSeiten zählen zweifelsohne zu seinen Freunden und weisen regelmäßig auf interessante und gute Beiträge von Paul Krugman hin. Gäbe es einen deutschen Paul Krugman, hätte es der Neoliberalismus sicher nicht so einfach gehabt, sich in den Köpfen unserer Mitbürger und Politiker festzusetzen. In Krugmans „Ökonomengeographie“ ist Deutschland tiefstes Süßwasser.
Krugmans volkswirtschaftliche Agenda ist ein leicht überarbeiteter Keynesianismus. Für ihn ist die Nachfrage der Kern der Volkswirtschaft. Nur wenn Güter und Dienstleistungen ausreichend nachgefragt werden, investieren Unternehmen und schaffen damit Arbeitsplätze. Sinkt die Nachfrage, lahmt die Konjunktur und wenn weder die privaten Haushalte noch die Unternehmen ihre Konsum- und Investitionsausgaben erhöhen können oder wollen, muss der Staat die nötigen Impulse setzen, um die Nachfrage anzukurbeln. In normalen Zeiten übernimmt die Zentralbank mit ihrer Zinspolitik diese Aufgabe. Doch die Zeiten sind nicht normal, wir befinden uns mitten in einer der schwersten Wirtschaftskrisen der Neuzeit.
Auch wenn Krugman sich bereits in der Einleitung seines Buches das Ziel setzt, die Krise nicht zu erklären und die Krisenursachen nur am Rande zu erwähnen, mach er in seinem Buch doch das genaue Gegenteil. Auf gefühlten 90% der 266 Seiten umreißt Krugman die nachfrageorientierte Position und erklärt, wie es überhaupt so weit kommen konnte, dass der Zusammenbruch einer mittelgroßen Investmentbank zu einer weltweiten Wirtschaftskrise führen konnte. Dabei beruft er sich vor allem auf den, vor der Wirtschaftskrise weitestgehend unbekannten, US-Ökonomen Hyman Minsky und dem nach ihm benannten „Minsky-Moment“, der dann eintritt, wenn durch besondere Ereignisse die Gläubiger plötzlich die Risiken neu einschätzen und die Schuldner bemüht sind, ihre Schulden möglichst schnell abzubauen. Dies führt dazu, dass der Konsum massiv einbricht, da die Schuldner einen Großteil ihrer freien Mittel für die Rückzahlung ihrer Schulden aufwenden müssen. Wenn die Nachfrage einbricht, gibt es jedoch keinen überzeugenden Grund, zu diesem Zeitpunkt zu investieren. Im Gegenteil, die sinkende Nachfrage führt zu einer Rezession, in der Arbeitsplätze abgebaut werden, die Löhne bestenfalls stagnieren und es den Schuldnern daher noch schwerer fällt, ihre Schulden zurückzuzahlen. Verschärfend kommt hinzu, dass die Sicherheiten für Kredite (z.B. Immobilien) in einer solchen Phase an Wert verlieren, da das Angebot steigt und die Nachfrage wegbricht. Krugman spricht hier von einer Verschuldungsspirale und von einer selbsterfüllenden Prophezeiung – aus dem „Minsky-Moment“, an dem die Risiken neu eingeschätzt wurden, ist eine handfeste Kreditkrise geworden, bei der die Risiken in der Tat neu bewertet werden müssen.
Wenn die Schuldner nicht mehr Geld ausgeben können und die Gläubiger nicht mehr Geld ausgeben wollen, muss der Staat in die Bresche springen und die Wirtschaft durch echte Konjunkturprogramme, die ihren Namen auch verdient haben, ankurbeln. Krugman verweist dabei immer wieder auf die gigantischen Rüstungsprogramme der USA von 1939 bis 1945, die – rein ökonomisch betrachtet – nichts anderes als ein riesiges Konjunkturprogramm waren, bei dem der Staat die Nachfrage auf Pump angekurbelt und damit die Folgen der Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre endgültig überwunden hat. Natürlich empfiehlt Krugman keine Rüstungsprogramme á la Roosevelt, um die momentane Krise zu überwinden. Stattdessen setzt er vor allem auf den Ausbau der Infrastruktur und des Bildungssystems. Mit einer Rücknahme der Budgetkürzungen in den Staaten und Kommunen würden, so Krugman, rund 300 Milliarden US$ pro Jahr frei, mit denen man direkt über 1,3 Millionen Arbeitsplätze schaffen könnte, die indirekt fast drei Millionen weitere Arbeitsplätze entstehen ließen. Dies würde die Konjunktur ankurbeln, der „Minsky-Moment“ wäre dann überwunden und die Unternehmen würden wieder investieren.
Interessant ist hierbei vor allem für deutsche Leser, dass sich Krugmans Rezept auch 1:1 auf Deutschland übertragen ließe. Auch hierzulande wäre eine finanzielle Stärkung der Kommunen wohl das beste Konjunkturprogramm, mit dem man nicht nur Arbeitsplätze schaffen, sondern auch die Nachfrage ankurbeln könnte. Krugmans Lösung für die Eurokrise besteht übrigens darin, die deutsche Nachfrage durch Konjunkturprogramme anzukurbeln, um die Löhne und die Inflation hierzulande gegenüber Südeuropa zu steigern und so mittel- bis langfristig die deutschen Lohnstückkostenvorteile und die Außenhandelsüberschüsse zu senken. Das ist natürlich volkswirtschaftlich absolut korrekt – wenn man sich jedoch den Geisteszustand, in dem sich die politischen Eliten hierzulande befinden, vor Augen hält, hat diese Forderung leider keine realistische Chance, von den Entscheidern auch nur bemerkt zu werden. In diesem Punkt klafft immer noch eine riesige Erkenntnislücke zwischen den USA und Deutschland. Tu felix America, mag man da nur sagen.
Wie Krugman die Krise erklärt und welche nachfrageorientierten Lösungen er parat hat, ist durchaus lesenswert. Sonderlich neu oder originell ist dies jedoch alles nicht. Alles, was Krugman schreibt, hat man an so oder so ähnlich schon vielfach gelesen. Wer sich für ökonomische Themen interessiert und fit in Sachen nachfrageorientierter Wirtschaftswissenschaft ist, kann sich die Lektüre getrost sparen. Für alle anderen Leser ist Krugmans Buch jedoch eine durchaus lehrreiche und leicht verdauliche Einführung in das Thema, die sehr hilfreich ist, gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen.
Wäre Krugman nicht Krugman, sondern ein unbekannter Jungautor, so würde man das Buch wahrscheinlich nach der Lektüre zufrieden in den Schrank stellen und eine Empfehlung aussprechen. Von einem exponierten Vordenker wie Krugman erwartet man jedoch mehr. „Vergesst die Krise“ bleibt deutlich hinter Krugmans „großen“ populärwissenschaftlichen Büchern „Die große Rezession“ (The Return of Depression Economics/1999) und „Nach Bush“ (The Conscience of a Liberal/2007) zurück. Krugmans Buch krankt vor allem daran, dass der Autor zwei elementare Dinge weitestgehend außen vor lässt – das Finanzsystem und die Frage der Besteuerung.
Krugman ist – das ist bekannt – kein Fachmann für Fragen des Finanzsystems. Daher ist der Schuster bei seinen Leisten geblieben und hat diese Thematik auch nicht weiter vertieft. Diese Aussparung ist Krugman zwar nicht vorzuwerfen, wer sich jedoch ausgiebig mit der Thematik befasst, staunt an vielen Stellen des Buches darüber, wie wenig Krugman sich um die Wechselwirkungen seiner Ideen schert. So schlägt er beispielsweise – unter Bezugnahme auf ein altes Thesenpapier von Ben Bernanke – vor, das Inflationsziel der Notenbank von zwei auf vier Prozent zu erhöhen und das langfristige Zinsniveau zu steigern. Wenn die Märkte dieses Zinsniveau nicht annehmen, sollte die Notenbank halt durch eigene Käufe und Verkäufe nachhelfen. Dies wäre jedoch bei näherer Betrachtung ein „phantastisches“ Konjunkturprogramm für den Bankensektor. In Europa wäre man ja schon froh, wenn die EZB bei zu hohen Zinsen für Staatsanleihen interveniert und von den angegriffenen Staaten so den Druck nimmt. Eine Intervention bei zu niedrigen Zinsen ist nicht nur kontraproduktiv, sondern vor allem praktisch kaum durchführbar. Wenn die EZB bei Anleihenauktionen zu „schlechte Angebote“ macht, kriegt nicht sie, sondern eine private Bank oder Versicherungsgesellschaft den Zuschlag.
Ähnlich ambivalent ist Krugmans Fixierung auf eine höhere Inflation zu bewerten. Sicher, aus dem Elfenbeinturm der Wirtschaftswissenschaften heraus betrachtet, ist seine Forderung nach einer Inflation von rund vier Prozent goldrichtig. Wer die Inflation leicht antreiben will, muss jedoch dafür sorgen, dass eine steigende Nachfrage die Preise treibt. Dies ist jedoch nur durch eine breite Steigerung der Einkommen zu erreichen. In einer Marktwirtschaft kann man der Arbeitgeberseite jedoch nicht vorschreiben, die Löhne um eine bestimmte Prozentzahl zu erhöhen. Der Staat kann jedoch die Steuerbelastung senken, um dadurch die Nachfrage anzukurbeln und so indirekt auch die Inflation anzutreiben. Ob Steuersenkungen in dieser Situation ein probates Mittel sind, ist jedoch fragwürdig, da dies den Druck auf die Staatshaushalte abermals verstärken würde. Für Krugman ist dies freilich kein Problem – wenn die Märkte zu hohe Zinsen verlangen, soll halt die Zentralbank die Staaten finanzieren. Tu felix America, in Europa steht diese – zweifelsohne vernünftige – Idee auf einer Stufe mit der Forderung nach der Einführung der Scharia.
Bemerkenswert ist auch, dass Krugman an keiner Stelle seines Buches Stellung zum Steuersystem nimmt. Er geißelt zwar mehrfach die Spreizung der Einkommens- und Vermögensschere, lässt den Leser jedoch mit der bloßen Beobachtung allein. Dabei wäre eine Reform des Steuersystems doch eigentlich der einfachste Weg, um die Nachfrage zu stärken. Würde man die Steuern auf Konsumausgaben und u.U. auch auf bestimmte Investitionen senken, hätte dies eine größere Wirkung, als es jede Form der Zinspolitik der Notenbanken je haben könnte. Auch von einer Erhöhung der Steuern auf Besitz und hohe Einkommen will Krugman offenbar nichts wissen – zumindest äußert er sich nicht zu diesem Thema. Dies ist erstaunlich, würde eine solche Steuerpolitik doch erst den Weg freimachen, um konjunkturell sinnvolle Ausgaben des Staates zu finanzieren, ohne durch den „Tabubruch“ der starken Neuverschuldung zu einem umstrittenen Politikum zu werden.
Stellenweise ärgerlich ist die deutsche Übersetzung des Buches. Über häufig vorkommende Übersetzungsungenauigkeiten, wie beispielsweise die Übersetzung des amerikanischen Begriffs „liberal“ mit dem deutschen Begriff „liberal“ (warum hat man so viel Angst vor der korrekten Übersetzung „links“?) kann man zwar gnädig hinwegsehen. Wenn Übersetzungsungenauigkeiten jedoch den Intentionen des Autors zuwiderlaufen, wird es schon ärgerlich. Immer dann, wenn Krugman im englischen Original von „Austerity“ spricht, wird dies in der deutschen Version mit „Sparen“ übersetzt. Sicher – der Begriff „Austerität“, der die korrekte Übersetzung wäre, ist im Deutschen eher ein Fachbegriff, der von vielen Lesern nicht verstanden wird. Dafür gäbe es aber die Möglichkeit, eine Fußnote mit einer Anmerkung des Übersetzers einzufügen. Wer die Begriffe Austeritätspolitik und Sparpolitik nicht trennt, hilft damit – bewusst oder unbewusst – den „Süßwasserökonomen“. Und das wäre das Letzte, was Paul Krugman sich wünschen würde und sein neues Buch verdient hätte.