Flassbecks „Zehn Mythen der Krise“ – ein Kippbild zur herrschenden Lehre
Heiner Flassbeck, 1998/1999 Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen und seit 2003 Chefvolkswirt der Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) liebt die klare Sprache und er ist ein unerbittlicher Kritiker der herrschenden ökonomischen Lehre. Sein wirtschaftstheoretischer Blick auf die Wirklichkeit lässt sich – bildlich gesprochen – am ehesten mit einem Kippbild vergleichen. Das heißt, man muss sich auf einen Wechsel der Wahrnehmung der ökonomischen Zusammenhänge gegenüber der „Mainstream-Ökonomie“ einlassen und erkennt plötzlich ein völlig anderes Bild als dasjenige, das die herrschende Meinung zeichnet. Von Wolfgang Lieb
Hier ein bekanntes Beispiel für ein solches Kippbild:
Sieht die herrschende Meinung eine Vase, so sagt Flassbeck, dass das Profil zweier Gesichter zu erkennen ist. Das Bild der Vase ist für ihn nur eine falsche Vorstellung, oder eben ein Mythos. Wirklich sind die beiden Köpfe bzw. deren Silhouetten, die ausgeblendet werden, wenn man seinen Blick ausschließlich auf die Kontur des Leerraums zwischen den beiden tatsächlich vorhandenen Gesichtern im Schattenriss beschränkt.
Man muss bereit sein, sich auf diese andere Sichtweise einzulassen, wenn man Flassbeck verstehen will. Übertragen auf die Ökonomie heißt das:
Sehen die „Mainstream-Ökonomen“ den „Markt als optimal funktionierenden Mechanismus“, so können ökonomische Krisen nie im Markt ihre Ursache haben, sondern die Ursachen müssen bei diesem Weltbild außerhalb des unfehlbaren Marktes liegen, im Regelfall beim „extrem fehlbaren“ Staat. (S. 7) So sei die Mehrzahl der Ökonomen, aber auch der Politiker auf eine Interpretation eingeschwenkt, dass die Hauptursache der Finanzkrise die leichte Geldpolitik (billige Hypothekenzinsen) der amerikanischen Zentralbank gewesen sei.
So sprach etwa auch der damalige Finanzminister Peer Steinbrück von einem „Spring-ins-Feld-Teufel“, der Deutschland und Europa ohne Ankündigung von Amerika aus überfallen hat. Eine ganz ähnliche „Umdeutung“ des Bildes, sei gelungen, als die herrschende Lehre und mit ihr die Politik die „Finanzkrise“ und die „systemische Krise der Währungsunion“ plötzlich als eine „Schuldenkrise“ einiger südeuropäischen Länder betrachtete, obwohl doch die Schulden eindeutig erst im Gefolge der Krise bedrohlich gestiegen waren. Mit dieser „Umdeutung“ sei der Schwarze Peter einmal mehr, von den Märkten weg und den Staaten, also der Politik zugeschoben worden.
„Statt sich ernsthaft mit den Problemen auseinanderzusetzen, talkt sich die moderne Mediengesellschaft durch die Krise; man streift dabei zwar immer wieder einmal kurz die Oberfläche der Probleme, steigt dann allerdings, erschrocken ob der Abgründe, die man erblickt, sofort wieder in die warme ideologische Wolke auf. Geleitet wird die Mediengesellschaft dabei von einer Disziplin, die sich als Hohepriester des Glaubens an die Freiheit der Märkte versteht und diese ideologische Position mit Zähnen und Klauen, die Macht des Geldes allzeit hinter sich wissend, verteidigt. Nur Aufklärung, Entmythologisierung kann hier eine Wende erzwingen.“ (S. 9)
Die Chancen für ein Umdenken und für eine alternative Sichtweise schätzt Flassbeck allerdings ziemlich düster: „Erst wenn alle Dämme brechen, hört man nicht mehr auf die Experten, die über Jahre erklärt haben, die Dämme seien absolut sicher.“ (S.9) Der Zeitpunkt einer Entmythologisierung könnte aber jetzt gekommen sein, wo – entgegen aller Beschlüsse zur Verminderung der Staatsdefizite – eine europäische, wenn nicht sogar eine globale wirtschaftliche Rezession mit noch weiter steigenden Staatsdefiziten die Dämme der herrschenden Mythen zum Brechen bringe.
Flassbeck versucht in seiner kleinen Schrift den Wahrheitsanspruch von zehn der gängigsten Mythen der herrschenden Lehre in Frage zu stellen oder durch rationale Gegenargumente zu widerlegen.
Da ist zunächst der Mythos „Finanzmärkte sind effizient“. Damit wurden ja sämtliche Deregulierungsmaßnahmen seit dem Washinton Consensus und seit dem Aufstieg des politischen Neoliberalismus mit Thatcher und Reagan und schließlich auch bei uns in Deutschland begründet.
Das idyllische Bild vom Marktplatz wo Anbieter und Nachfrage den Preis aushandeln sei nicht nur auf vermachteten Arbeitsmärkten fundamental falsch sondern auch schon auf vielen Güter- und Dienstleistungsmärkten und geradezu grotesk falsch sei es für die Finanzmärkte, wo Informationen über die Zukunft gehandelt werden. (S. 11)
Das Dogma der effizienten Finanzmärkte breche deswegen in sich zusammen, weil es rational sei, auf diesem Markt deswegen zu kaufen, weil man in der Zukunft erwarte, dass viele das Gleiche tun und sich damit der Preis erhöht. Es sei also nur normal, wenn es zu einer Art „Herdenbildung“ komme, die systematisch falsche Preise bildet, weil diese Preise mit Angebot und Nachfrage an realen Märkten nichts mehr zu tun hätten. Am deutlichsten werden dieser Herdentrieb an den Währungsspekulationen sichtbar, wo sich die Herde die Wechselkurse nachweislich über Jahre gegen die Fundamentaldaten und damit in die falsche Richtung bewegt hätten – mit verheerenden Schäden für die jeweiligen Realwirtschaften. Auch auf den Rohstoffmärkten oder den Märkten für Grundnahrungsmittel ließen sich solche Herdenphänomene mit all ihren negativen Folgen aufzeigen.
Weil niemand einen Gleichgewichtspreis kenne, könne auch niemand diesen unbekannten Gleichgewichtspreis stabilisieren:
„Man kann die Fehlfunktion der Finanzmärkte auf die einfache Formel bringen, dass normale Märkte Knappheit beseitigen, also zu Preissenkungen tendieren, während Finanzmärkte Knappheit schaffen, also zu Preiserhöhungen tendieren. An einem normalen Markt wird ein Investor belohnt, wenn er als erster eine Knappheit in Gestalt »zu hoher Preise« erkennt und beseitigt; an den Finanzmärkten hingegen wird der Investor belohnt, dem es gelingt, möglichst viele »Investoren« in einen Markt zu locken, was zu Preiserhöhungen führt. Seine Kunst ist es nur, als erster wieder auszusteigen, also rechtzeitig zu de-investieren.“
Dass die Regierungen erkannt hätten, dass sie handeln müssten, ist der zweite Mythos, den Flassbeck zerstört. Die Regierungen hingen auf Grund von Vorurteilen und dem massiven Druck von Lobbys und von „Experten“ dem ersten Mythos an. (Die Meinungsmache der Medien auf die Parteien und auf die Politik hat Flassbeck an dieser Stelle allerdings unterschlagen.)
Zwar habe man sich als die Panik nach dem Ausbruch der größten Krise des Kapitalismus ausbrach an die Lehre vom aktiven Staat erinnert, doch zwei Jahre später dominiere trotz der Rezessionsgefahr schon wieder das Dogma des Schuldenabbaus. Die Bekämpfung der eigentlichen Ursache der Krise, also des „Herdentriebs“ verblieb bei Ankündigungen. Im Gegenteil es gehe schon zum zweiten Mal um die Rettung der Banken. Die Weltwirtschaft schlittere in die zehnte große Finanzkrise der letzten dreißig Jahr, ohne dass man bei der Analyse der Ursachen auch nur einen Millimeter weitergekommen wäre. (S. 17)
Flassbeck widerlegt einen weiteren aktuellen Mythos, dem von den Regierungschefs von einem Gipfel zum anderen gehuldigt wird, nämlich: Die Staatsschulden sind die eigentliche Ursache der Krise. Es lasse sich zwar glasklar nachweisen, dass die Eurokrise andere Ursachen hat und dass weltweit die Schulden eindeutig nach der Finanzkrise und wegen der von ihr ausgelösten Rezession und der Rettung von Banken gestiegen sind, doch die Schuld dem Staat in die Schuhe zu schieben und den Markt reinzuwaschen, passe perfekt in die Programme der konservativen und liberalen Parteien, nach denen Steuererhöhungen für alle Zeit verboten und Steuersenkungen jederzeit geboten seien und somit die permanente Kürzung staatlicher Ausgaben erzwungen werde. So bilde „die deutsche Forderung nach einer in der Verfassung verankerten »Schuldenbremse« für alle Länder der Eurozone den Höhepunkt dieser Verdrängungsstrategie.“ (S. 20) Mit dem allein gegen den Staat gerichteten Handeln, verstießen die Politiker – deren ökonomischer Horizont nicht über den einer schwäbischen Hausfrau hinausreiche – sogar gegen die herrschende ökonomische Lehre, noch mehr, sie zerstörten die Grundlagen für eine funktionierende Marktwirtschaft:
„Suggeriert man dem Bürger…, dass er zwar sparen darf, die anderen aber gleichwohl ihre Einnahmen und Ausgaben ausgleichen sollen, dann ist dies gefährlicher Unsinn, weil man damit ein Rezept verordnet, dass zwingend darauf hinaus läuft, dass die Wirtschaft in einer schweren Rezession und einer immerwährenden Schrumpfung versinkt.“ (S. 20)
Gebetsmühlenhaft wiederholt die Kanzlerin: Wir leben über unseren Verhältnissen. Damit werde das Bauchgefühl angesprochen, dass Schulden unsolide und bedrohlich seien. Diese Mentalität werde einerseits von den mikroökonomisch denkenden Marktgläubigen ausgenutzt und liefere andererseits grünen und generell wachstumskritischen Bewegungen ihre konservative Basis. Darüber hinaus sei eine Wirtschaftspolitik, die durch neue Schulden einen Wachstumsschub auslösen oder zumindest einen Einbruch verhindern wolle, auch bei der systemkritischen Linken verhasst.
„Beides, der Versuch unter den eigenen Verhältnissen zu leben ebenso wie der Versuch, darüber zu leben, sind jedoch keine vernünftigen Optionen.“ (S.23) Beides geschehe jedoch auf der Ebene der Nationalstaaten laufend. „Einige Länder leben fast immer unter ihren Verhältnissen, andere nahezu permanent darüber. Nun ist es angesichts der Verhältnisse zwingend, dass der, der weniger verbraucht, als er produziert (also unter seinen Verhältnissen lebt), demjenigen, der mehr verbraucht, temporär die Verfügungsrechte über seine ersparten Ressourcen einräumen muss, weil sonst die Rechnung nicht aufgehen kann. Der eine gibt einen Kredit, und zwar in der Hoffnung, der andere werde in der Zukunft in der Lage sein, den Kredit zurückzuzahlen. Wobei Zurückzahlen wiederum zwingend heißt, dass derjenige, der bisher Defizite (in seiner Leistungsbilanz, wie die Ökonomen sagen) hatte, in Zukunft Überschüsse haben muss, weil er bei andauernder neuer Nettokreditaufnahme ja niemals etwas zurückzahlen kann.“ (S.23f.) Wer wie Deutschland seine Überschüsse (d.h. ein Leben unter seinen Verhältnissen) mit Zähnen und Klauen verteidige, der müsste eigentlich wissen, dass auf Dauer ein Großteil der geschaffenen Ressourcen verloren sind, weil er den Schuldnern nicht erlaubt, in eine Position zu gelangen, in der sie zurückzahlen könnten. Noch absurder sei es – wie das gegenwärtig geschehe – das man den Schuldnerländern scharfe Restriktionen auferlege, um diese wettbewerbsfähig zu machen und gleichzeitig seine Überschüsse verteidige. Einzelwirtschaftlich könne zwar ein einzelner Schuldner seine Bilanz durch Einsparungen konsolidieren, ohne dabei den (Absatz-)Markt seines einzelnen Gläubigers zu berühren, gesamtwirtschaftlich gehe aber diese Rechnung praktisch niemals auf.
Der fünfte Mythos sei: Es gibt gar keine Eurokrise, Europa ist in der Krise wegen überhöhter Staatsschulden einiger kleiner Länder. Die Eurokrise sei der Höhepunkt der Verdrängung der Ursachen der Krise und ihrer ideologisch gefärbten Umdeutung.
Von Anfang sei die Europäische Währungsunion (EWU) unter einem verhängnisvollen Stern gestanden, weil sich Deutschland darauf kaprizierte, den Staatsschulden und der Inflation unter den Kriterien, die für eine Mitgliedschaft qualifizierten, den mit Abstand wichtigsten Rang einzuräumen. Es gebe jedoch keinen engen sondern allenfalls einen sehr verschlungenen Zusammenhang zwischen Staatsschulden und Inflation über die die Europäische Zentralbank ja ausschließlich wachen dürfe.
„Der einzig klar nachweisbare Zusammenhang ist der zwischen dem allgemeinen Kostenniveau einer Volkswirtschaft und dem Preisniveau bzw. dessen Entwicklung.“ Seit über 60 Jahren gebe es einen äußerst stabilen Zusammenhang von den Löhnen hin zu den Preisen, doch dieser werde systematisch von der herrschenden Volkswirtschaftslehre geleugnet.
Das hätte man schon bei der deutschen Einheit, also einer deutsch-deutschen Währungsunion beobachten können. Auch dabei habe das zentrale Problem im Auseinanderlaufen der Lohnstückkosten und damit der Wettbewerbsfähigkeit bestanden, die letztliche in einer weitgehenden Deindustrialisierung Ostdeutschlands endete.
Die Finanzkrise habe die Ignoranz gegenüber dem Zusammenhang zwischen Lohnstückkosten und Preisen auch auf europäischer Ebene offen zu Tage treten lassen:
„Weil Deutschland in völliger Verkennung der Bedingungen in einer Währungsunion sofort nach dem Inkrafttreten der entsprechenden Verträge anfing, das gemeinsam festgelegte Inflationsziel in dem Versuch zu unterlaufen, durch Lohnsenkungen seine Wettbewerbsfähigkeit voll gegen die europäischen Partner auszuspielen, die sich nun nicht länger über die Abwertung ihrer Währungen wehren konnten, war die Währungsunion sozusagen von der ersten Stunde an auf einem Pfad in den Untergang.“ (S. 29)
Anders als es die Legende besage, habe Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit nicht etwa durch hohe Produktivität, sondern durch eine politisch inszenierte Lohndrückerei gegenüber den Partnern in der Währungsunion verbessert.
„Während die Produktivität pro Stunde in Deutschland von 1999 bis 2011 jährlich um 1,2 Prozent stieg (was weder historisch noch im gesamteuropäischen Maßstab ein besonders guter Wert ist), stiegen die Reallöhne (inflationsbereinigte Nominallöhne pro Stunde) nur um 0,7 Prozent. In Frankreich, um nur das am wenigsten bekannte Beispiel zu nennen (für nur wenige Länder gibt es überhaupt Zahlen je Stunde), stiegen die Reallöhne mit 0,8 Prozent pro Stunde etwas stärker als die heimische Produktivität, und die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland verschlechterte sich erheblich.“
Auf diese Weise habe sich Deutschland im Laufe von 10 Jahren einen Wettbewerbsvorsprung bei Waren und Dienstleistungen zwischen 25 Prozent (gegenüber Südeuropa) und 15 Prozent (gegenüber Frankreich) verschafft. Diese Diskrepanz habe auf Dauer notwendig zum Auseinanderbrechen der EWU führen müssen, weil kein Land einen solchen Rückstand unbeschadet aufholen könne, wenn die Option einer Wechselkursänderung fehle. Der Gewinn des einen an Wettbewerbsfähigkeit sei aber in einem so engen Währungsverbund immer der Verlust eines anderen. Wenn jetzt aber andere Länder gezwungen würden, durch drastische Lohnsenkungen aufzuholen, so müsse das sowohl zu Exporteinbußen Deutschlands und insgesamt in einer Rezession enden. Wer sich nun als Gewinner hinstelle und von den Verlierern verlange, sie sollten seinem Beispiel folgen, der betreibe Desintegration und schließe letztlich die Verlierer aus der Eurozone aus.
Der Mythos „Die Staaten müssen sparen“, schließe gleich drei weitere Mythen ein:
- Erstens eine Schuldenaufnahme des Staates sei grundsätzlich unanständig, weil er künftige Generationen belaste.
- Zweitens bestehe der Glaube, dass man ohne Schulden auskommen könne.
- Drittens Geldvermehrung führe zwingend zu Inflation. Auch diese Denkfehler arbeitet Flassbeck nacheinander ab.
Wer mit Hilfe einer Hypothek ein Haus baue, belaste die nachfolgende Generation nicht, sondern er schaffe einen Wert, der vererbt wird. Bei Schulden des Staates sei es nicht anders. Sogar wenn die Öffentliche Hand nicht einmal investiere, sondern konsumiere, ginge das nicht zu Lasten von Kindern und Enkeln, denn hinter jeder Verschuldung stehe jemand, der eben nicht konsumiere sondern spare und das Ersparte für einen vernünftigen Zins verleihe. Die entsprechenden Forderungen aus dem geliehenen Geld an den Staat vererbten sich jedoch gleichermaßen. Die Vermögensposition zukünftiger Generationen verschlechtere sich also logischerweise nicht.
(Ich habe an dieser Stelle bei Flassbeck allerdings den Gedanken vermisst, dass sich hinter der Frage, wer in der heutigen Generation und in allen nachfolgenden Generationen die Forderungen gegenüber dem Staat besitzt, ein massives Verteilungsproblem, also eine intragenerative und eben nicht eine intergenerative ungleiche Vermögensverteilung verbirgt. Auch die Zinsen für die Kredite (Staatsanleihen) müssen von der künftigen Generation bezahlt werden und dabei findet eine weitere Umverteilung zwischen Forderungsinhabern und der Masse der Steuerzahler statt.)
Der Einwand der Staat stehe mit seinen Schulden privaten Gläubigern im Wege, sei wiederum einer der Mythen der Verteidiger der freien Marktwirtschaft. Die Bildung von privaten Ersparnissen stünde nämlich erfolgreichen, d.h. gewinnbringenden Investitionen diametral entgegen:
„Wenn nicht sonst irgendwo auf der Welt jemand seine Ersparnisse reduziert, bedeuten mehr Ersparnisse der privaten Haushalte unmittelbar weniger Nachfrage für die Unternehmen… Jeder Euro, der nicht von den Konsumenten an die Unternehmen (von denen erstere ihre Euros ja in Form von Löhnen überwiegend bekommen haben) zurückfließt, stellt für letztere einen Verlust dar.“ (S. 36)
Die Aufhebung dieser Paradoxie heiße „Papiergeld“, also sozusagen „Ersatzersparnisse“, die die Nachfrage nach Produkten nicht dämpfen. „Von Notenbanken aus dem Nichts geschaffenes Papiergeld ist das institutionalisierte Vertrauen in die Zukunft, das moderne Marktwirtschaften erst möglich, weil erfolgreich gemacht hat.“ (S.36) Von Sparwünschen unabhängige Investitionen schafften erst die Dynamik auf der Angebots- und Nachfrageseite.
Breche eine solche Dynamik aus unterschiedlichsten Gründen jedoch ab, müsse vorübergehend der Staat das System stabilisieren: „Ein Staat, der, wie das in der Eurokrise geschieht, seine Sparversuche mit dem »Vertrauensverlust der privaten Investoren in die Staaten« begründet, hat das System ganz fundamental missverstanden.“ (S.37) Der Name Brüning stehe in Deutschland für eine Politik, die diesen zentralen Zusammenhang verkannt hat.
Beim achten Mythos setzt sich Flassbeck mit der im kollektiven Gedächtnis der Deutschen tief verankerten Inflationsangst und der derzeit wieder allseits zu hörenden Behauptung auseinander, zu viel Geld von der Notenbank inflationiere die Wirtschaft. Zwar könne eine Inflation immer nur dann entstehen, wenn die Zentralbank bereit sei, sie zu finanzieren.
Anders als die „Monetaristen“ meinten, sei Geld zwar eine notwendige, aber keineswegs eine hinreichende Bedingung für eine Inflation. So versuchten in Europa derzeit alle Länder, ihre Wirtschaftsprobleme über Lohnsenkungen zu lösen, aber dann könne die Notenbank noch so viel Geld ins System pumpen, das Ergebnis werde Deflation sein. Im Gegensatz zum Geldmengen-Dogma habe eine Inflation nämlich genau zwei ggf. miteinander zusammenhängende Ursachen: hohe Nachfrage oder stark steigende Kosten. Nur wenn es mit dem Geld der Zentralbank gelänge die Konjunktur zu überhitzen und gleichzeitig stark steigende Nachfrage und stark steigende Löhne zu schaffen, dann könne es eine Inflation geben. (S.40f.)
Schließlich geht Flassbeck noch auf die populistisch verbreitete Hauptsorge der Deutschen ein, nämlich dass Deutschland zum Zahlmeister Europas würde. Unter anderem wird gesagt, Deutschland gefährde seine eigene Solidität, weil es „unsolide Staaten“ unterstütze.
Die Sachlage sei jedoch eine andere. Griechenland und andere Länder in Schwierigkeiten hätten als Mitglieder der Eurozone einen Anspruch darauf, dass die Europäische Zentralbank als „Kreditgeber der letzten Zuflucht“ (lender oft he last resort) zur Seite springe.
Hätte die EZB rechtzeitig interveniert, wäre der Zins niemals so hoch gestiegen. In der Wut der der politischen Rechten über die Griechen und in der beleidigten Attitude der Linken, dass die Banken nicht ungeschoren davon kommen dürften, sei übersehen worden, dass die Gläubiger von Staaten in aller Regel eben nicht die Spekulanten seien. Solide Geldanleger hätten im Gegenteil durch die einsetzende Spekulation Geld verloren, weil der Wert der Anleihen gefallen sei. Dass bei Banken viele Staatsanleihen in den Büchern stünden sage noch nichts darüber, wer bei einem Kreditausfall tatsächlich in Mitleidenschaft gezogen würde. Der Kreditausfall auch nur eines einzigen verschuldeten Staates berge ein enormes Risiko, der absurderweise wieder die Staaten als Retter der Banken auf den Plan rufen würde. Die Eurozone sei nicht zu retten, wenn Deutschland nicht lerne, dass es für keinen Staat der Welt eine kurzfristige Überbrückungslösung geben könne, wenn nicht die Zentralbank eingreife und weitere Spekulationen stoppe. (S.44)
Die Rettungsschirme in drei- oder gar vierstelliger Milliardenhöhe brächten keine Lösung des Problems, sondern würden nur weiter in den Untergang führen, wenn den eigentlichen Ursachen der Krise, den Ungleichgewichten in der Wettbewerbsfähigkeit kein Riegel vorgeschoben werde. „Deutschland hilft zwar dabei, die durch die eigene Raserei entstandenen Wunden zu verbinden, denkt aber nicht im Traum daran, diese Raserei zu beenden.“ (S. 44)
Statt umzukehren herrsche in Deutschland der Mythos des „Weiter so“. In den USA, in Europa und in Japan stocke die Konjunktur, weil der private Konsum stocke und das wiederum weil die Löhne nicht anstiegen und die Löhne stiegen nicht an, weil es die große Reservearmee der Arbeitslosen gebe. Das sei die Ursachenkette und darin zeige sich der „finale Widerspruch“ der neoklassischen, neoliberalen Lehre auf globaler Ebene:
„Weltweit ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, obwohl die Löhne nicht gestiegen sind, und die Arbeitslosigkeit sinkt nicht, obwohl die Löhne sinken… Da es für diese drei großen Wirtschaftsräume kein Exportventil auf dieser Welt gibt, das sie erlösen könnte, führen stagnierende private und schrumpfende öffentliche Nachfrage wegen staatlicher Konsolidierungsversuche zu einem Szenario, auf das die aufgeblasenen Finanzmärkte mit einer neuen Krise reagieren. Was als »Aufschwung« an den Finanzmärkten im Frühjahr 2009 begann, hätte von einem Aufschwung bei den Einkommen der Menschen unterlegt sein müssen, um dauerhaft Werte zu schaffen.“ (S.46)
In Deutschland sei jedoch die Politik einer einseitigen Förderung der Unternehmensgewinne durch den Staat und durch die Tarifpartner (Lohnzurückhaltung) so weit getrieben worden, dass die Unternehmen nicht mehr wüssten, wohin mit dem Geld und statt das Geld in Sachanlagen zu investieren, habe man es auf den Kapitalmarkt getragen, um es von Investmentbankern im globalen Spielkasino mehren zu lassen. (S. 48)
Es sei genau das eingetreten, was keynesianisch ausgerichtete Ökonomen immer schon vorhergesagt hätten:
„Man kann mit relativer Lohnsenkung den Nachbarn Marktanteile abjagen, wenn diese Abwertung über die Löhne nicht durch eine Aufwertung der Währung ausgeglichen wird. Man wusste aber gleichwohl, dass ein Land, das eine solche Strategie einschlägt, bei der Binnenkonjunktur mehr verliert, als es beim Export gewinnt.“
Deutschland könne und dürfe so nicht weitermachen. Es müsse zu einem Wirtschaftsmodell zurückkehren, das darauf beruhe, dass sich die Unternehmen verschuldeten, weil sie in Erwartung kräftig steigender Nachfrage Gewinne erwarteten und zwar nicht nur über die Nachfrage aus dem Ausland sondern vor allem vom deutschen Binnenmarkt. Das funktioniere nur durch kräftig steigende Löhne und zwar über viele Jahre hinaus, nämlich so lange bis die anderen Länder ihre unhaltbare Situation überwunden hätten.
Wenn aber Deutschland seine aggressive Politik zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit so weiter treibe, würden andere Länder nur weiter in die Verschuldung getrieben. Wenn die in dem Büchlein aufgezeigten Mythen nicht durch eine rationale Wirtschaftspolitik durchbrochen würden und die anderen weiter nur als „Sünderstaaten“, die sich etwas zu Schulden kommen hätten lassen, verurteile, und ihnen sozusagen als gerechte Strafe nun neoliberale Diktate unter Beschädigung ihrer Souveränität aufzwinge, dann bleibe man nicht nur ökonomisch auf dem Holzweg, sondern das gefährde die Europäische Union insgesamt und öffne das Tor für einen neuen Nationalismus. Ob die Demokratie das überlebe, sei eine offene Frage.
Fazit: „Zehn Mythen der Krise“ ist ein lesenswertes knappes Brevier, das eine alternative Sicht der der Ursachen der derzeitigen Krisen bietet und deutlich macht, warum das derzeitige Kurieren an Symptomen so erfolglos sein muss.
Das Büchlein verzichtet zum besseren Verständnis für den ökonomisch nicht vorgebildeten Leser auf theoretische Details und macht sich vielleicht deshalb durch die „Experten“ der herrschenden ökonomischen Lehre angreifbar. Wer es ökonomisch differenzierter und anspruchsvoller haben möchte, der muss sich schon der Mühe unterziehen und die Bücher lesen, in denen Flassbeck seine in „Zehn Mythen der Krise“ verdichteten Thesen ausführlicher dargestellt hat. (Z.B. „Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts“ oder „Gescheitert – Warum die Politik vor der Wirtschaft kapituliert“ oder „Das Ende der Massenarbeitslosigkeit“.
Um der Aktualität willen wird an manchen Stellen mit „heißer Nadel“ gestrickt, doch gerade die etwas plakative Zeichnung könnte den Leserinnen und Lesern den Blick dafür schärfen, was bei dem derzeit vorgegaukelten Kippbild Leerraum ist und was das wirkliche Bild ist.
Bibliografische Angabe:
Heiner Flassbeck, Zehn Mythen der Krise
Edition Suhrkamp digital, Berlin 2012, 60 Seiten, 4,99 Euro