Angela Merkel schwimmt auf einer Welle dumpfer Vorurteile und clever gemachter Propaganda – und viele Opfer schwimmen mit

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Für Ökonomen ist schwer auszuhalten, was zur Zeit in Deutschland und Europa abläuft und dessen Triebfeder im wesentlichen Deutsche unter Anleitung der Bundeskanzlerin sind. Immerhin, die geharnischten Klagen einiger Medien über diesen Zustand und die möglichen bösen Folgen sind bemerkenswert, weil in dieser Fülle und Klarheit neu. Ich mache den Versuch, einige der wichtigsten Vorurteile und Denkfehler, Dummheiten und Kampagnen zu beschreiben und einzuordnen. Albrecht Müller.

Merkel und Gefolge bedienen sich der gängigen Vorurteile und sie verstärken sie zugleich durch Variationen zu den entsprechenden Sprüchen. Die politische Führung hat es, weil sie sich auf die fortwährende Gültigkeit der Vorurteile verlassen kann, nicht nötig, nach Lösungen für die schwierigen Probleme zu sorgen. Das ist das eigentlich Fatale. Da die politische Sanktion ausbleibt, ist die Führung nicht zur Korrektur gezwungen. Einzelne Rufer sind, selbst wenn sie in anerkannten Medien erscheinen, dennoch wie verhallende Rufer in der Wüste.

Sparen Sparen Sparen

Auch ich bin für den sparsamen Umgang mit Ressourcen und befürworte eine rigorose und zugleich sachliche Kontrolle des Ausgabeverhaltens der öffentlichen Hände. Aber um diese Frage, die des Nachdenkens fähiger Kräfte würdig wäre, geht es in der jetzigen Situation nicht. Die Appelle zum Sparen treffen Völker, die sich entweder am Anfang oder schon mitten in gefährlichen Rezessionen befinden. In dieser Situation führt weiteres Sparen nur zu einer Verschärfung. Das ist seit dem Beginn der Griechenland-Krise schon empirisch nachweisbar. Die Sparmaßnahmen von 2010 haben die Krise verschärft. Dennoch kann die deutsche Seite – unberührt von diesen Fakten – weitermachen mit den populären Sparappellen und damit mit einer gefährlichen prozyklischen Politik.

Dass das so möglich ist und dass es bei Medien wie auch in den Reihen der Koalitionsfraktionen so populär ist, ist auch das Ergebnis eines massiven Schwunds an ökonomischem Denken und Denkvermögen. Die handelnden Personen übertragen die einzelwirtschaftlich richtige Erfahrung, dass man mit Erfolg sparen kann, wenn man sparen will, auf eine Volkswirtschaft. Dort stimmt es eben nicht, wenn die Volkswirtschaft am Rande einer Rezession steht. Dann verschärft der Wille und die Sparabsicht den Misserfolg des Sparens.

Staatsverdruss als Basis der Schuldenbremse, Schuldensünder

Schon allein der Gebrauch des Begriffes „Schuldensünder“ muss bei einigermaßen aufgeklärten Menschen ein Schaudern über den Rücken jagen. Das ist die Übernahme des religiös angehauchten und meinetwegen auf einzelne Personen anwendbaren Begriffs „Sünder“ auf Gesellschaften und Staaten.

Dass öffentlich bestellte Repräsentanten des Volkes eine Automatik zur Bestimmung ihres eigenen Verhaltens installieren, grenzt an Wahnsinn. Es ist die öffentliche Bestätigung der eigenen Unzulänglichkeit. So etwas ist nur möglich, ohne dass ganz Europa in Lachen ausbricht, weil solche Forderungen auf Misstrauen gegenüber öffentlichen Händen, auf Staatsverdruss aufbauen. Auch hier wird zum einen diese Vorurteilswelt genutzt und zum andern wird sie verstärkt. Keine guten Aussichten für demokratische Verhältnisse. Es ist die Entmannung der Politik, die Politiker kastrieren sich selbst.

Inflationsangst

Fast jeder zweite Deutsche habe Angst vor Inflation, ergab eine Umfrage von TNS Infratest im Auftrag der Allianz Bank (siehe hier). Ein großes Wunder ist das nicht, weil die angebliche Inflationsangst der Deutschen ständig durch Medien und durch Politiker befördert wird. Die gängigen Sprüche, Inflation schade den Rentnern und den Arbeitnehmern und den Sparern mehr als alles andere, werden ständig wiederholt. Das ist ein Musterbeispiel dafür, wie Meinungsmache auf der Basis von behaupteten historischen Zusammenhängen und auf der Basis von falschen Analysen immer weiter befördert wird.

Im konkreten Fall gerät alles durcheinander:

  • Es wird die Inflation von 1923 mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 verwechselt und beflissen übersehen, dass wir heute näher an der Wirtschaftskrise von 1929, also an einer massiven Rezession, stehen, als an einer Inflation, wie es Deutschland Anfang der Zwanzigerjahre erlebt hat. Hier wird also auch historisch unsauber gearbeitet. Hauptsache, es dient der Aufregung.
  • Ich bin gegen eine Inflation mit hohen Preissteigerungsraten. Aber die Panik über gelegentliche Preissteigerungen von 2, 3, 4 oder 5 % und die Behauptung, dies sei ein soziales Übel, ist sachlich falsch. Wenn gleichzeitig vorübergehend die Löhne, die Renten und die Zinsen im gleichen Maße steigen, dann ist das keine soziale Katastrophe. Real sind alle – die Arbeitnehmer, Rentner und die Sparer genauso dran wie ohne die Steigerung von Preisen, Renten, Zinsen und Löhnen. Wenn man den „Geldschleier“ wegnimmt, dann zeigt sich die reale Lage nicht schlechter als ohne die Verschiebung der Geldgrößen. – Aber die Mehrheit der Menschen ist bei diesem Thema so verrückt eingestimmt, dass viele einen solchen Text nicht einmal lesen können, ohne die Hände über dem Kopf zusammen zu schlagen. Damit dies nicht allzu häufig geschieht, wiederhole ich: ich bin gegen Inflation, die diesen Namen verdient. Ich bin strikt dafür, dass man bei zeitweiligen Preissteigerungen immer dafür sorgt, ein Ausufern einzufangen. In der Realität ist dies in der Regel gelungen. Ich rede nicht von 1923.
  • Die Vorstellung, wir stünden vor einer Inflation, und die damit verbundene Angst, wird von einer Denkweise befördert, die früher bei der so genannten Deckung des Geldes durch Goldbestände und heute an der „Deckung der Geldmenge durch produzierte Güter“ ansetzt. Im zuvor erwähnten Spiegel online Artikel heißt es:

    „Einige Ökonomen fürchten, dass die Preise bald schneller steigen, wenn die Europäische Zentralbank (EZB) im Zuge der Krisenbekämpfung zu viel Geld in den Wirtschaftskreislauf pumpt.“

    Das ist eine abenteuerliche Vorstellung. Preise bestimmen sich, wenn der Markt einigermaßen funktioniert, im Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Die in einer Volkswirtschaft vorhandene Geldmenge ist dafür ziemlich irrelevant. Jedenfalls gibt es keinen Mechanismus, der erkennen ließe, dass die Erhöhung der Menge von Bargeld oder Giralgeld auch nur halbwegs automatisch zur Inflation führt.

    Wie absurd diese Vorstellung ist, erkennt man auch daran, dass hier eine so genannte Bestandsgröße, also die zu einem bestimmten Zeitpunkt gemessene Geldmenge, verglichen wird mit einer so genannten Stromgröße, also der in einem Zeitraum von einem Jahr gemessenen Produktion von Gütern und Dienstleistungen, dem Bruttoinlandsprodukt. Die seltsam die dahinter stehenden Befürchtungen sind, kann man sich leicht klarmachen, wenn man sich vorstellt, wie man die Dramatik noch erhöhen könnte, ohne dass sich an der Sache etwas geändert hat: man könnte das Bruttoinlandsprodukt in Monaten zählen. Dann wäre es ein zwölftel des heutigen BIP und wir müssten uns große Sorgen machen, weil diese Gütermenge nun wirklich nicht mehr ausreicht, um die „Geldmenge zu decken“. Die letzten Sätze müsste ich alle in Anführung und Abführung setzen. „Decken“ kann man eine Nachfrage, wenn man diesen Sprachgebrauch überhaupt wählen will. Die Nachfrage kann ungebührlich angeheizt sein. Aber dies ist heute nicht unsere Lage, weder hierzulande noch in Europa insgesamt. In Südeuropa ist sie völlig konträr. Sie ist massiv von Rezession geprägt.

Schuldenkrise bei den andern; Exportweltmeister als Leistungsbeweis

Das besondere Ansehen der deutschen Politik und Angela Merkels ist nahezu vollständig das Ergebnis von Propaganda. Da ist die Rede von „Schuldenkrise“ und „Schuldensündern“ und allein dadurch, dass dieser Vorwurf von deutscher Seite an die Südeuropäer gerichtet worden ist, wurde dort das Etikett angeheftet und man selbst stand glänzend da. Von den Fakten ist es nicht gedeckt. Spanien (2007:42,1; 2011: 73,6 %), Irland (2007:28,8; 2011:120,4 %), Portugal (2007:75,4; 2011: 110,8 %) zum Beispiel hatten vor Beginn der neuen Finanzkrise im Jahre 2007 einen geringeren Staatsschuldenstand als Deutschland (2007:65,3; 2011: ca. 83 %).

Der deutschen Politik und den damit verbundenen Medien ist es gelungen, über diese Fakten mehrheitlich hinweg zu wedeln und ein anderes Kriterium zum Erfolgsbeweis zu installieren: Exportweltmeister. Dabei wird außer acht gelassen, dass es zum Schaden einer Volkswirtschaft und eines Volkes ist, wenn auf Dauer Leistungsbilanzüberschüsse und damit Forderungen gegenüber anderen Ländern angehäuft werden. Real lebt dann ein Volk über längere Zeit unter seinen Verhältnissen und arbeitet für die Welt drumherum. Trotz dieses realen Misserfolgs wird die Exportweltmeisterschaft als riesiger Erfolg dargestellt. Das zeigt die Dumpfheit, die hierzulande gängige ist.

Hinzu kommt, dass diese Exportweltmeisterschaft zugleich, wie wir das schon oft dargestellt haben, zum großen Problem der Eurozone geworden ist. Die meisten Völker haben zu sehr über ihren Verhältnissen gelebt, die deutschen und einige wenige andere Völker haben zu sehr unter ihren Verhältnissen gelebt. Bei einer einigermaßen nüchternen Betrachtung hätte man sich sehr schnell darauf verständigen können und Lösungen für die jetzigen Probleme gefunden. Aber die deutsche Bundeskanzlerin und ihr Gefolge haben auch hier nicht auf sachliche Lösungen sondern auf Propaganda und ihre Selbstdarstellung gesetzt. Das ist nicht nur zynisch, es ist kriminell, wenn man die möglichen Folgen eines Auseinanderbrechens der Eurozone bedenkt.

Die Märkte, die Finanzmärkte, die Knechte der Croupiers im Finanzcasino

Die Finanzmärkte sind ein Teil der Volkswirtschaft. Ihre eigentlichen Funktionen sind der Zahlungsverkehr und die Vermittlung zwischen Sparern und Investoren. Wie viel Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes auf einen solchen, der Sache verpflichteten Wirtschaftssektor zurückzuführen wäre, wenn es das Spielcasino nicht gäbe, kann ich nur schätzen: 2 % vielleicht. In Spitzenzeiten sind jedoch 5 % des gemeinsam Arbeiteten von diesem Sektor gekommen, genauer müsste ich sagen: 5 % des Volkseinkommens sind von diesem Sektor in Anspruch genommen worden. In Großbritannien waren es in Spitzenzeiten 10 %, in den USA waren es 9 %.

Das ist Ausdruck einer unangemessenen Dimensionierung dieses Sektors. Seine Bedeutung ist weit überschätzt. Wir reden seit Monaten, ja seit Jahren nur noch von diesem einen Sektor, der nichts weiter ist als ein Dienstleister für die Gesamtökonomie, wie das Transportwesen oder die Steuerberater oder die Kindergärtnerinnen auch. Nicht mehr und nicht weniger.

Was uns heute beschäftigt, ist weit überdimensioniert. Und es ist die Folge einer gezielt betriebenen Kampagne zur Bedeutung dieses Sektors. Hier waren clevere Leute mit viel Geld am Werk, die unentwegt Propaganda gemacht haben für Aktien und Aktienkultur, für Geldanlage und für die besondere Bedeutung der Anleger, für shareholder value und New Economy. Die Propaganda läuft seit den achtziger Jahren unentwegt und von den Medien befördert. Börsensendungen sind billige Programmteile und garantieren Werbespots.

Die Bundesregierung und auch die europäische Kommission hat nichts Nachhaltiges getan, um den Finanzsektor auf seine eigentlichen Aufgaben zurückzuführen und der Spekulation den Garaus zu machen. Die in der NachDenkSeiten wie auch z.B. in der FAZ mehrfach geäußerte Befürchtung, dass unsere Politik an den „Drähten“ der Finanzwirtschaft hängt (Habermas in der FAZ) oder „in den Fängen“ der Finanzwirtschaft ist (AM in FAZ und NachDenkSeiten) hat sich als richtig erwiesen. Das ist das eigentliche Elend unserer Zeit.

Die deutsche Seite hat mit ihrer zögerlichen schrittweisen Politik auch im Falle der Finanzkrise Griechenlands und anderer europäischer Länder systematisch die Spekulation befördert. Mit der Weigerung, die EZB in dieser Situation zum Staatsfinanzierer zu machen und damit der Spekulation das Futter zu entziehen, fördert die deutsche Seite die Fortführung der Spekulation – mehr als alle anderen Länder in Europa.

Dieses miese und auch für uns schädliche Verhalten wird nicht sanktioniert, weil die Propaganda mit den zuvor erwähnten Vorurteilen vorzüglich läuft. Dieses Element der Meinungsmache wird in anderen kritischen Beiträgen zur Lage oft übersehen. Dann wundern sich die Kommentatoren zum Beispiel über ein Bundeskanzlerin, die eigentlich „spinnt“. Aber sie könne nicht erklären, warum sie trotzdem so gut politisch überlebt.

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