Demographische Folgen der Eurokrise
Im Kielwasser der Eurokrise unterwirft sich die Staatengemeinschaft einer selbstmörderischen Sparpolitik. Bereits heute haben die Arbeitslosenzahlen südeuropäischer Staaten einen Wert erreicht, der an die schlimmsten Wirtschaftskrisen vergangener Zeiten erinnert. Dies wird zwangsläufig zu Migrationsbewegungen von der Peripherie ins Zentrum führen, die Europa zwar enger zusammenwachsen lassen, allerdings vor allem die Peripherie noch weiter schwächen. Wenn die europäische Politik diesem Trend nicht entgegensteuert, sondern ihn weiter verstärkt, könnten ganze Staaten vom gemeinsamen Wohlstand abgehängt werden. Von Jens Berger
Ökonomisch motivierte Migration ist im historischen Kontext keine Ausnahme, sondern eher die Regel. Diese Migration kann grenzüberschreitend sein, wie die große Einwanderungswelle in die USA, die Besiedlung des Ruhrgebietes im 19. Jahrhundert oder der Zustrom von Arbeitsmigranten (Gastarbeitern) in die Bundesrepublik in der Nachkriegszeit zeigten. Vor allem die Binnenmigration, also der Wechsel des Arbeits- und Wohnortes innerhalb der Grenzen eines Landes, spielt auch heute eine sehr wichtige Rolle. Nur 40% der US-Amerikaner leben in dem Bundesstaat, in dem sie auch geboren sind. Innerhalb Deutschlands gibt es vor allem eine starke Ost-West-Wanderung, die bereits weite Landstriche Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns beinahe entvölkert hat. Ähnliches ist auch in fast allen anderen Industriestaaten zu beobachten – Frankreich hat sein Massif Central und sein Pas de Calais, Italien sein Mezzogiorno. Durch die Eurokrise droht nun halb Südeuropa zum Mezzogiorno der Eurozone zu werden.
Wiederaufleben der Arbeitsmigration durch die Eurokrise
Weit vor der Einführung des Euro gab es bereits eine Phase der massiven grenzüberschreitenden Arbeitsmigration von Süd- nach Nord- und Mitteleuropa. Heute leben in Deutschland rund 745.000 Menschen mit italienischem und 375.000 Menschen mit griechischem Migrationshintergrund, die (bzw. deren Eltern oder Großeltern) meist in der Zeit von 1955 bis 1973 nach Deutschland kamen. Spanische und portugiesische Auswanderer zog es vor allem nach Frankreich, in die Schweiz und nach Großbritannien. Der wirtschaftliche Aufschwung der südeuropäischen Staaten und nicht zuletzt die Einführung des Euros schwächten diesen Trend ab. Während vor allem in Deutschland die Löhne stagnierten, konnten die südeuropäischen Länder gewaltig aufholen. Durch den weitgehenden Wegfall des Lohnvorteils und den „Siegeszug“ prekärer Arbeitsverhältnisse büßte Deutschland auch seine Attraktivität
für Einwanderer deutlich ein, selbst polnische Erntehelfer gingen lieber nach Großbritannien oder Skandinavien als nach Deutschland – dies ist eine weitere, wenig beachtete Nebenwirkung der neoliberalen Politik, die das Land seit langem im Würgegriff hält.
Durch die Eurokrise und die darauffolgende Austeritätspolitik haben sich die Voraussetzungen jedoch wieder verändert. In den südeuropäischen Staaten ist die Arbeitslosigkeit massiv angestiegen und die Nachfrage ebenso massiv eingebrochen. Ohne eine antizyklische Konjunkturpolitik wird sich der Niedergang dieser Volkswirtschaften nicht stoppen lassen – im Gegenteil, es ist sogar wahrscheinlich, dass der wirtschaftliche Abstieg des „Olivengürtels“ noch lange anhalten wird. Im Endeffekt könnte die Sparpolitik mitsamt des Fiskalpakts sogar dazu führen, dass der jahrzehntelange Aufstieg Südeuropas revidiert wird und wir wieder vor einem ähnlichen Wohlstandsgefälle stehen wie in der Zeit der großen Migrationsströme von Süd nach Nord. Schon heute stellt vor allem der für Arbeitsmigration entscheidendste Faktor, die Jugendarbeitslosigkeit, eine einzige Bankrotterklärung für den gemeinsamen Wirtschaftsraum Europa dar. Sowohl in Griechenland als auch in Spanien ist jeder zweite Unter-25-Jährige ohne einen Job, in Portugal beträgt die Jugendarbeitslosigkeitsquote 35%, in Italien 32%. Besonders dramatisch ist dabei die Dynamik: In Griechenland, Spanien und Portugal hat sich die Jugendarbeitslosigkeit seit Beginn der Eurokrise mehr als verdoppelt, in Italien ist sie um rund 50% gestiegen. Ein Ende dieses Trends ist in keinem dieser Länder absehbar. Absehbar ist jedoch, dass die katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt zu gewaltigen Migrationsbewegungen führen wird. Die ersten Auswirkungen sind bereits zu beobachten.
Im ersten Halbjahr 2011 stieg die Zahl der Spanier, die nach Deutschland auswanderten, um 49% auf 7.257 Zuwanderer, während die Zahl der Zuwanderer aus Griechenland sogar um 84% auf 8.890 Zuwanderer stieg. Ähnliche Entwicklungen lassen sich in unseren Nachbarländern Österreich und der Schweiz beobachten. Aktuellere Zahlen sind noch nicht verfügbar, aber es ist anzunehmen, dass dies erst der Beginn einer massenhaften Arbeitsmigration ist.
Schaut man sich die Wanderungsbewegungen der EU-Binnenmigration an, so sind deutliche Parallelen zur Binnenmigration in den betreffenden Nationalstaaten zu erkennen. Nicht nur Brandenburger, sondern auch Spanier und Griechen wandern bevorzugt in die Millionenstädte Berlin und Hamburg und die dicht besiedelten und wirtschaftlich starken Regionen innerhalb der „blauen Banane“ aus – dem Städtegürtel, der sich von der Region London, über das Benelux, das Rhein-Ruhr-Gebiet, Baden-Württemberg und Bayern über die Schweiz bis nach Norditalien zieht.
Brain-Drain und Teufelskreis
Wie bei den meisten Migrationsströmen betrifft auch die aktuelle Süd-Nord-Wanderung bislang vor allem junge und gut ausgebildete Menschen. So mancher Jungakademiker tauscht gerne die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit im Heimatland gegen einen schlecht bezahlten Job der Generation Praktikum in Deutschland ein. Die Deutschkurse in den Goethe-Instituten der südeuropäischen Länder können schon heute die Nachfrage nicht mehr bewältigen. Diese Entwicklungen werden von den deutschen Arbeitgebern positiv wahrgenommen. Je größer das Angebot an qualifizierten Arbeitnehmern ist, desto mehr Spielraum nach unten haben die Arbeitgeber bei den Lohnverhandlungen. Man braucht wohl auch nicht sonderlich viel Phantasie, um sich die weiteren Entwicklungen der Arbeitsmigration von Süd nach Nord vorzustellen. Wer im Heimatland weder Hoffnung noch Perspektive hat, wird sogar im deutschen Niedriglohnsektor eine Chance sehen – in vielen Berufen ist die Sprachbarriere zudem kein großes Hindernis.
Durch die Abwanderung der jungen Bildungselite verlieren die südeuropäischen Länder jedoch nicht nur einen Teil ihres „Humankapitals“ – sie fallen auch in puncto Konkurrenzfähigkeit noch weiter zurück. Man könnte hier auch Parallelen zur deutschen Binnenmigration ziehen. Die Regionen, die am stärksten von der Abwanderung junger, gut ausgebildeter Menschen betroffen sind, weisen auch bei nahezu allen anderen demographischen und ökonomischen Faktoren schlechte Werte auf. Weite Teile Brandenburgs, Mecklenburg-Vorpommerns und Sachsen-Anhalts haben einen Altersschnitt, der weit über dem deutschen Durchschnitt liegt, geringe Geburtenzahlen und eine vergleichsweise hohe Arbeitslosenquote. Dies sind bereits „Push-Faktoren“, die sich durch die Abwanderung jedoch immer weiter verstärken und in einem Teufelskreis münden. Je mehr junge Menschen abwandern, desto geringer ist die Geburtenquote, desto geringer sind die Existenzgründungen, desto niedriger ist die Binnennachfrage, desto niedriger das Arbeitsplatzangebot im Dienstleistungssektor, desto höher die Arbeitslosigkeit, desto größer die Abwanderung. Ohne dauerhafte Transferleistungen des Staates wäre diese Entwicklung noch dramatischer, als sie ohnehin schon ist.
Alternative: Transferunion
In weiten Teilen Ostdeutschlands sind mittlerweile die Transferleistungen der mit Abstand wichtigste Wirtschaftsfaktor, ohne den die prekäre lokale Nachfrage vollends versiegen würde. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Nationalstaaten die klassischen Abwanderungsregionen dauerhaft querfinanzieren. Was wurde nicht alles unternommen, um strukturschwache Regionen wie das Mezzogiorno oder die Nordost-Regionen Deutschlands „konkurrenzfähig“ zu machen – all diese Versuche erreichten trotz milliardenschwerer Transfers jedoch nie eine Angleichung der strukturellen Verhältnisse, sondern bestenfalls eine Verlangsamung der Scherenentwicklung zwischen den starken und den schwachen Regionen. Auch wenn dies selten offen gesagt wird, so hat man sich doch bereits damit abgefunden, dass es innerhalb von Nationalstaaten Regionen mit unterschiedlicher Wirtschaftskraft gibt. Es käme wohl niemand auf die Idee, dass sich in puncto Produktivität Florida mit Ohio, Mecklenburg-Vorpommern mit der Rhein-Main-Region oder das Mezzogiorno mit der Lombardei messen sollte. Paradoxerweise sind wir jedoch in der Wirtschafts- und Währungsunion der Eurozone immer noch felsenfest davon überzeugt, dass Griechenland ohne fremde Hilfe das Kunststück gelingen könnte, das Mecklenburg-Vorpommern und dem Mezzogiorno trotz Milliardenhilfen nicht gelungen ist.
Der Geist ist aus der Flasche. Selbst mit einer vorbildlichen Finanz- und Wirtschaftspolitik wird es Europa nicht gelingen, die dauerhafte Abwanderung von der Peripherie ins Zentrum zu verhindern. Einzig und allein das Ausmaß dieser Wanderungsbewegungen ist durch politische Maßnahmen zu beeinflussen. Bleibt Europa bei seiner selbstmörderischen Austeritätspolitik, wird das Wohlstandsgefälle innerhalb der Eurozone ebenso massiv zunehmen wie die zu erwartenden Migrationsströme. Ohne eine Angleichung der Lohnstückkosten, die vor allem über Lohnerhöhungen in Deutschland zu erreichen ist, und eine dauerhafte Transferunion stehen dem Süden düstere Zeiten bevor, die aufgrund der ökonomischen Wechselwirkungen auch im Norden negative Folgen haben werden. Innerhalb der Nationalstaaten ist eine solche Transferunion der Normalfall – so sorgt beispielsweise der Länderfinanzausgleich für eine Umverteilung der finanziellen Mitteln aus den strukturstarken Regionen des deutschen Südens und Südwestens in den strukturschwachen Osten, Norden und Nordwesten.
Mit einer dauerhaften Transferunion und dauerhaften Konjunkturprogrammen ließe sich zumindest ein dramatischer Abstieg der Peripherie verhindern – eine vollkommene Angleichung der Lebensverhältnisse wird es jedoch auch dann nicht geben. Durch die Wirtschafts- und Währungsunion ist die Eurozone zusammengewachsen, der Weg zurück ist keine realistische Perspektive, würde er doch allen Beteiligten massiven Schaden zufügen. Nun stehen wir an der Weiche für die Zukunft der Eurozone. Wenn wir den allgemeinen Wohlstand zumindest in Grundzügen als Ziel europäischer Politik begreifen wollen, muss Europa enger zusammenwachsen und – wie jeder Nationalstaat – zu einer dauerhaften Transferunion werden. Wollen wir das nicht, steht Europa vor einer Zeitenwende. Es wäre naiv anzunehmen, dass eine verarmende Peripherie, die vom gemeinsamen Wohlstand abgeschnitten ist und deren Kinder ihr Glück nicht mehr im Heimatland finden, demokratisch bleibt.