Syrien und die Scheinheiligkeit des Westens
Was auch in Syrien vor fast einem Jahr als arabischer Frühling begann, hat sich zu einem offenen militärischen Konflikt ausgeweitet. Die NATO würde gerne ihren „Erfolg“ in Libyen wiederholen und ihren Einflussbereich in Nahost auch dort mit militärischen Mitteln ausweiten. Wenn despotische Diktaturen wie Saudi-Arabien und Katar in den NATO-Chor einstimmen und anderen Ländern bei der Demokratisierung „helfen“ wollen, ist Obacht geboten. Oberste Vorsicht ist auch bei den in den letzten Tagen inflationär veröffentlichten Berichten über Gräueltaten des Assad-Regimes geboten – jeder Krieg, den der Westen in den letzten Jahrzehnten begonnen hat, wurde mit Lügen und Propaganda eingeleitet. Der Syrien-Konflikt ist kein Hollywood-Film, es gibt weder Gute noch Böse, sondern nur Interessengruppen, die sich nicht im Geringsten um Leib und Leben der Syrer scheren. Momentan steuert das Land mit tatkräftiger Unterstützung des Westens auf einen blutigen Bürgerkrieg zu. Die zur Schau getragene Empörung unserer Politiker und Medien ist dabei zu hinterfragen. Von Jens Berger.
Wenn man sich mit dem Thema Syrien auseinandersetzt, sollte man zunächst einmal tunlichst aufpassen, nicht in die Falle zu tappen, für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen. So sehr die machtpolitischen Ruchlosigkeit des Westens zu verurteilen ist, so sehr ist auch das syrische Assad-Regime zu verurteilen. Syrien ist eine lupenreine Einparteien-Diktatur, mit zahlreichen, miteinander konkurrierenden Geheimdiensten in der Menschenrechte systematisch verletzt werden und die politische Opposition seit Jahrzehnten brutal unterdrückt wird.
Russland kontra NATO
Es gibt in diesem Konflikt nun einmal weder nur Gute und nur Böse und das gilt ausdrücklich für beide Seiten. Diese simple Aussage war auch Grundlage des russischen Entwurfs für eine UN-Resolution vom 15. Dezember 2011. Während die westlichen Vetomächte USA, Großbritannien und Frankreich einen Entwurf vorlegten, der ausschließlich das Assad-Regime dazu aufforderte, die Gewalt mit sofortiger Wirkung einzustellen, sah der russische Entwurf eine Forderung nach einem Ende der Gewalt für beide Konfliktparteien vor. Zu diesem Zeitpunkt konnte der Konflikt schon lange nicht mehr mit dem simplen Bild „Regierungstruppen schießen friedliche Demonstranten nieder“ beschrieben werden. Neben friedlichen Demonstranten besteht die syrische Opposition auch aus einer mit (allerdings nur leichten) Waffen ausgestatteten Freischärlertruppe, die sich selbst den Namen „Freie syrische Armee“ (Armée syrienne libre/ASL) gegeben hat und die vor allem aus sunnitischen Deserteuren der regulären Streitkräfte besteht, zahlreichen bewaffneten Söldnern, die zum Teil zuvor auf Seiten der Rebellen in Libyen gekämpft haben und von den Regierungen Saudi-Arabiens und Katar bezahlt werden, und einer schwer zu überblickenden Schar von ebenfalls bewaffneten Aufständischen verschiedener sunnitischer Gruppierungen. All diese Gruppen werden über Schmuggelrouten, die zumeist durch den Libanon verlaufen, mit Waffen versorgt. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass diese Waffenkäufe nicht nur von reichen syrischen Exilanten, sondern auch von den Regierungen Saudi-Arabiens und Katars finanziert werden.
Mischt die NATO bereits mit?
Ob und in welcher Weise der Westen die Aufständischen bereits militärisch unterstützt, ist angesichts der mageren Quellenlage nicht mit Sicherheit zu sagen. An dieser Stelle sei jedoch auch auf einen Artikel des ehemaligen CIA-Offiziers Philip Giraldi hingewiesen, der nur wenige Tage nach der Vorstellung des russischen Resolutionsentwurfs im Dezember verfasst wurde:
Jenseits der Öffentlichkeit ist die NATO bereits heute unter Führung der Türkei als US-Stellvertreter im syrischen Konflikt engagiert. […] Nicht gekennzeichnete Flugzeuge der NATO landen auf Militärbasen in der Nähe der türkisch-syrischen Grenzstadt Iskenderum und laden dort sowohl Waffen aus den Arsenalen Gaddafis als auch Freiwillige des libyschen „Nationalen Übergangsrates“ ab, die im libyschen Bürgerkrieg bereits Erfahrungen gesammelt haben, wie man lokale Aufständische gegen ausgebildete Soldaten antreten lässt. Iskenderum ist auch der Sitz der „Freien Syrischen Armee“, dem bewaffneten Flügel des „Syrischen Nationalrats“. Französische und britische Militärausbilder sind dort vor Ort, um den syrischen Rebellen zu helfen, während die CIA und das amerikanische Kommando für Spezialeinsätze (U.S. Spec Ops) die notwendige Kommunikationsinfrastruktur und nachrichtendienstliche Informationen beisteuert, um die Sache der Rebellen zu unterstützen und ihren Kämpfern dabei zu helfen, syrische Truppenkonzentrationen zu umgehen.
Sofern Giraldis Bericht, der sich mit verschiedenen russischen Quellen deckt, den Tatsachen entsprechen sollte, wäre eine einseitige UN-Resolution, die nur das Assad-Regime zu einem Waffenstillstand verpflichten würde, während die Aufständischen sich weiter bewaffnen und sich nicht an den Waffenstillstand zu halten haben, freilich keine sinnvolle Basis für eine friedliche Lösung. Aus dieser Sichtweise wäre der russische Resolutionsentwurf auch wesentlich zielführender als der gemeinsame Entwurf der drei westlichen Vetomächte. Aber nicht nur dies, der Westen hat bereits im Fall Libyen gezeigt, wie weit er eine UN-Resolution auszudehnen bereit ist, wenn er sich davon einen Vorteil verspricht. Auch die Libyen-Resolution sah ursprünglich keinen Militäreinsatz des Westens vor, hatte jedoch deutliche Formulierungsschwächen hinsichtlich des Schutzes von Zivilisten, die vom Westen gründlich umgedeutet wurden. Es ist den Russen, die nicht das geringste Interesse an einer westlichen Intervention in Syrien haben, nicht zu verdenken, dass sie diesmal jeden Buchstaben der Resolutionsentwürfe sehr sorgsam prüfen.
Während der Streit der drei westlichen Vetomächte und Russlands Ende Dezember die westlichen Medien nicht großartig interessiert hat, wurde das doppelte Veto Russlands und Chinas bei der letzten Sitzung des Sicherheitsrats vom Westen und den westlichen Medien geradezu als Affront gewertet. Warum eigentlich? Russland und China haben einen eigenen Resolutionsentwurf vorgelegt, der sich streng genommen nur in zwei Punkten vom westlichen Entwurf unterscheidet – man fordert beide Seiten zu einem Waffenstillstand auf und vermeidet jegliche Formulierung, die zu einem „Interventionsautomatismus“ umgedeutet werden könnte. Ginge es dem Westen um Demokratie und ein Ende der Gewalt, hätte man ohne Vorbehalte den russischen Entwurf beschließen können. Dem Westen geht es aber weder um Demokratie noch um ein Ende der Gewalt. Man will vielmehr eine der letzten Regierungen des Nahen Ostens stürzen, die sich noch nicht im Machtbereich des Westens befindet. Es geht also vor allem auch um Machtpolitik, ganz unabhängig davon wie man das Assad-Regime beurteilen mag. Um die Motive besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Gemengelage.
Syrien und Russland – gute alte Freunde
Seit die Baath-Partei sich unter Hafez al-Assad, dem Vater des heutigen Präsidenten Baschar al-Assad, 1970 an die Macht putschte, ist Syrien ein enger Verbündeter der Sowjetunion bzw. später Russlands. Syrien ist nicht nur ein guter Kunde für russische Waffensysteme, sondern beherbergt in Tartus auch den einzigen Marinestützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte im Mittelmeer. Syrien ist für Russland von strategischer Bedeutung und es ist sehr wahrscheinlich, dass eine Regierung der pro-westlichen oder islamistischen Oppositionskräfte sich von Russland lösen dürfte. China hat zwar keine strategischen Interessen in Syrien, ist jedoch als neue Supermacht besorgt, dass der Westen sich Stück für Stück vom energiereichen Nahen Osten unter den Nagel reißt und sieht im Syrien-Konflikt einen Zwischenschritt zum aufkeimenden Iran-Konflikt, der für China von oberster Priorität ist. Und China ist einer der Hauptkunden für die iranischen Erdölexporte. Um Menschrechte oder gar Demokratie geht es Russland und China nicht. Sowohl Russland als auch China kommen prächtig mit dem Diktator al-Assad aus, wissen aber auch, dass seine Zeit abgelaufen ist und setzen daher auf einen Dialog, bei dem die herrschende Baath-Elite am Ende des Reformprozesses an der Macht bleibt.
Eben dies will der Westen jedoch verhindern, hat der Libyen-Krieg doch gezeigt, wie einfach man den arabischen Frühling militärisch nutzen kann, um sich neue Partner heranzuzüchten. Um Demokratie und Menschenrechte geht es dabei nicht, was auch mit den Bündnispartnern im Syrien-Konflikt – Saudi-Arabien und Katar – nicht zu vermitteln wäre. Es geht um ganz profane Hegemonialinteressen und man ist davon überzeugt, dass sich momentan eine einmalige Gelegenheit bietet, Syrien der eigenen Interessenssphäre einzuverleiben. Diese Strategie gleicht freilich der eines Hasardeurs. Die Gemengelage innerhalb der Opposition ist unüberschaubar. Zwar wird der „Syrische Nationalrat“ von einem pro-westlichen Exilanten namens Burhan Ghaliun angeführt. Ghaliun sitzt jedoch in Paris und vor Ort besteht die Opposition nicht aus pro-westlichen Schöngeistern, die sich mehr Demokratie wünschen, sondern größtenteils aus religiösen Sunniten, die sich gegen die herrschende schiitische Minderheit der Alawiten an die Macht bringen wollen. Da wundert es einen nicht, dass die anderen Minderheiten (Christen, Drusen) auch auf Seiten Assads stehen, ahnen sie doch bereits, dass ihre Rechte unter einer sunnitischen Mehrheitsregierung keineswegs mehr Geltung bekommen.
Magere Faktenlage
Niemand kann momentan mit Sicherheit sagen, was in den umkämpften Städten, wie beispielsweise Homs, wirklich vor sich geht. Es ist nicht auszuschließen, dass die westlichen Medien Recht haben und die syrische Armee mit „unangemessener Gewalt“ gegen die bewaffneten Aufständischen vorgeht. In Syrien tobt ein Bürgerkrieg. C´est la guerre – das mag zynisch klingen, es hätte jedoch nicht so weit kommen müssen. Dennoch wäre dies eine sehr seltsame – und von vorne bis hinten unlogische – Koinzidenz. Während die „internationale Gemeinschaft“ (also die USA, Großbritannien und Frankreich) offen mit Krieg droht, liefert ihr Assad den Casus Belli frei Haus? Assad ist ein Despot, der nichts von Menschenrechten und Demokratie hält, so dumm ist er aber auch nicht. Unabhängige Zeugen aus Homs stellen die dortigen Geschehnisse auch gänzlich anders dar als die westlichen Medien. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass dies auch nur Quellen sind, die ohne zusätzliche Informationen nicht verifizierbar sind.
Verifizierbar ist jedoch der Endbericht [PDF – 193 KB] der Beobachter der Arabischen Liga, der die Lage vor Ort gänzlich anders darstellt, als die westlichen Medien. In diesem Bericht ist vielmehr davon die Rede, dass hunderte tote Zivilisten auf das Konto der Aufständischen („bewaffnete Gangs“) gehen und dabei als „militärische Mittel“ unter anderem den Angriff auf zivile Busse, Treibstofftransporte auf Straße und Schiene, Polizeibusse, Brücken und Pipelines eingesetzt werden. Das verträgt sich nicht mit den friedlichen Aufständen, von denen immer die Rede ist. Auf der anderen Seite konnten die Beobachter jedoch keinen Hinweis auf organisierte, tödliche Repressionen der syrischen Regierung gegenüber friedlichen Demonstranten finden. Die Beobachter der Arabischen Liga sind unverdächtig, ein „assadfreundliches“ Gefälligkeitsgutachten erstellt zu haben, wurden sie doch auch im Auftrag der Kriegstreiber in Saudi-Arabien und Katar entsandt. Über die aktuellen Geschehnisse in Homs können diese Berichte jedoch keine Auskunft geben. Die Beobachter mussten vor drei Wochen das Land verlassen, nachdem sie – nach eigenen Angaben – von Aufständischen bedroht wurden. Was für ein seltsamer Zufall.
Lügen und Propaganda
Wir tappen also als Beobachter im Dunkeln und sollten Berichten von beiden Seiten mit einem gesunden Misstrauen begegnen. Leider lassen die Massenmedien jegliches Misstrauen gegenüber den Quellen aus dem Umfeld der syrischen Opposition vermissen. Aber das kennen wir ja schon. Auch im Vorfeld des Irak-Krieges wurde von der Politik und den Medien gelogen, bis sich die Balken bogen. Im Vorfeld des Kosovo-Krieges logen sogar der deutsche Außenminister und der deutsche Verteidigungsminister ihr Volk ganz offen an – und die Medien folgten ihnen. Auch beim russisch-georgischen Krieg und im Vorfeld des Libyen-Krieges verbreiteten die Medien munter und ungeprüft die Propaganda der pro-westlichen Seite. Das alte Sprichwort, nachdem das erste Opfer im Krieg die Wahrheit ist, ist nicht ganz korrekt, denn die Wahrheit wird bereits zu Grabe getragen, bevor der erste Schuss abgegeben wird.
Sollte der Westen keine 180-Grad-Wende vollziehen, stehen alle Zeichen auf Bürgerkrieg. Ein solcher Bürgerkrieg wäre ein blutiger Stellvertreterkrieg, bei dem Russland die Regierungstruppen und der Westen die Aufständischen materiell und logistisch unterstützten würde. Das Opfer wäre das ganz gemeine Volk. Aber ist dies nicht bei allen Kriegen so?
P.s.: Wer das russisch-chinesische Veto im UN-Sicherheitsrat „grotesk“ (US-Außenministerin Clinton) oder gar „ekelhaft“ (US-UN-Botschafterin Rice) findet, sollte sich einmal die sehr lange Liste der US-Vetos vor diesem hohen Organ anschauen – viele dieser Vetos sind wirklich grotesk und ekelhaft.
P.p.s.: Für einen umfassenden Blick auf die geostrategische Problematik des Syrien-Konflikts wäre es noch nötig, auch die „Nebenkriegsschauplätze“ zu betrachten. Sowohl die ambivalente Position Israels als auch die Frage der Türken und der Kurden spielen eine weitere Rolle im Konflikt. Aus Platz- und Verständnisgrünen habe ich diese Fragen jedoch außen vor gelassen.
An dieser Stelle sei auch noch einmal auf unseren Aufruf „Massive Manipulationen wegen eines Aufrufs gegen Kriegsvorbereitung und Embargo Syriens und des Iran“ vom 16. Januar hingewiesen.